Interview

Ulrike Guérot 

Die Politikwissenschaftlerin hat ein Konzept für eine bessere EU – die Europäische Republik

Gespräch: Anna Goldberg

FALTER:  Nr. 36/2018

Erscheinungsdatum: 5. September 2018

Ulrike Guérot beim 45 Wiener Stadtgespräch © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Ulrike Guérot, 1964 geboren, ist Politikwissenschaftlerin, Gründerin und Direktorin des Berliner Think-Tanks European Democracy Labs an der European School of Governance; seit 2016 leitet sie das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Sie arbeitete in zahlreichen Brüsseler Institutionen sowie im deutschen Bundestag. Im Rahmen des European Balcony Project rief sie am 10. November 2018 symbolisch die Europäische Republik aus

Ulrike Guérot fühlt sich manchmal wie der Zauberlehrling: Die Geister, die sie rief, werde sie nicht mehr los. „Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“ erschien 2017. Es ist das zweite Buch, in dem sie ihr Konzept der Europäischen Republik beschreibt: ein demokratisch gewähltes Parlament, ein Senat, in dem die rund 60 Regionen vertreten sind.

Seit sie gemeinsam mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse 2013 ein Manifest für Europa veröffentlicht hat, tourt sie durch die Länder und verbreitet ihre Idee. Wie realistisch ist deren Umsetzung? Mehrmals betont die 54-Jährige während des Gesprächs an der Donau-Universität Krems, dass es sich um eine Utopie handle. 

FALTER „Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“ heißt Ihr Buch, das vergangenes Jahr erschienen ist. Animiert man mit solchen Begriffen nicht Rechtspopulisten, die aus der EU austreten wollen? 

Jetzt können Sie mir sagen: Ja, das ist gefährlich, Strache macht das auch und redet davon. Da geb ich Ihnen recht. Macron übrigens auch. In jeder seiner europäischen Reden steht: „Ich fürchte einen europäischen Bürgerkrieg.“ Meine These ist: Uns wird erzählt, dass wir eine Phase der Renationalisierung erleben. Aber wir renationalisieren uns gar nicht. Was gerade passiert, ist die Spaltung von Nationen. Wir haben in den einzelnen Nationalstaaten konkurrierende Mengen von Bürgern, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Ich als Deutsche habe mehr Sympathie für einen Polen, der gegen die PiS-Regierung ist, als mit einem Deutschen, der bei Pegida rumläuft. Wir erleben die Spaltung von Nationen um die europäische Frage herum. 

Wo sehen Sie, dass sich die Länder gerade an der Europafrage spalten? In Österreich polarisiert die Migrationsfrage, aber die wird ja meist eher lokal diskutiert. Es geht ja darum, wer nach Österreich kommt. 

Beim Europa-Forum Wachau habe ich einen Workshop mit Bürgern gemacht. Wir haben empirisch gearbeitet: Was wollt ihr von der EU? Es hat sich gezeigt: Die Leute wünschen sich beispielsweise eine europäische Arbeitslosenversicherung und eine europäische Investitionsagentur. Aber das, was sie wollen, kriegen sie nicht. Und das, was im politischen Angebot ist, etwa ein europäischer Finanzminister, interessiert sie nicht. Wir haben offensichtlich einen Europadiskurs, der die Leute abturnt. 

"Die Mehrheit will ja Europa, aber keiner weiß, was Europa heißt"

Ulrike Guérot 

FALTER Ist es also eine Frage der politischen Kommunikation? Für eine Arbeitslosenversicherung bräuchte man ja einen Finanzminister. 

