Interview

Viktor Mayer-Schönberger 

Viktor Mayer-Schönberger zählt zu den wichtigsten Vor­denkern in Sachen Internet. Ein Gespräch über den NSA-Skandal und dessen Konsequenzen

Gespräch: Ingrid Brodnig

FALTER:  Nr. 41/2013

Erscheinungsdatum: 1.10.2013

Portrait Viktor Mayer-Schönberger © Rob Judges
© Rob Judges
Zur Person

Professor Viktor Mayer-Schönberger (*1966) ist ein österreichischer Jurist, Hochschullehrer und Autor. 1986 gründete er die Software-Firma Ikarus mit Entwicklungsschwerpunkt in Datensicherheit und entwickelte "Virus Utilities", eines der am meisten verkauften österreichischen Software-Produkte.

Nach einem Master-Studium an der Harvard Law School promovierte er 1991 in Salzburg zum Doktor der Rechtswissenschaften. 1992 graduierte er zum Master of Science an der London School of Economics and Political Science. 1999 übernahm er eine Professur an der Harvard Kennedy School, aktuell ist er am Oxford Internet Institute tätig.

Sein letztes Buch "Delete", in dem er das "Recht auf Vergessen werden" in digitalen Zeiten propagiert, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. In seinem neuesten Buch "Big Data" beschäftigt sich Mayer-Schönberger mit den gesellschaftlichen Folgen der systematischen und kommerziellen Nutzung von Daten im Internet, er gilt als einer der international anerkanntesten Experten auf diesem Gebiet.

In China wurde sein neues Buch bereits zum Bestseller, in Österreich erschien es gerade eben am Markt. Viktor Mayer-Schönberger ist einer der weltweit renommiertesten Internetrechtsexperten. Nach einigen Jahren in Harvard und Singapur lehrt er heute an der Oxford University, sein neues Buch erklärt das Prinzip „Big Data“. Dabei werden aus riesigen Datenmengen neue Erkenntnisse gewonnen – nicht nur Amazon und Google nutzen diese Analyse-Tools, auch die NSA tut das. Im Interview erklärt er, wie uns die Geheimdienste überwachen.
FALTER: Herr Mayer-Schönberger, die NSA speichert täglich Milliarde von Daten, etwa Telefonate oder E-Mails ab. Einmal abseits aller rechtlichen Bedenken: Kann die NSA so viele Daten überhaupt auswerten?

Sie kann. Viele Menschen verkennen aber den eigentlichen Fokus der NSA: Denen geht es nicht
primär um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, wer wann mit wem kommuniziert hat – also um die sozialen Beziehungen. Durch das Speichern dieser Information entsteht ein Netzwerk aller Sozialbeziehungen eines Landes. Wenn ich zum Beispiel einen Terroristen herausgreife und
ihn als Knotenpunkt aus diesem Netzwerk ziehe, sehe ich sofort, wer mit ihm in Kontak stand. Die Geheimdienste können also viel gezielter auf Leute zugreifen.

Aber das ist nur der Anfang, oder? Der Geheimdienst versucht auch Muster zu erkennen und das Profil eines potenziellen Gefährders zu erstellen

Genau, die Geheimdienste suchen nach Mustern von Sozialverbindungen. Nehmen wir an, ein Terrorist hat viele Verbindungen innerhalb einer kleinen Gruppe und diese Gruppe hat wiederum kaum Kontakt mit der Außenwelt. Das ist ein ganz spezielles Muster Die NSA kann in ihren Datenbanken, also in der gesamten Gesellschaft, nach diesem Muster suchen. Tritt dieses Muster ein weiteres Mal auf, stehen am nächsten Tag zwölf bewaffnete Agenten vor der Tür dieser Person.

Auch dann, wenn diese Person den ursprünglichen Terroristen und seine Zelle gar nicht kennt?

Genau, in diesem Fall entsprechen die Sozialbeziehungen der Persodemselben Muster. Das führt zum Verdacht, dass sie ebenfalls ein Terrorist sein könnte.

"Wir Menschen
sind uns viel ähnlicher, als wir oft glauben wollen. Sonst würden die Produktempfehlungen von Amazon nicht funktionieren" 

Viktor Mayer-Schönberger

Sind wir Menschen so berechenbar?

Jein, wir Menschen sind uns viel ähnlicher, als wir oft glauben wollen Sonst würden zum Beispiel die Produktempfehlungen von Amazon nicht funktionieren. Wären wir Menschen tatsächlich so individuell, dann könnte uns der Onlinehändler nicht so treffsicher Produkte anbieten die uns tatsächlich interessieren. Amazon schaut sich an: Kunden, die dieses Buch gekauf haben, kaufen oft auch jenes Buch. Bei der NSA geht es darum: Ich habe mehrere Terroristen gefunden, die eine spezifische Art von Sozialbeziehungen gepflegt haben, we die genau gleiche Art von Sozialbeziehungen pflegt, ist womöglich auch ein Terrorist.

