Gespräch: Ingrid Brodnig
FALTER: Nr. 41/2013
Erscheinungsdatum: 1.10.2013
Sie kann. Viele Menschen verkennen aber den eigentlichen Fokus der NSA: Denen geht es nicht
primär um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, wer wann mit wem kommuniziert hat – also um die sozialen Beziehungen. Durch das Speichern dieser Information entsteht ein Netzwerk aller Sozialbeziehungen eines Landes. Wenn ich zum Beispiel einen Terroristen herausgreife und
ihn als Knotenpunkt aus diesem Netzwerk ziehe, sehe ich sofort, wer mit ihm in Kontak stand. Die Geheimdienste können also viel gezielter auf Leute zugreifen.
Genau, die Geheimdienste suchen nach Mustern von Sozialverbindungen. Nehmen wir an, ein Terrorist hat viele Verbindungen innerhalb einer kleinen Gruppe und diese Gruppe hat wiederum kaum Kontakt mit der Außenwelt. Das ist ein ganz spezielles Muster Die NSA kann in ihren Datenbanken, also in der gesamten Gesellschaft, nach diesem Muster suchen. Tritt dieses Muster ein weiteres Mal auf, stehen am nächsten Tag zwölf bewaffnete Agenten vor der Tür dieser Person.
Genau, in diesem Fall entsprechen die Sozialbeziehungen der Persodemselben Muster. Das führt zum Verdacht, dass sie ebenfalls ein Terrorist sein könnte.
Viktor Mayer-Schönberger
Jein, wir Menschen sind uns viel ähnlicher, als wir oft glauben wollen Sonst würden zum Beispiel die Produktempfehlungen von Amazon nicht funktionieren. Wären wir Menschen tatsächlich so individuell, dann könnte uns der Onlinehändler nicht so treffsicher Produkte anbieten die uns tatsächlich interessieren. Amazon schaut sich an: Kunden, die dieses Buch gekauf haben, kaufen oft auch jenes Buch. Bei der NSA geht es darum: Ich habe mehrere Terroristen gefunden, die eine spezifische Art von Sozialbeziehungen gepflegt haben, we die genau gleiche Art von Sozialbeziehungen pflegt, ist womöglich auch ein Terrorist.
Ja, ich gehe von einer Erfolgsrate von mehr als 50 Prozent aus. Das wirklich Problematische ist, dass diese Tools der Big-Data-Analyse meist gar nicht für Terroristen eingesetzt werden. Wie nun
bekannt wurde, lösen das FBI oder die Drogenbehörde DEA ganz normale Fälle damit.
Das ist bedenklich, denn Big-Data-Analysen sind ein sehr mächtiges, ein sehr gefährliches
Werkzeug.
Big Data ist die Möglichkeit, aus einer großen Anzahl an Datenpunkte neue Einsichten zu gewinnen; Einsichten, die man mit weniger Datenpunkten nicht gewinnen könnte. Problematisch wird das dann, wenn es genutzt wird, um Dynamiken in einer Gesellschaft im Vorhinein vorherzusagen und wir mit riesigen Schritten in Richtung "Minority Report" gehen.
Ja, in 30 amerikanischen Bundesstaaten wird die Entscheidung, ob jemand auf Bewährung freikommt, bereits mit Hilfe von Big-Data-Analysen getroffen Dabei wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, ob jemand nach der Freilassung im nächsten Jahr einen Mord begehen wird.
Unzählige Kriterien fließen in die Berechnung mit ein, etwa, wie alt die Person ist, welche Straftat sie begangen hat, aus welcher sozialen Schicht sie stammt.
Bingo! In so einem Fall können Sie auch nicht mehr ihre Unschuld beweisen. Wie will man denn beweisen, dass man in der Zukunft etwas nicht tun wird? Man ist nicht aufgrund seines Verhaltens schuldig, sondern aufgrund der Vorhersage.
Genau, diese Verwechslung ist das Problem. Die NSA könnte Big Data sinnvoll anwenden und schauen: Unter welchen sozioökonomischen Bedingungen entsteht fundamentalistischer Terrorismus? Wenn wir das wissen, könnten wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Es ist jedoch ein Missbrauch von Big Data, wenn ich Korrelationen verwende, um über die Schuld oder Unschuld eines einzelnen Menschen zu urteilen.
Was die Menschheit gebaut hat, kann sie auch wieder zurückbauen. Wir haben bereits 50.000 Nuklearsprengköpfe auf ein paar tausend reduziert, auch im Bereich der NSA und anderer Geheimdienste muss diese unglaubliche Machtinfrastruktur wieder zurückgebaut werden, wir müssen das nur als Gesellschaft wollen.
