Interview

Giovanni di Lorenzo

Der Zeit-Chefredakteur über spießige 68er, die Vertreibung politischer Talente und die Fehleinschätzungen des Internets

Gespräch: Florian Klenk, Armin Thurnher

FALTER:  Nr. 12/2011

Erscheinungsdatum: 22.03.2011

16. Wiener Stadtgespräch mit Giovanni di Lorenzo © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Giovanni di Lorenzo ist ein deutsch-italienischer Journalist, Buchautor und Fernsehmoderator. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung und dem Tagesspiegel übernahm er 2004 die Chefredaktion der Wochenzeitung Die Zeit. Im darauffolgenden Jahr gründete er gemeinsam mit Joachim Riedl die Österreich-Seiten der Zeit. Di Lorenzo hat zahlreiche Journalistenpreise erhalten, unter anderem den Theodor-Wolff-Preis und den Preis der europäischen Presse.

Die Zeit residiert im Hamburger Speersort, einem wuchtigen Backsteinbau. Eine „Stimme der Vernunft“ will das Blatt in Zeiten wie diesen sein. Vor allem die Hatz gegen Politiker stört Giovanni di Lorenzo. Der Zeit-Chef wittert darin eine große Gefahr der Diskreditierung der politischen Klasse, die letztlich nur Populisten dient.
FALTER:  Herr di Lorenzo, Sie haben mit dem SZ-Kolumnisten Axel Hacke das Buch „Wofür stehst Du?“ geschrieben. Der Versuch, einen Wertekanon zu verfassen?

Bloß nicht! Die Suche nach den Werten unseres Lebens war schon schwer genug. Der Ausgangspunkt des Buches war das Unbehagen über einen Vorwurf, der von Älteren, gerne auch von 68ern, gegen meine Generation, aber auch gegen Jüngere erhoben wird: dass wir so flexibel und pragmatisch seien, dass es schon an Opportunismus grenze. Diesen Vorwurf habe ich stets als ungerecht empfunden. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass uns keine Frage mehr in Verlegenheit bringt als eben diese: „Wofür stehst du?“

Was stört Sie an den 68ern?

Wir haben in unserem Buch keine Abrechnung mit den 68ern vorgenommen. Wir haben ihnen vieles zu verdanken. Unsere Kinder werden heute viel ­liebevoller behandelt als noch in den 50er-Jahren. Als Journalist mit Migrationshintergrund konnte ich hier meinen Weg gehen. Das wäre damals undenkbar gewesen. Ein Teil der 68er-Generation hatte sich aber politisch völlig verirrt. Im Umgang mit Gewalt herrschte vor allem in Italien ein kollektiver Irrsinn. Dort saßen zeitweise 2000 ­Menschen wegen politischer Gewalt gleichzeitig im Knast. Auch diese Erfahrung ist wichtig, um zu erklären, warum wir so geworden sind, wie wir sind.

Heute nennen Sie die 68er „spießige Verhinderer“.

Mir kamen die Überbleibsel der 68er-Linken in Deutschland gerade in meiner Jugend oft vor wie eine spießige Verhinderungsmacht. Das manifestierte sich für mich im Alltag. Sie redeten alles schlecht, woran man Spaß hatte. Wenn man politisch unkorrekt schrieb, hieß es, man besorge das Geschäft der Rechten.

In Ihrem Buch behaupten Sie, dass Werte heute permanent erarbeitet werden müssen. Besteht hier nicht die Gefahr, dass die Menschen überfordert werden und moralische Pflöcke brauchen?

Doch, aber diese Pflöcke muss man sich immer wieder erarbeiten. Ein Wert, den wir im Buch vertreten, ist die Ambivalenz, das Abwägen. Er wird oft als Schwäche ausgelegt, doch ich denke, dass er uns reifer macht.

Sie enthüllen in Ihrem Buch auch Details aus Ihrem Privatleben. Sie haben sogar Ihren Glauben thematisiert.

Auf zwei Seiten bekenne ich, dass wir zu Hause vor dem Essen beten und dass mich das lange Sterben des Papstes, an dem ich mich sonst oft abgearbeitet habe, bewegt hat. Mich hat das Ausmaß der Resonanz sehr überrascht. Wie uniform sind wir, dass so etwas schon aufregt?

Religion ist Privatsache – und Sie bekennen sich öffentlich dazu.

Ich würde meinen Glauben nie zum Thema einer politischen Auseinandersetzung machen. Aber in einem autobiografisch gefärbten Buch zu verschweigen, dass ich eine starke religiöse Prägung hatte, wäre doch absurd.

Sie beladen sich in einer Geschichte, wo Sie über eine Abtreibung einer Freundin berichten, mit großer Schuld.