Es ist nicht nur Kommunikation. Es geht darum, ob wir das wirklich wollen, und wenn ja, wer macht und bezahlt es, wer gewinnt dabei und wer nicht. Der letzte ungarische Sozialkommissar László Andor hat 2014 Pläne für eine europäische Arbeitslosenversicherung vorgelegt. Empirische Umfragen sagen, dass 78 Prozent der Bürger es begrüßen würden. Der deutsche und der österreichische Wirtschaftsminister im Europäischen Rat haben dagegen gestimmt. Der Rat trifft hinter verschlossenen Türen Entscheidungen, die dem Mehrheitsempfinden der Bevölkerung nicht entsprechen. Nationale Einzelinteressen werden von jenen Ländern durchgefochten, die nicht dafür bezahlen wollen. 

Laut Eurobarometer halten gerade einmal 60 Prozent der befragten EU-Bürger die EU für eine gute Sache. 

Die Mehrheit will ja Europa, aber keiner weiß, was das heißt. Die Beliebigkeit des Europabegriffs ist Teil des Problems. Die laute Minderheit weiß, was sie will: Europa abschaffen. Wenn die, die Europa wollen, nicht genau wissen, was sie wollen, sind die, die es nicht wollen, auf jeden Fall stärker.

Sie haben mit der europäischen Republik, die Sie fordern, einen klar definierten Europabegriff. 

Ich werde ja so dafür kritisiert, dass ich sage: Europa heißt, den Nationalstaat abschaffen. Der Nationalstaat ist die Fähigkeit zur Rechtsetzung und Sanktionsfähigkeit auf einem bestimmten Territorium. Im Bereich Wirtschaft und Währung ist er längst abgeschafft, auch wenn wir das nicht gerne sagen. Das bestimmt die EU. Aber die Bereiche, die für Demokratie und Bürger zentral sind, haben wir noch nicht auf europäischer Ebene geregelt. Sie als österreichische und ich als deutsche Staatsbürgerin wählen unser gemeinsames europäisches Parlament nicht nach gleichen Bedingungen. Wir haben nicht eine Stimme pro Person im EU-Parlament. Wir haben keine Steuergleichheit und nicht den gleichen Zugang zu sozialen Rechten. Ich will darüber nachdenken: Schaffen wir die letzten zehn Prozent des Nationalstaats ab und haben ein vernünftiges politisches System, oder machen wir das nicht? 

Sie schlagen vor, dass stattdessen Regionen gestärkt werden sollen. Warum? 

Die meisten Leute wollen ein starkes Europa, aber auch ihre Heimat und ihre Region. Wie kriege ich beides? Wir sind jetzt 16 Regionen in der Bundesrepublik, neun bilden die Republik Österreich, dann kann ich doch eigentlich 50 oder 60 Regionen nehmen und daraus eine europäische Republik machen. Jetzt gibt es in der EU ein deutsch-französisches Tandem, das die Agenden bestimmt, und mehrere kleine Länder, auf die es nie ankommt. Mein Vorschlag: Pro Region säßen zwei Senatoren in einem europäischen Senat. 

Wären die Regionen nach Größe oder nach kultureller Identität unterteilt? 

Ich will nicht unbedingt, dass wir hautnah an kulturelle Grenzen gehen. Das muss schon funktionieren. In Nordrhein-Westfalen wurde auch das katholische Rheinland mit dem protestantischen Westfalen zusammengepappt. Es gibt immer ein Spannungsverhältnis zwischen einer plausiblen Verwaltungseinheit und dem, was sich kulturell ableiten lässt. Acht bis 15 Millionen Menschen sind laut Leopold Kohr eine gute Größe. 

Dass Nationalstaaten Macht an die Regionen abgeben, ist doch vollkommen unrealistisch. 

Klar ist das unrealistisch. Ich sage ja nicht, dass es in drei Jahren eine EU-Ratssitzung geben wird, bei der entschieden wird. Aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Wir saßen alle 1991 herum und haben gesagt, die Sowjetunion ist „too big to fail“. Und sechs Wochen später war sie platt. Ich glaube nicht an die Vermessenheit, dass wir alles gestalten. 

Was müsste dann passieren, damit ... 