Klappt das wirklich?

Ja, ich gehe von einer Erfolgsrate von mehr als 50 Prozent aus. Das wirklich Problematische ist, dass diese Tools der Big-Data-Analyse meist gar nicht für Terroristen eingesetzt werden. Wie nun
bekannt wurde, lösen das FBI oder die Drogenbehörde DEA ganz normale Fälle damit.
Das ist bedenklich, denn Big-Data-Analysen sind ein sehr mächtiges, ein sehr gefährliches
Werkzeug.

Sie haben ein Buch über Big Data geschrieben. Was ist das denn?

Big Data ist die Möglichkeit, aus einer großen Anzahl an Datenpunkte neue Einsichten zu gewinnen; Einsichten, die man mit weniger Datenpunkten nicht gewinnen könnte. Problematisch wird das dann, wenn es genutzt wird, um Dynamiken in einer Gesellschaft im Vorhinein vorherzusagen und wir mit riesigen Schritten in Richtung "Minority Report" gehen.  

Im Film „Minority Report“ spielt Tom Cruise einen Polizisten, der Menschen für Straftaten verhaftet, die sie in der Zukunft begehen werden. Glauben Sie echt, dass wir uns dorthin bewegen?

Ja, in 30 amerikanischen Bundesstaaten wird die Entscheidung, ob jemand auf Bewährung freikommt, bereits mit Hilfe von Big-Data-Analysen getroffen Dabei wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, ob jemand nach der Freilassung im nächsten Jahr einen Mord begehen wird.
Unzählige Kriterien fließen in die Berechnung mit ein, etwa, wie alt die Person ist, welche Straftat sie begangen hat, aus welcher sozialen Schicht sie stammt.

Damit wird dieser Person der freie Wille aberkannt. Immerhin entscheidet sie nicht selbst, ob sie einen Mord begehen wird, der Computer hat das bereits berechnet.

Bingo! In so einem Fall können Sie auch nicht mehr ihre Unschuld beweisen. Wie will man denn beweisen, dass man in der Zukunft etwas nicht tun wird? Man ist nicht aufgrund seines Verhaltens schuldig, sondern aufgrund der Vorhersage.

Wird dabei nicht Korrelation und Kausalität verwechselt? Nur weil man gewisse Merkmale mit früheren Mördern teilt, muss man nicht automatisch zum Mörder werden.

Genau, diese Verwechslung ist das Problem. Die NSA könnte Big Data sinnvoll anwenden und schauen: Unter welchen sozioökonomischen Bedingungen entsteht fundamentalistischer Terrorismus? Wenn wir das wissen, könnten wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Es ist jedoch ein Missbrauch von Big Data, wenn ich Korrelationen verwende, um über die Schuld oder Unschuld eines einzelnen Menschen zu urteilen.

Was können wir dagegen tun? Als Europäer hat man oft das Gefühl, dass man sich eh nicht wehren kann.

Was die Menschheit gebaut hat, kann sie auch wieder zurückbauen. Wir haben bereits 50.000 Nuklearsprengköpfe auf ein paar tausend reduziert, auch im Bereich der NSA und anderer Geheimdienste muss diese unglaubliche Machtinfrastruktur wieder zurückgebaut werden, wir müssen das nur als Gesellschaft wollen.

Sie haben in Harvard unterrichtet, kennen die amerikanische Politik sehr gut. Sehen Sie eine realistische Chance für einen solchen Rückbau?

Ich bin ein notorischer Optimist. Mit einer gewissen Hoffnung sehe ich, dass an beiden Enden des Spektrums, bei Demokraten und Republikanern, der Unmut wächst. Auch vielen Republikanern aus dem rechten Lager behagt das nicht, weil solche Tools auch gegen die Opposition eingesetzt werden können. Insofern bin ich ein bisschen optimistisch, aber ich bezweifle, dass die Obama-Administration diesen Apparat noch zurückbauen wird. Dafür sind die Strafverfolgungsbehörden derzeit zu trunken vom Erfolg, den ihnen Big Data beschert.

Wir stehen also vor dem Dilemma, dass Big Data tatsächlich den Behörden hilft ?

Genau. Wir tauschen unsere Freiheiten gegen effizientere Strafverfolgungsbehörde ein. Dabei zeichnet eine liberale Gesellschaft aus, dass sie Freiraum auf Kosten von Sicherheit schafft. 

Nur, wo ziehen wir die Grenze? 

