Interview

Martin Kušej 

Politisch erwartet man viel von ihm, dabei geht es dem Regisseur um die Kunst. Annäherung an einen Kompromisslosen

Portrait: Stephanie Panzenböck

FALTER:  Nr. 20/2019

Erscheinungsdatum: 23.05.2019

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Zur Person

Martin Kušej, 1961 in Wolfsberg in Kärnten geboren, im Bezirk Völkermarkt (Globasnitz/Globasnica und Ruden) aufgewachsen, besuchte das Gymnasium in Völkermarkt, spielte Handball in der österreichischenBundesliga, studierte er Gmanistik, Sportwissenschaft und Regie. Seine erste Inszenierung, „Es“
von Karl Schönherr, brachte er am Grazer Schauspielhaus 1987 auf die Bühne, wurde 1993 Regisseur am Schauspiel Stuttgart, inszenierte 1996 seine erste Oper und ab 1999 am Wiener Burgtheater einige Stücke unter Direktor Nikolaus Bachler.
Kušej war 2005/06 Schauspielchef bei den Salzburger Festspielen. Im Jahr 2011 übernahm er seine erste Intendanz, das Bayerische Staatsschauspiel, bekannt als Residenztheater. Im Herbst 2019 begann seine erste Spielzeit als Direktor des Wiener Burgtheaters.

Auf der Bühne bleibt es dunkel. Tiefe, dröhnende Töne erfüllen den Theaterraum, die Lichter zweier Drohnen blitzen auf, vermummte Menschen stoßen andere Menschen ins Wasser. Friedrich Schillers „Don Karlos“ wird gespielt, im Münchner Residenztheater, Regie führt Martin Kušej. Es ist ein großes Bühnenwerk, es geht um verbotene Liebe, um Macht, Demütigung und Intrige, Unterdrückung, Aufbegeh en und Freiheit. Kušej stürzt diese Gewalt in eine unheimliche Düsternis. Oft bleiben die Schauspieler im Schwarz der Bühne unsichtbar, ihre Kostüme sind dunkel, nur ein riesiger Kronleuchter fährt bisweilen von oben herab und erhellt den Raum mit gleißend hellem Licht. Vier Stunden, eine Pause. Die Spannung hält, die Kraft lässt nicht nach. Klassiker auf ungewöhnliche und heftige Weise auf die Bühne zu bringen, dafür ist Martin Kušej seit Jahrzehnten bekannt. Schon im Jahr 1993 erschütterte er mit Schillers „Kabale und Liebe“ das Klagenfurter Stadttheater.