Ich bin ein notorischer Optimist. Mit einer gewissen Hoffnung sehe ich, dass an beiden Enden des Spektrums, bei Demokraten und Republikanern, der Unmut wächst. Auch vielen Republikanern aus dem rechten Lager behagt das nicht, weil solche Tools auch gegen die Opposition eingesetzt werden können. Insofern bin ich ein bisschen optimistisch, aber ich bezweifle, dass die Obama-Administration diesen Apparat noch zurückbauen wird. Dafür sind die Strafverfolgungsbehörden derzeit zu trunken vom Erfolg, den ihnen Big Data beschert.
Genau. Wir tauschen unsere Freiheiten gegen effizientere Strafverfolgungsbehörde ein. Dabei zeichnet eine liberale Gesellschaft aus, dass sie Freiraum auf Kosten von Sicherheit schafft.
Pauschalantworten gibt es nicht. Man kann nicht abstrakt sagen, Sicherheit ist immer wichtiger als Freiheit, oder umgekehrt. Wir müssen die Balance finden und uns als Gesellschaft klar darüber sein: Mehr Freiheit heißt auch mehr Risiko. Wenn die Polizei weniger darf, kann es sein, dass dann vielleicht eine Bombe explodiert.
Das stimmt. Uns muss aber bewusst sein: Wenn wir stets Risikoverminderung über Freiheit stellen, schränken wir uns damit selbst ein.
Natürlich. Denken Sie nur an unser Gesundheitssystem: Im Moment nehmen wir Medikamente auf Basis des durchschnittlichen Patienten, um genau zu sein: auf Basis des durchschnittliche männlichen Patienten. Das heißt, jeder von uns ist entweder über- oder unterdosiert, denn keiner von uns ist der Durchschnitt. Sie haben einen anderen Metabolismus, eine andere DNA als ich – und trotzdem nehmen wir beide die gleiche Tablette Aspirin.
In der Vergangenheit konnte man die Dosis nicht für jeden einzelnen Menschen berechnen. Mit Big Data können wir das. Heute können wir die DNA sequenzieren oder Enzymwerte in Echtzeit analysieren. Diese Daten sagen ungeheuer viel aus, ob jemand krank wird. Mit Big Data ist es möglich, die Diagnose und Behandlung viel mehr auf den Einzelnen abzustellen. Es ist gar nicht so gewagt, wenn ich sage: Ihre Generation wird deswegen sicher 15 Jahre länger leben.
Richtig, das ist die Dystopie. In Wahrheit gibt’s zwei Enden des Spektrums: Gesundheitsdaten werden für wirtschaftliche Zwecke genutzt, damit Versicherungen etwa Leute ausschließen können die viel Geld kosten. Allerdings kann ich dieselben Daten auch in der Forschung verwenden und damit bessere Behandlungen entwickeln. Heute verwenden wir die Daten in erster Linie, um Geschäftsmodelle effizienter zu machen. Aber man sollte sich sehr genau überlegen, ob wir den Versicherungen das erlauben wollen. Ich denke nicht. Für mich bedeutet eine kollektive Krankenversicherung, dass wir weitgehend blind sind gegenüber den Risiken oder genetischen Dispositionen Einzelner. Auch hier gilt: Eine freie Gesellschaft muss Risiken zulassen. In diesem Zusammenhang bedeutet Freiheit Solidarität.
Oder Solidarität mit jemandem, der als Bluter geboren wurde. Zu dem sag ich auch nicht: Sorry, hast a Pech gehabt, gehst halt sterben!
Ja, gerade beim Datenschutz müssen wir die Verwendung von Daten genauer regeln. Wir sollten festlegen, welche Verwendungszwecke zulässig sind, welche nur unter bestimmten Zwecken zulässig sind und was kategorisch verboten gehört. Dass Versicherungen diese Daten heranziehen, um Menschen auszuschließen, ist für mich so etwas.
Nur digitale Information kann einfach und schnell analysiert und weiterverarbeitet werden.
Im Jahr 2000 waren noch drei Viertel der Information in der Welt analog. Heut ist nur noch ein Prozent analog; 99 Prozent sind digital. Die gesamte Informationsmenge auf der Welt hat sich in den vergangene 20 Jahren verhundertfacht!
Aufgrund von Big Data fallen Entscheidungen. Zwar versuchen Menschen die Welt zu verstehen, indem sie nach Ursachen suchen, aber Big-Data-Analysen geben kein Warum. Die Daten offenbaren uns stattdessen Korrelationen – also das Was. Man weiß etwa an welchem Tag es am günstigsten ist, einen Flug zu buchen – aber nicht, warum.
Mein Datenschutz und meine Privatsphäre sind nicht mehr nur von mir selbst abhängig, sondern zunehmend auch von den Menschen um mich herum. Ein Beispiel: Die DNA von Familienmitgliedern ist sehr ähnlich, sie unterscheidet sich nur in wenige Bereichen voneinander. Wenn mein Bruder seine DNA sequenzieren lässt und in eine Datenbank gibt, bin auch ich erfasst.