Pauschalantworten gibt es nicht. Man kann nicht abstrakt sagen, Sicherheit ist immer wichtiger als Freiheit, oder umgekehrt. Wir müssen die Balance finden und uns als Gesellschaft klar darüber sein: Mehr Freiheit heißt auch mehr Risiko. Wenn die Polizei weniger darf, kann es sein, dass dann vielleicht eine Bombe explodiert.

Das wird aber vielen nicht behagen.

Das stimmt. Uns muss aber bewusst sein: Wenn wir stets Risikoverminderung über Freiheit stellen, schränken wir uns damit selbst ein.  

Das klingt alles erschreckend. Gibt es denn überhaupt Anwendungsbereiche, bei denen Big Data sinnvoll ist?

Natürlich. Denken Sie nur an unser Gesundheitssystem: Im Moment nehmen wir Medikamente auf Basis des durchschnittlichen Patienten, um genau zu sein: auf Basis des durchschnittliche männlichen Patienten. Das heißt, jeder von uns ist entweder über- oder unterdosiert, denn keiner von uns ist der Durchschnitt. Sie haben einen anderen Metabolismus, eine andere DNA als ich – und trotzdem nehmen wir beide die gleiche Tablette Aspirin. 

Was nützt da Big Data?

In der Vergangenheit konnte man die Dosis nicht für jeden einzelnen Menschen berechnen. Mit Big Data können wir das. Heute können wir die DNA sequenzieren oder Enzymwerte in Echtzeit analysieren. Diese Daten sagen ungeheuer viel aus, ob jemand krank wird. Mit Big Data ist es möglich, die Diagnose und Behandlung viel mehr auf den Einzelnen abzustellen. Es ist gar nicht so gewagt, wenn ich sage: Ihre Generation wird deswegen sicher 15 Jahre länger leben.

Ich hätte eher Angst, dass ich keine Krankenversicherung mehr bekomme, weil ich das falsche Verhaltensmuster aufweise.

Richtig, das ist die Dystopie. In Wahrheit gibt’s zwei Enden des Spektrums: Gesundheitsdaten werden für wirtschaftliche Zwecke genutzt, damit Versicherungen etwa Leute ausschließen können die viel Geld kosten. Allerdings kann ich dieselben Daten auch in der Forschung verwenden und damit bessere Behandlungen entwickeln. Heute verwenden wir die Daten in erster Linie, um Geschäftsmodelle effizienter zu machen. Aber man sollte sich sehr genau überlegen, ob wir den Versicherungen das erlauben wollen. Ich denke nicht. Für mich bedeutet eine kollektive Krankenversicherung, dass wir weitgehend blind sind gegenüber den Risiken oder genetischen Dispositionen Einzelner. Auch hier gilt: Eine freie Gesellschaft muss Risiken zulassen. In diesem Zusammenhang bedeutet Freiheit Solidarität.

Zum Beispiel Solidarität mit jemandem, der raucht?

Oder Solidarität mit jemandem, der als Bluter geboren wurde. Zu dem sag ich auch nicht: Sorry, hast a Pech gehabt, gehst halt sterben!

Sollten wir Ihrer Meinung nach manche Verwendungszwecke von Big Data gesetzlich verbieten?

Ja, gerade beim Datenschutz müssen wir die Verwendung von Daten genauer regeln. Wir sollten festlegen, welche Verwendungszwecke zulässig sind, welche nur unter bestimmten Zwecken zulässig sind und was kategorisch verboten gehört. Dass Versicherungen diese Daten heranziehen, um Menschen auszuschließen, ist für mich so etwas.

Die Thesen

Punkt 1

Datenexplosion durch Digitalisierung

Nur digitale Information kann einfach und schnell analysiert und weiterverarbeitet werden.
Im Jahr 2000 waren noch drei Viertel der Information in der Welt analog. Heut ist nur noch ein Prozent analog; 99 Prozent sind digital. Die gesamte Informationsmenge auf der Welt hat sich in den vergangene 20 Jahren verhundertfacht!

Punkt 2

Das Was verdrängt das Warum

Aufgrund von Big Data fallen Entscheidungen. Zwar versuchen Menschen die Welt zu verstehen, indem sie nach Ursachen suchen, aber Big-Data-Analysen geben kein Warum. Die Daten offenbaren uns stattdessen Korrelationen – also das Was. Man weiß etwa an welchem Tag es am günstigsten ist, einen Flug zu buchen – aber nicht, warum. 

Punkt 3 

Über Privatsphäre entscheiden andere

Mein Datenschutz und meine Privatsphäre sind nicht mehr nur von mir selbst abhängig, sondern zunehmend auch von den Menschen um mich herum. Ein Beispiel: Die DNA von Familienmitgliedern ist sehr ähnlich, sie unterscheidet sich nur in wenige Bereichen voneinander. Wenn mein Bruder seine DNA sequenzieren lässt und in eine Datenbank gibt, bin auch ich erfasst.

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