Was heißt „müsste“?! Es muss gar nichts! Ich glaube nur, dass in der Geschichte viel über „game-changing moments“ passiert. Zum Beispiel 9/11. Davor haben wir nichts gewusst, und danach war alles anders. In politischen Diskursen räsonieren wir über Steuerungsfähigkeit eines Systems. Der Brexit war nicht geplant, und wir wissen nicht, was am 29. März 2019 passiert. Eine Utopie ist eher eine Zielvorstellung. Genauso, wie Sie sagen könnten, ich will Abi machen oder Schauspielerin werden und dazwischen stehen ein paar Schritte. 

Aber wer Schauspielerin werden will, hat sich wohl überlegt, wie man dahin kommen könnte. 

Das hab ich ja. Ich hab die europäische Republik gemalt, der Senat, die Regionen, das steht ja alles in dem Buch. Wie kommt man dahin? Erst mal, indem man einen Diskurs macht. Was nicht gedacht wird, kann nicht werden. 

Wie würde die Republik Europa mit anderen Regionen der Welt umgehen? Es wird ja immer eine Ungleichheit geben. 

Wir haben zwei Probleme, eines mit China und eines mit Afrika. Das Geflüchtetenproblem mit Afrika, da könnte es viele Lösungsansätze geben. Mit China haben wir ein anderes Problem. Sie kaufen mit großer Chuzpe alles, was nicht niet- und nagelfest ist, und wir feiern das noch als Erfolg der Marktwirtschaft. Ich würde sagen, strategische Güter sollten nicht verkauft werden dürfen. 

Das würde idealerweise nur funktionieren, wenn der europäische Staat als Ganzes entscheidet. Sonst macht jeder Staat seinen eigenen Deal. 

Danke für das Beispiel, das wäre das Nächste. In den USA gab es früher ein Kartellrecht. Das hat man in der EU längst verpasst. Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) haben wir nicht zerschlagen. Wir betrachten jetzt teilweise hoffnungsvoll, teilweise sorgenvoll, was damit passiert. Wir sind alle am Gängelband und von den Produkten abhängig geworden. Macron fordert ein europäisches GAFA. Wollen wir das, und wenn ja, wer gibt das Geld dafür? Wenn das der produktive Sektor des 21. Jahrhunderts ist, hat Europa keinen produktiven Sektor mehr. 

Wie sollen wir einen solchen Sektor in einer Europäischen Republik aufbauen können? 

Das müsste man diskutieren. Ich habe die Republik gemalt wie ein Kind. Die zeichnen mit Schwarz erst mal die Ränder und dann wird ausgemalt. Ich habe in meinem Buch nur die schwarzen Ränder gemalt. Ausmalen müssen wir alle zusammen.

Die Thesen

Punkt 1

Effizient und billig 

„Better regulation“ bedeutet: Jede Regulierung muss nachweisen, dass sie effizienter und billiger ist. Es stellt sich die Frage, ob ein politisches Gemeinwesen immer effizient und billig sein muss.

Punkt 2

Europäische Demokratie kostet  

Die Europäische Union war ein Projekt der Marktliberalen, ebenso der Euro. Weshalb hat niemand Interesse an der europäischen Demokratie, fragt Guérot. Weil die europäische Demokratie mit Gleichheit der Bürger vor dem Recht das erste europäische Projekt wäre, das kosten würde (etwa europäische Arbeitslosenversicherung). Ist das Kapital für die europäische Demokratie oder ist das Kapital dabei, Europa zu dekonstruieren und auf Populismus zu setzen, weil das billiger käme? 

Punkt 3

Wer profitiert

Einige Länder sind gut durch die Eurokrise gekommen – aber nicht allen Bürgern Deutschlands geht es gut, während das Land aufseiten der Exportindustrie als Gewinner dasteht. Gewinner sind die Städte und das Zentrum, Verlierer sind die Regionen. Systemgewinner sind Banken und Industrie, Systemverlierer sind die Bürger. Insofern kann man die systemische Bilanzierung nicht mehr nationalstaatlich kategorisieren. 

Das dazugehörige Stadtgespräch
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