Interview

Peter Sloterdijk 

Ein Philosoph durchmisst den Weltinnenraum des globalen Kapitalismus

Gespräch: Robert Misik 

FALTER:  Nr. XY/Jahr

Erscheinungsdatum: 12.01.2022

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Zur Person

Peter Sloterdijk, 58, ist Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zählt spätestens seit der TV-Sendung „Das Philosophische Quartett“ (ZDF) zur ersten Liga der Denkerprominenz. Doch eigentlich ist Sloterdijk, der mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat, schon seit seinem ersten Buch ein Star des Geisteslebens: 1983 schlug seine „Kritik der zynischen Vernunft“ ein wie der Blitz. Auch danach erwies sich Sloterdijk immer wieder als Denker, der aufs Ganze geht: Mit seiner Trilogie „Sphären I–III“ entwarf er eine große neue Zeitdeutung. Vergangenes Jahr erschien schließlich Sloterdijks Theorie der Globalisierung: „Der Weltinnenraum des Kapitals“.

FALTER In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft? 

Peter Sloterdijk Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, löst sich in eine gewisse Konfusion auf.

Heißt das umgekehrt, dass die Systematik unproduktiv ist?

Nicht in jeder Hinsicht. Doch Sie haben Recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

„Fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen“

Peter Sloterdijk

FALTER In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft? 

Peter Sloterdijk Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, löst sich in eine gewisse Konfusion auf.

Heißt das umgekehrt, dass die Systematik unproduktiv ist?

Nicht in jeder Hinsicht. Doch Sie haben Recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?

Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Es gibt zum Beispiel Weltzustände, in denen Helden noch möglich sind, und Weltzustände, in denen Helden nicht mehr möglich sind. Wenn der Staat noch nicht existiert, ist der Heros der Mann der Stunde. Ist der Staat eingerichtet, wird der Heros kontraproduktiv. Dann kommt er ins Verbrecheralbum, und der Beamte übernimmt das Kommando.

Der Heros als Figur der undichten Zeit, der Beamte als jene der dichten?

Genau. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

Das verändert die Menschen?

Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus. 

Die Thesen

Punkt 1

Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren.

Punkt 1

Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren.

Punkt 3

Unterhaltung als Ernstfall

Die Unterhaltung ist zu einem mächtigen Faktor unserer Realitätsgestaltung geworden. Für all die Menschen, die das Gefühl haben, es geht um nichts mehr und alle wesentlichen Aufgaben sind gelöst oder unlösbar, kann man nur noch Unterhaltung machen. Hier wird Unterhaltung zum Ernstfall.

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