Interview

Michael Thumann

 Der Mann an der Moskwa für die Wochenzeitung Die Zeit, über Recherchemethoden im russischen Regime und warum er lieber auf Bluesky als auf X postet

Gespräch:  Tessa Szyszkowitz

FALTER:  Nr. 48/2024

Erscheinungsdatum: 27.11.2024

69. Wiener Stadtgespräch mit Michael Thumann © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Michael Thumann ist Russlandkorrespondent der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ in Moskau. Er ist Träger des Werner-Holzer-Preises für hervorragende Auslandsberichterstattung 2023. Zuletzt erschien von ihm der „Spiegel“-Bestseller „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“.

Wladimir Putin hat er 1999 zum ersten Mal getroffen. Schon damals glaubte Michael Thumann an ihm autoritäre Tendenzen zu spüren. Der Chef des russischen Geheimdienstes FSB war gerade zum Premierminister der Russischen Föderation bestellt worden. Kurz darauf wurde Putin auch zum Präsidenten gewählt. Sein Weg zum Diktator, der Oppositionelle ermorden und Nachbarländer überfallen lässt, war lang. Michael Thumann hat ihn seit einem Vierteljahrhundert dabei beobachtet.
FALTER:  Herr Thumann, Sie sind in Moskau und wir sprechen miteinander über Whatsapp. Hört der russische Geheimdienst FSB mit?

Das weiß ich nicht. Ich bin mir generell immer bewusst, dass wir vielleicht nicht alleine sind. Whatsapp ist nicht unbedingt eine sichere Leitung, sie kann abgehört werden. Andere Dienste wie Signal werden mittlerweile massiv gestört.

Fühlen Sie sich als Korrespondent für eine deutsche Wochenzeitung gefährdet?

Es gibt einfach viel zu viele Korrespondentinnen und Korrespondenten, die bei Recherchen festgenommen oder die ausgewiesen wurden, als dass man sich jetzt hier sicher fühlen würde. Und insoweit verhalte ich mich auch umsichtig.

Wie kommen Sie zwischen Moskau und Berlin hin und her? Über Istanbul? 

Der Weg über Istanbul ist ein sehr langer Weg. Man kann nicht über die Ukraine fliegen, weil sie Kriegsgebiet ist. Über das Kaspische Meer wäre es zu weit. Also fliegt man erst mal nach Norden bei Petersburg über die Ostsee, dann über Polen und den ganzen Balkan hinunter bis nach Istanbul. Um dann wieder nach Mitteleuropa zu kommen, fliegt man den ganzen Weg wieder hinauf. Auf dem Landweg geht es auch über den Übergang zwischen Russland und Estland. Der ist aber mittlerweile sehr voll, weil er einer der letzten Übergänge zwischen der Europäischen Union und Russland ist. Man hängt dann auf einer Brücke bei Wind und Wetter über der Narva. Der andere kuriose Weg: Man fliegt über Sankt Petersburg und die Ostsee nach Kaliningrad, nimmt von Kaliningrad einen Bus an die Grenze zu Polen und fährt dann von dort aus weiter.

In Ihrem nächsten Buch geht es um diese Reisen durch das neue Russland?

Ja, es geht um den neuen Eisernen Vorhang, der sich durch Europa zieht. Konkret, reisetechnisch, digital, geistig und in den menschlichen Beziehungen. Ein politisches Reisebuch.

Am Beginn Ihres 2023 erschienenen Buches „Revanche“ beschreiben Sie, wie Ihr Freund seinen Sohn am Anfang der Invasion am 24. Februar 2022 beschwört, sofort das Land zu verlassen. Wie hat sich dieser Exodus der jungen Mittelklasse aus Moskau ausgewirkt?

Dieser „Braindrain“ war sehr stark in den Jahren 2022 und 2023. Viele sind nicht zurückgekehrt, ein Teil aber schon. IT-Spezialisten haben von Russland lukrative Jobangebote bekommen, weil plötzlich ein Riesendefizit entstanden war. Diese Techniker werden sehr gut bezahlt. Und sie arbeiten in der Regel in einem unpolitischen Bereich.

