Porträt: Julia Kospach, Salzburg / Kamissi, Äthiopien
FALTER: Nr. 11/2009
Erscheinungsdatum: 11.03.2009
Das war 1978, Almaz war 14 und sie hatte schon einiges gesehen. Etwa die Enteignung ihres Vaters, der unter Kaiser Haile Selassie ein wohlhabender Staatsbeamter gewesen war. Nun, unter dem sowjetgestützten Diktator Mengistu Haile Mariam, war er zum Klassenfeind geworden. Er verlor seine Häuser und Ländereien. Almaz kannte auch die Angst um ihren älteren Bruder. Der Gymnasiast gefährdete das Leben der Familie, weil er in der Bewegung gegen Mengistu aktiv war. Sie kannte den Krieg: Ein Territorialkonflikt zwischen Somalia und Äthiopien breitete sich aus und erreichte schließlich Jijiga. Monatelang verbrachte sie die Nächte auf dem Boden statt in ihrem Bett, weil sie Angst hatte, dass auf die Wände geschossen würde. Mit einem Militärhubschrauber verließ die Familie in letzter Minute ihre von den Somalis eroberte, eingekesselte Heimatstadt.
„Wir hatten nichts mehr, aber wir haben uns nicht arm gefühlt. Wir haben in diesem Krieg niemanden verloren. Wir hatten uns“, sagt Almaz Böhm. Große Sätze, die aus ihrem Mund klingen, als handelte es sich um Selbstverständlichkeiten. Genauso wie das, was sie kurz danach über die Arbeit der Äthiopienhilfe sagt, die ihr Mann Karlheinz Böhm 1981 gegründet hat: „Ich denke niemals darüber nach, ob das alles Sinn hat. Das hat Sinn.“ Almaz Böhm sitzt in ihrem Büro in der „Menschen für Menschen“-Österreich-Zentrale in Grödig bei Salzburg. Ihr Lachen ist laut und herzlich.
Grödig, das ist dort, wo die Mozartkugeln herkommen. Eine kleine, verstreute Ortschaft nahe der Autobahn. Wer Almaz Böhm in dem Einfamilienhäuschen aufsucht, in dessen Erdgeschoß das „Menschen für Menschen“-Büro untergebracht ist, kreuzt die Karlheinz-Böhm-Straße, die hier ums Eck liegt. Wer hierherkommt, um mit Almaz Böhm zu sprechen, wird nicht automatisch auch ihrem Mann vorgestellt. Kein Händeschütteln mit dem Gründervater der Äthiopienhilfe, kein „Wenn Sie schon da sind, dann könnten Sie doch auch gleich …“. Betont selbstverständlich verlässt sich die Organisation auf Almaz Böhms Ausstrahlung. Seit Jahren wird sie als Nachfolgerin ihres Mannes aufgebaut. Almaz sagt, es sei schon ziemlich einzigartig, dass eine Afrikanerin die Führungsposition in einer großen europäischen Hilfsorganisation innehaben könne. Es sei ein wichtiges Symbol.
Almaz Böhm
die beiden gemeinsamen Kinder sind bereits erwachsen. „Am Anfang war die Mentalität der Leute in Europa für mich entsetzlich“, sagt Almaz, „jeder bleibt für sich. Alles immer so sauber und nach Vorschrift. Karl wusste nicht einmal, wer seine Nachbarn waren.“ Ein Heurigenbesuch mit der gutbürgerlichen Böhm’schen Verwandtschaft in der Steiermark war unter solchen Vorzeichen für die junge Äthiopierin ein echtes Aha-Erlebnis: „Gott sei Dank, es gibt auch normales Leben in Europa!“ Almaz lacht. Ihrem Mann teilte sie damals mit: „Karl, jetzt habe ich zum ersten Mal Leute in lockerer Atmosphäre gesehen.“ Inzwischen hat sie sich an die europäische Mentalität gewöhnt. Sie absolviert Termin um Termin, Empfang um Empfang, Spendengala um Spendengala. Auch abends und am Wochenende. Keine Spur von Überdruss oder Erschöpfung. Almaz Böhm hat eine Mission.