Es ist eine unideologische Geschichte, die den Menschen bei den Lesungen am nächsten geht, manche weinen sogar: Eine Freundin trieb ab – und ich hatte sie dazu bestärkt. Sie leidet noch heute darunter. Ich wollte mit dieser Geschichte zeigen, was für eine Tragödie eine Abtreibung auslösen kann. Man wird Opfer eines bestimmten Zeitgeistes, auch wenn man sich noch so kritisch wähnt.

Soll das persönliche Verhalten zum Maßstab eines allgemeinen Handelns werden?

Nein. Ich verwahre mich gegen die Vorstellung, dass sich Leute selbst heroisieren. Es gibt keine glaubhaften Helden. Man ist nur punktuell ein Vorbild. Das von Kant formulierte Prinzip ist für die Menschen ansonsten eine Überforderung.

Kommen wir zur Gerechtigkeitsfrage. Es geht ja auch Ihnen um eine gerechte Gesellschaft.

Ja, aber auch um die Erkenntnis, dass wir Teil einer ungerechten Gesellschaft sind und dass es auf die Maßstäbe ankommt, die wir anlegen. Nehmen wir unser Einkommen. Im Prinzip ist es durch nichts zu rechtfertigen, dass Axel Hacke, wie er bekennt, bei einer Lesung an einem Abend so viel verdient wie eine Krankenschwester in einem Monat.

Vielleicht fällt dieser Umstand nicht so auf, weil der allgemeine Wohlstand nach oben angehoben wurde.

Ja. Und zugleich sehen wir eine Gesellschaftsordnung, in der ein Teil der Bevölkerung durch eine Grundversorgung einfach nur ruhiggestellt wird – und aus diesen Verhältnissen nicht mehr rauskommt. Es dabei zu belassen, wäre verheerend.

Was müsste geschehen?

Natürlich müssen wir unsere Bildungsanstrengungen erhöhen. Wir müssen aber auch unsere Einwanderer in die Pflicht nehmen. Migranten müssen ihren Kindern eine Sprachausbildung ermöglichen. Übrigens sind hier vor allem auch meine Halb-Landsleute zu nennen. Italiener stellen in Deutschland die meisten Sonderschüler, diese Kinder sprechen zu Hause oft nur italienisch und schauen italienisches Fernsehen. Im Urlaub geht es dann auch sofort nach Italien.

Soll der Staat mehr Druck ausüben?

Ja – aber nicht nur der Staat alleine. Es geht auch um eine Mentalitätsänderung.

Haben die Medien einen Anteil an dieser Mentalität?

Hier setzt sich die Spaltung der Gesellschaft fort. Ich vertrete keinesfalls die Meinung, dass Fernsehen a priori dumm macht. Aber wir haben auch ein Unterschichtenfernsehen in Deutschland. Es gibt große Bevölkerungsgruppen, die gar nicht mehr wissen, was das erste oder zweite öffentlich-rechtliche Programm ist – außer bei der Fußball-WM.

Ist dies politisch beabsichtigt?

So gut sind die Politiker nicht, dass sie das inszenieren.

Die Qualitätsmedien zielen also nur noch auf die Eliten?

Das ist die Gefahr. Wir sind natürlich Teil der politischen Klasse, und das birgt Gefahren. Der Minister, der Professor, der Parteisprecher: Mit all diesen Leuten sitzen wir zu oft in einem Kreise. So sehr ich das Geschlossene des Systems beklage, so sehr sehe ich es aber auch als Vorteil, dass man aufeinander Bezug nimmt. Es wäre noch viel schlimmer, wenn das, was wir schreiben, überhaupt keine Auswirkungen hätte. Italien ist ein abschreckendes Beispiel. Hier herrscht das zynische Kalkül vor, dass man Journalisten einfach schreiben lässt und hofft, dass es die Öffentlichkeit nicht kümmert, weil nur wenige Italiener Zeitung lesen.

Deutschlands Qualitätsmedien funktionieren nach wie vor vorbildlich. Woran liegt das?

Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist noch immer gut. Schauen Sie sich einmal die Hauptnachrichten in Italien an! Sie bringen zwar politische Nachrichten, aber sie ordnen sie nicht ein, sie erklären sie nicht. Der größte Teil besteht aus Mord, Totschlag und sogenannten Trends, etwa dass die Italiener wieder gerne Kreuzfahrten antreten. Hier in Deutschland wird jede wichtige Nachricht erklärt. Das ist der Unterschied zwischen einer demokratischen und einer postdemokratischen Gesellschaft.

Worin liegt der Grund, dass Deutschland diese Qualität halten konnte?

Wir hatten in Deutschland das Glück, dass die Zeitungen in Händen von Verlegern liegen und nicht Industriekonsortien oder großen Banken gehören. Das ist in Italien anders. Zudem haben wir ein extremes Maß an föderaler Kontrolle für die öffentlich-rechtlichen Sender. Schließlich machen wir uns auch große Mühen, Fehler aus der Vergangenheit schon im Ansatz zu bekämpfen.