Haben die Menschen Angst, dass sie sofort abgeholt werden, wenn sie nicht „Spezialoperation“ statt Krieg sagen?

Wir passen schon sehr auf, was wir sagen, um die Gesprächspartner nicht zu gefährden. Man muss davon ausgehen, dass es Leute gibt, die mithören können. Auch wenn in einer Fremdsprache gesprochen wird. Man muss sich dessen immer bewusst sein. Und am besten ist dann doch der alte Waldspaziergang ohne Telefone, der ja schon im Kalten Krieg ein probates Mittel war, um sich mal richtig aussprechen zu können.

"Oft notiere ich die Namen nicht, damit keine Spur rückverfolgt werden kann"

Michael Thumann

FALTER:  Können Sie überhaupt noch arbeiten, Sie könnten ja Ihre Interviewpartner gefährden?

Nach wie vor erlebe ich bei meinen engeren Kontakten einfach eine große Offenheit. Und ein Vertrauen, dass sie wissen, dass ich nichts schreibe, was Ihnen schaden könnte. Oft notiere ich die Namen nicht, damit keine Spur rückverfolgt werden kann.

Die Ukraine hat jetzt vom scheidenden US-Präsidenten Joe Biden noch schnell die Erlaubnis bekommen, Langstreckenwaffen einzusetzen. Schäumt das Staatsfernsehen über eine neue Eskalation des Westens?

Ja, die staatlichen Medien ziehen sämtliche Register: Es sei Völkerrechtsbruch. Die neue Nukleardoktrin sieht vor, dass bei Bedrohungen, die das ganze Land betreffen, auch die nukleare Option als Verteidigungsoption in Betracht zu ziehen ist. Sie stellen es aber gleichzeitig nur als ein regionales Problem für Kursk dar. Das entspricht der Realität, weil die USA der Ukraine nur eine begrenzte Reichweite erlauben und damit eine geografische Grenze gezogen haben.

Inzwischen kommen aber ukrainische Drohnen auch schon bis nach Moskau. Verunsichert das die Bevölkerung?

Die Verunsicherung ist begrenzt, weil es nur sehr selten zu so einem Angriff kommt. Die Leute ärgern sich eher, weil die russische Regierung als Reaktion auf einen Angriff das GPS-Signal lahmlegt und dann kann man nicht mehr richtig mit dem Taxi fahren, weil der Taxifahrer ganz woanders hinfährt, als das GPS vorgibt. Oder die Fernwärme ausfällt, weil die alten Systeme anfällig sind. Solche kleinen Alltagsprobleme häufen sich.

Das heißt, es gibt Sabotageaktionen auf beiden Seiten?

Ich würde nicht von Sabotageaktionen sprechen. Es sind tatsächlich in den meisten Fällen Überdehnung und Verschleißanzeichen der russischen Infrastruktur. Die Sabotageaktionen von außen, wenn sie denn von der Ukraine kommen, wie manchmal behauptet wird, haben sicherlich nur einen ganz kleinen Anteil.

Stimmen die Berichte, dass jetzt schon die Butter im Supermarkt in Glasschränke gesperrt werden muss, weil sie sonst geklaut wird?

Diese Fälle hat es offenbar in einigen Städten in der Provinz gegeben. Hier in Moskau ist sie in den Supermärkten nicht weggesperrt. Butter ist einfach verdammt teuer. Teilweise hat sich der Preis für Lebensmittel verdreifacht. Die einst vollen Restaurants sind auch nicht mehr ganz so voll. Die Inflation übersteigt bei weitem alles, was wir in der Europäischen Union kennen. Dabei werden die Daten vom offiziellen Statistikamt heruntergefälscht. Der große Vorteil der russischen Regierung gegenüber der Regierung in den Vereinigten Staaten: Die Inflation hatte in den USA einen Einfluss auf das Wahlergebnis. In Russland nicht. Dafür sorgt das geschlossene Informationssystem, das Putin aufbauen hat lassen.