Zum Ende seiner Münchner Zeit hat Kušej eine Textsammlung herausgegeben, geschrieben von Theatermenschen, aber auch Philosophen und Journalisten. Das Buch hat einen schwarzen Einband, mit roten Buchstaben steht darauf geschrieben: „Die Erde ist gewaltig schön. Doch sicher ist sie nicht.“ Die Zeile stammt aus dem Gedicht „Wie Ulfruficht“ von Johann Mayrhofer, Franz Schubert hat es vertont. Kušejs eigener Text ist sehr kurz, auf zwei roten Seiten, sehr assoziativ. Der Titel: „Theater“. Kušej schreibt: „Rückblicke hatten es ihm noch nie angetan. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie umgedreht, um irgendwo hin zu sehen. Ja, ein, zwei Mal hatte er tatsächlich versucht, die Narbe zu sehen, die man ihm in den Rücken geschnitten hatte (…).“ Kušej bleibt vage, was ihn verletzte, doch bei allem Schmerz, Blut und Gewalt kommt gleich drei Mal das Wort „geborgen“ vor. Was Geborgenheit hier bedeute? Es gehemeine Geborgenheit, die nicht in der Wirklichkeit verortet ist.“ Die Narbe ist übrigens auch eine körperliche. Für die Rubrik „Sagen Sie jetzt nichts“ des SZ-Magazins sollte der Theatermacher Fragen pantomimisch beantworten. Eine lautete: „Was haben Sie vom Handball fürs Leben mitgenommen?“ Auf dem Foto sieht man eine lange, schmale Narbe in der Mitte des Rückens.Zum Handball kam Kušej als 15-Jähriger. Sein Verein war der Askö-SVVW, Sportverein Volksheim Waidmannsdorf in Klagenfurt, der damals in der A-Liga spielte. Mit 15 erst anzufangen sei relativ spät, sagt der SVVW-Gründer und damalige Obmann Günter Pfeistlinger. „Aber Martin hat sich sehr rasch entwickelt. Außerdem hat er sehr viel auf sich genommen. Wenn wir am Wochenende von den Auswärtsspielen zurückgekommen sind, hat er danach die Eltern besucht, ist am Montag wieder nach Völkermarkt in die Schule gefahren und abends gleich wieder zum Training nach Klagenfurt.“ Kušejs Spielposition war keine gemütliche, er war Kreisläufer. Man muss robust sein, um durchzuhalten. Vom Kreisläufer wird verlangt, gleichzeitig torgefährlich zu sein und für andere Platz frei zu räen, die dann wiederum aus der zweiten Reihe die Tore schießen. „Martin war zwar Einzelgänger, gleichzeitig Teamplayer und hat sich mit allen sehr gut verstanden. Was er sich vorgenommen hatte, hat er konsequent durchgezogen“, sagt Pfeistlinger. Mit 20 war Kušej auf dem Sprung in den Nationalteamkader. Doch er entschied sich für das Studium in Graz. Handball wurde immer mehr zum Hobby, aber der Kontakt zum Verein und zu Pfeistlinger ist geblieben. Man trifft sich auf Geburtstagsfeiern oder im Kaff ehaus. „Wir plaudern über Handball, Kärnten, die Politik. Das Theater ist dann weniger ein Thema.“
»Ich bin kein Herumbrüller.
Ich leite ein Theater in einem
Team, wir fällen die Entscheidungen
gemeinsam