"Momentan wird so getan, als seien Politiker nur unfähige, korrupte Gesellen. Diese Diskreditierung der politischen Klasse ist ein Einfallstor für populistische Bewegungen" 

Giovanni di Lorenzo

FALTER:  Sie plädieren in Ihrem Buch für mehr Fairness gegenüber Politikern.

Es gibt die Mode, Politiker für gnadenlos dumm zu halten. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Natürlich müssen wir Politiker kritisch begleiten. Doch momentan wird so getan, als seien Politiker nur unfähige, korrupte Gesellen. Diese Diskreditierung der politischen Klasse ist ein Einfallstor für populistische Bewegungen. Deshalb habe ich auch in einem frühen Stadium seiner Plagiatsaffäre bedauert, dass Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg stürzte.

Warum das?

Ich sah in ihm eine politische Persönlichkeit, die gefährdete Bevölkerungsgruppen binden kann und dennoch durch und durch Demokrat war. Ich habe diesen Vorteil stärker bewertet als den großen Fehler, den er mit seiner Dissertation gemacht hat. Wir brauchen Politiker wie ihn, die die breiten Massen ansprechen können, sonst drohen jene Herrschaften, die Sie in Österreich viel besser vor Augen haben. Aber noch ein Punkt ist mir wichtig: Wir in Deutschland fordern bei Politikern heute ein Reinheitsgebot, das niemand erfüllen kann. Es gibt viele politische Talente, die sich nicht mehr in der Arena wie notorische Ladendiebe beschimpfen lassen wollen.

Haben die digitalen Medien hier die Lage verschärft? Man hat den Eindruck, dass sich Hetzmassen viel schneller formieren können.

Ich finde es gut, dass es die Schwarmintelligenz gibt. Der Guardian stellte Akten einer großen Korruptionsaffäre ins Netz – die Leser werteten sie aus. Auch bei Guttenbergs Plagiatsaffäre war das Internet wichtig. Doch mich stört dieser Typus von Usern, der sich unter dem Schutzmantel der Anonymität in einer Brutalität äußert, dass einem schlecht wird.

Werden die digitalen Medien die klassischen Zeitungen verdrängen?

Wir lernen, dass man im Internet alles kann – nur nicht mit journalistischen Inhalten so viel Geld verdienen, um unsere Standards aufrechtzuerhalten, bislang jedenfalls.

Die Verlage haben sich selbst beschädigt und ihre Inhalte verschenkt.

Ja, sie haben den Leuten permanent das Gefühl gegeben, das Medium der Zukunft ist gratis und im Netz. Davon rücken jetzt alle ab – unter größten Schwierigkeiten. Beim iPad dürfen wir den Fehler nicht wiederholen.

Wird die Rasanz der sozialen Netzwerke den Journalismus verändern?

Das ist ja jetzt schon der Fall – blicken Sie nur in den arabischen Raum oder nach Japan. Manche Zeitungen sehen schon am Tag nach dem Ereignis so alt aus, dass man sie nicht mehr lesen will. Umso mehr müssen wir als Wochenzeitung in der Flut der Information Ufer sein – und nicht Fluss. Wir müssen uns aus dem hysterischen Schnelltakt herausnehmen. Sonst ertrinken auch wir.

Die Thesen

Punkt 1

Grenzen des Motzens

Die Kritik an der Politik hat jedes Maß verloren, sie ist in Verachtung umgeschlagen. Leute schätzen nicht mehr wert, wie viel Gutes erreicht wurde. Wenn man den schrecklichen Job des Politikers selbst nicht machen möchte, muss es auch Grenzen des Motzens geben.

Punkt 1

Unstabile Aufmerksamkeitsspanne

Die Menschen können nur ein gewisses Pensum an schlechten Nachrichten ertragen – das hat etwa der Unglück in Fuku­shima gezeigt. Erst hat jeder darüber berichtet, aber irgendwann war es Kassengift am Kiosk. Da die Aufmerksamkeitsspanne immer unstabiler wird, müssen sich Medien überlegen, wie sie nachhaltig Bewusstsein für große Probleme schaffen können.

Punkt 3

Die Zeitung als Anwalt

Die große Krise der Zeitungen in den USA hatte zwar mit dem Internet und Strukturproblemen zu tun, aber auch damit, dass große Blätter vor dem Eintritt in den Irakkrieg kritiklos die Version der Bush-Regierung übernahmen. Eine Zeitung wird unglaubwürdig, wenn sie eine große Nähe zu einer Partei hat. Sie muss ein Anwalt des Lesers sein und aufdecken, anstatt sich auf eine Ebene mit denen da oben zu stellen.

Das dazugehörige Stadtgespräch