Putin hat die Atomdoktrin geändert. Fällt das unter Säbelrasseln oder ist es ein „Tschechow’sches“ Gewehr: Was im ersten Akt eines Theaterstücks dieses berühmten russischen Dramatikers auf den Tisch gelegt wurde, kam spätestens im letzten Akt zum Einsatz?

Beunruhigend ist, dass die neue Nukleardoktrin die Schwelle zum Einsatz von einer Bedrohung der Existenz Russlands hin zu einem Angriff auf Russland senkt. Dann wurde noch spezifiziert: Wenn eine Atommacht wie die USA, Frankreich oder Großbritannien der Ukraine hilft, Russland anzugreifen, dann kann das ein Anlass sein für Russland, diese Atommächte anzugreifen. Putins Berater haben gerade ein Papier vorgelegt, das dazu aufruft, die Nuklearwaffen der Russischen Föderation in bestimmten Fällen einzusetzen, um den Westen stärker abzuschrecken. Wir haben es mit einer Eskalation der nuklearen Doktrin und der nuklearen Einsatzlogik zu tun. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, dass Putin so einen Schlag verüben würde und all die strategischen Vorteile gefährdet, die er langfristig von einer Präsidentschaft von Donald Trump hat.

Freuen oder fürchten sich Putin und seine Berater über Trumps Wahl?

Es ist tatsächlich beides. Eitel Wonne über die Aussichten, von inkompatiblen, sachlich unfähigen und Russland sehr zugeneigten Politikern in Washington profitieren zu können. Und auf der anderen Seite steht die Unsicherheit, dass Trump verrückte Sachen machen könnte. Das hat er auch in seiner ersten Amtszeit gezeigt. Es war ja kein demokratischer Präsident, der die Ukraine Ende der 2010er-Jahre aufgerüstet hat. Es war Donald Trump. Putin hat sich auch erst nach zwei Tagen bei einer Podiumsdiskussion die Gratulation an Trump aus der Nase ziehen lassen. Es gibt also so eine Art Halbdistanz zu dem Mann.

Hat der FSB noch etwas gegen Trump in der Hand? Oder liegt die Nähe zu Putin einfach daran, dass Trump Autokraten eben ganz gern hat?

Zweiteres. Es kann schon sein, dass die noch irgendwas im Kellerarchiv haben. Ich glaube aber eher, dass Trump Putins ideologische Linie schätzt und dass er ja auch genügend Mitstreiter findet in den USA, die ganz ähnlich denken wie Russland. Sie sind von der chinesischen Gefahr besessen, verweigern aber die gedankliche Verbindung, dass Russland und China Verbündete sind. In diesem Feld amerikanischer strategischer Verwirrung gibt es genügend Leute, die ähnlich denken wie Trump. Es bedarf keines FSB-Kompromats.

Ihr Buch heißt „Revanche“. Ist Putins Politik heute noch davon getrieben, dass die Sowjetunion untergegangen ist? Erleben wir nicht schon eine neue Phase, in der die Autokraten sich großer Beliebtheit erfreuen – egal ob in Washington oder Moskau?

Der Militärpakt mit Nordkorea zeigt, dass es Putins Ziel ist, die Revanche so weit zu treiben, dass der Westen sich am Ende dort befindet, wo sich die Sowjetunion 1990 befand: geschlagen und zerfallen. Die Vereinigten Staaten, selbst unter Trump, werden weiterhin Ziel von koordinierten Angriffen sein. Auch Europa. Angegriffen wird auf vielfältige Weise – traditioneller Krieg, aber auch Informationskrieg.

Apropos: Sind Sie noch auf X? Und fällt es in Moskau jemandem auf, ob Sie auf X oder Bluesky posten?

Ich bin mir ganz sicher. In den meisten sozialen Medien kann eine Übersetzungsfunktion eingeschaltet werden, damit bewegt man sich im russischen Informationsraum. Ich wünsche Bluesky alles Gute, damit es als Austauschplattform für Leute, die nicht autoritär denken, genutzt werden kann. X befindet sich dagegen in den Händen eines autoritären, sehr machthungrigen amerikanischen Oligarchen.

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