Martin Kušej

Dass Kušej schließlich beim Theater landete, hatte viele Gründe. Einer der prägendsten war der Selbstmord eines Schulkollegen und Freundes. Da war er 16 oder 17, erzählt Kušej. „So ein Selbstmord bedingt ja verschiedene Fragen und Erkenntnisse: Was ist Gesellschaft? Was ist das für eine Gruppe, die derjenige verlassen hat? Inwiefern in ich Teil der Gruppe? Welche Rolle hat das Individuum? Der Selbstmord hat mich als Thema immer begleitet.“ ls Kušej in Graz Anfang der 1980er Jahre Germanistik studierte, besuchte er ein Proseminar über Jean Amérys Buch „Hand an sich legen: Diskurs über den Freitod“. In einer Seminarstunde legte Kušej eine geladene Pistole, eine Rasierklinge und ein Seil auf den Tisch und sagte: „Bevor wir hier überhaupt über Selbstmord literarisch reden, müssen wir ausprobieren, ob es überhaupt möglich ist, ihn auszuführen.“
Er forderte die Kollegen auf, sich die geladene Pistole an den Kopf zu halten. Der
Professor brach den Unterricht ab und wollte die Polizei rufen. „Ich habe damals schon
gemerkt, dass ich einen Hang zur Inszenierung habe.“ Was löst es bei Kušej selbst aus,
sich eine geladene Pistole an den Kopf zu halten? „Die Hand fängt an zu zittern.“ Die
Hürden, die man überwinden muss, sind riesig. Bis man auf die Idee kommt abzudrücken,
rebelliert der Körper. Kušej geht es um einen Zustand, in dem an alle Türen schon probiert hat, nur die letzte noch nicht. Es handelt sich um einen Moment der Irrationalität, der auch nicht mehr beschreibbar ist, und darum, etwasherzustellen, das sich außerhalb der Kontrolle befindet. „Das interessiert mich am Theater.“ Beeinflußst hat den Regisseur auch seine Herkunft, in zweierlei Hinsicht. Er wuchs in einem Dorf in Kärnten auf. Seine Mutter war Religionslehrerin, sein Vater Volksschuldirektor. Damit hatten sie als erste Generation einen Beruf abseits der Landwirtschaft erlernt. Kušej war der Zweite in dieser
Reihe. Dann war da die Erkenntnis, einen seltsamen Namen mit einem Haken
drauf zu haben und einer Minderheit, den Kärntner Slowenen, anzugehören. Diese Erfahrung beeinflußt bis heute Kušejs Herangehensweise an das Element Sprache
im Theater. Er selbst wuchs weder zweisprachig auf, noch spricht er den Dialekt
der Kärntner Slowenen. Er lernte Slowenisch in Ljubljana an der Universität und
arbeitete am Slowenischen Nationaltheater als Regieassistent. Außerdem spricht Kušej
Englisch, Französisch und Italienisch, etwas Spanisch und Kroatisch.
Am Burgtheater will er auch Theater „jenseits des Deutschen“ machen. Dabei
geht es nicht um eine babylonische Sprachverwirrung oder ein multikulturelles Konzept.
Die besten Schauspieler anderer Sprachen sollen am Burgtheater gastieren und
durch überragende darstellerische Fähigkeiten die Verständigung auf andere Ebenen
heben. Die fremde Sprache soll kein Hindernis in der Verständigung sein. Kušejs
Auffo derung an die Zuschauer lautet: „Wir sind Teil einer multikulturellen Stadt. Lasst
euch darauf ein.“ Das Burgtheater ist für Kušej kein Neuland. Er inszenierte hier Stücke auf aufsehenerregende Weise, zeigte Klassiker so, wie sie noch nie vorher gedeutet worden waren. Etwa Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“, als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, oder Karl Schönherrs „Der Weibsteufel“ (2009). Die amtierende Direktorin Karin Bergmann übergibt an Kušej mit „großer Zuversicht und Freude, dass wieder ein regieführender Direktor an das Haus kommt“, wie sie sagt. Sie
selbst übernahm 2014 die Leitung, nachdem das Theater von einem Finanzskandal
erschüttert worden war. Ihr ist es zu verdanken, dass nun alles wieder in geordneten
Bahnen läuft und die Kunst für die Öffentlichkeit im Mittelpunkt steht.
Unter Bergmanns Intendanz inszenierte Kušej 2016 Arthur Millers „Hexenjagd“.
„Er ist kein Regisseur mit einer psychologischen Herangehensweise“, sagt die Direktorin,
„sondern ein großer Themensucher. Er schält diese Themen so heraus, dass
man ganz Neues erfährt.“ Im Stück „Hexenjagd“, was unter dem Eindruck der Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära entstand, „ist es Kušej gelungen, die Bigotterie und die Doppelzüngigkeit von Politikern und Religionsvertretern aufzuzeigen, die sich hinter Begriffe verstecken, aber ganz andere Interessen im Sinn haben“, fidet Bergmann.
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Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?

Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Es gibt zum Beispiel Weltzustände, in denen Helden noch möglich sind, und Weltzustände, in denen Helden nicht mehr möglich sind. Wenn der Staat noch nicht existiert, ist der Heros der Mann der Stunde. Ist der Staat eingerichtet, wird der Heros kontraproduktiv. Dann kommt er ins Verbrecheralbum, und der Beamte übernimmt das Kommando.

Der Heros als Figur der undichten Zeit, der Beamte als jene der dichten?

Genau. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

Das verändert die Menschen?

Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus. 

Die Thesen

Punkt 1

Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren.

Punkt 1

Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren.

Punkt 3

Unterhaltung als Ernstfall

Die Unterhaltung ist zu einem mächtigen Faktor unserer Realitätsgestaltung geworden. Für all die Menschen, die das Gefühl haben, es geht um nichts mehr und alle wesentlichen Aufgaben sind gelöst oder unlösbar, kann man nur noch Unterhaltung machen. Hier wird Unterhaltung zum Ernstfall.

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