Seit November 1986 arbeitet sie für „Menschen für Menschen“. Fünf Jahre war Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe da alt. Fünf Jahre war es erst her, dass ein schon in die mittleren Jahre gekommener Schauspielstar eines Samstagabends zur TV-Primetime seinen Ruhm als Leinwand-Habsburger-Kaiser der deutschen Wirtschaftswunderjahre in die Waagschale geworfen hatte und bei Frank Elstners „Wetten dass …?“-Show mit einer Brandrede zur Menschlichkeit ein Millionen-Fernsehpublikum aufgestachelt hatte, seine Wettherausforderung anzunehmen und je eine Mark für Afrikaprojekte direkt an die Staatsoberhäupter Österreichs, Deutschlands und der Schweiz zu adressieren. Der Auftritt wurde zum Wendepunkt, die Äthiopienhilfe zum Zentrum seines zweiten Lebens. Als wäre Karlheinz Böhm, der Schauspieler, aus seiner alten Haut geschlüpft und hätte sich in einer neuen, besser passenden Rolle eingefunden.
Zu der Zeit studierte Almaz Viehzucht in Äthiopien. Das Fach war nicht ihre erste Wahl, aber unter den Bedingungen der Diktatur fragte man danach nicht. Sie war froh, studieren zu können, und leistete nach ihrem Abschluss lustlos die vorgeschriebene Dienstverpflichtung im Landwirtschaftsministerium ab. Als sie von einer europäischen Hilfsorganisation namens „Menschen für Menschen“ hörte, die ein Landwirtschaftsprojekt plante und eine Abteilungsleiterin suchte, heuerte die Viehzuchtexpertin an. Karlheinz Böhm lernte sie ein Jahr später kennen. Sie war, sagt sie, vor allem eins – überrascht. „Mein Boss fragte mich nach meiner Meinung! Das gibt’s gar nicht!“ Almaz Böhm lacht wieder. „Als ich beim Landwirtschaftsministerium war, gingen wir zu den Bauern, hatten es immer eilig, hörten nicht groß zu und zeigten ihnen, wie es geht“, erzählt Almaz. „Karl hat immer mit den Menschen geredet. Stundenlang. Daher kommt das ungeheure Vertrauen, das wir uns geschaffen haben.“
Sie steht jetzt im kleinen Dorf Kamissi in der westäthiopischen Provinz Illubabor. Die lokalen Scheichs mit ihren hennagefärbten Kinnbärten umarmen sie herzlich. Böhm eröffnet nun ein neues „Menschen für Menschen“-Gesundheitszentrum. Es ist eine Begrüßung unter alten Freunden. Ein weiß-rotes Megafon geht von Hand zu Hand. Voller Leidenschaft beschwört ein HIV-positiver Mann die Anwesenden, zum Aidstest zu gehen. Eine junge Frau, die mit der Unterstützung von „Menschen für Menschen“ die Schule abgeschlossen und studiert hat, erzählt von ihrer Karriere als Frauensozialbeauftragte und appelliert an die Anwesenden, ihre Töchter die Schule beenden zu lassen. Gemeinsam mit den Würdenträgern des Ortes sitzt Almaz lächelnd unter einer Plastikplane im Freien und hört zu. Sie ist unter den Ihren, auch hier, als Christin in einer rein muslimischen Gemeinde, sie spricht ihre Sprache.
Sie wird später erzählen, dass es in Kamissi eine nach ihr benannte Schule gibt. Als die Scheichs zu ihr kamen und sie fragten, ob sie damit einverstanden sei, habe sie geschluckt, allen Mut zusammengenommen und gesagt: „Ich freue mich, aber unter einer Bedingung: Wenn die Schule meinen Namen trägt, möchte ich, dass die ganze Gemeinde ab sofort auf schädliche Traditionen verzichtet: auf die Zwangsverheiratung ganz junger Mädchen und auf die Klitorisbeschneidung.“ Almaz sagt, es habe funktioniert.
Den Grundstein dafür, dass dieses Tabu angeschnitten werden konnte, habe ihr Mann gelegt, den sie hier „Mister Karl“ nennen und wie einen Volkshelden feiern. Auf der roten Schotterstraße der Provinzhauptstadt Mettu steht eine riesige Plakatwand: Karlheinz Böhm, der ein äthiopisches Kind im Arm hält. Darunter steht „The Hero of Development in the Millennium“. In den letzten drei Jahrzehnten hat Böhms Äthiopienhilfe 203 Schulen gebaut, drei Krankenhäuser und 85 Gesundheitsstationen eröffnet. 2400 Kilometer neuer Straße und 1300 Brunnen sind entstanden, 200 Baumschulen gegründet und 87 Millionen Baumsetzlinge zur Wiederaufforstung und Erosionseindämmung verteilt worden. Augenoperationen haben 38.000 Menschen vor der Erblindung bewahrt. 12.300 Frauen erhielten durch Mikrokredite eine neue Einkommensquelle, 30.000 Menschen Schulungen in Hygiene, Gesundheit, Ernährung oder Anbaumethoden. Insgesamt drei Millionen Menschen sind Nutznießer dieser Projektpalette, deren Ziel Selbstständigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe ist. „Gratulieren Sie nicht! Helfen Sie!“ forderte ein Plakat zum 25-Jahr-Jubiläum 2006.
Es verwundert nicht, dass die Kinder im „Menschen für Menschen“-Waisenheim in Mettu zu Almaz’ Besuch an diesem Abend selbst getextete Lieder vortragen, in denen Zeilen wie diese vorkommen: „Ich habe mich immer gefragt, wer meine Eltern sind. Und immer, wenn ich darüber nachdenke, sehe ich zwei Gesichter: meine Mutter Almaz und meinen Vater Karl.“ Sie klatscht vergnügt mit und drückt am Ende ein Dutzend Kinder an ihre Brust. Wie ein Fisch im Wasser. Auch sie hat ihre Rolle gefunden.
Wie damals, als Karlheinz Böhm sie einmal aus Äthiopien anrief und sagte, er halte es nicht mehr länger aus, er werde jetzt den Kampf gegen die Beschneidung aufnehmen. „Was, bist du wahnsinnig?“, antwortete Almaz ihm. Sie ist Äthiopierin, sie weiß, wie heikel das Thema ist. Doch er konnte sich den Tabubruch erlauben. Er ist kein Einheimischer und gehört doch dazu, mit seiner äthiopischen Frau und seinen beiden halbäthiopischen Kindern, und er hatte schon unter Beweis gestellt, dass es ihm um verbesserte Lebensbedingungen für die Menschen in Äthiopien ging. Er war gekommen, um zu bleiben.
So viel war klar. Ein alter, weißer Mann, der Respekt und Vertrauen genoss. Er preschte vor, nervös folgten ihm die eigenen Mitarbeiter auf unbekanntes Terrain. Auch Almaz folgte ihm. „Menschen für Menschen“ ist eine Hilfsorganisation, die wie kaum eine andere an den Namen einer einzigen Person gebunden ist. Karlheinz Böhm ist ihr großes Zugpferd, sein Ruhm als Schauspieler bis heute der Motor, der die Spender in Österreich, Deutschland und der Schweiz ihre Geldbörsen öffnen lässt. Ob diese Spendenwilligkeit sich in gleichem Maß erhalten wird, wenn Almaz eines Tages allein an der Spitze der Äthiopienhilfe stehen wird, ist die große Unbekannte in dieser Erfolgsgeschichte. Es ist keine Frage der Kompetenz. Auch nicht des Engagements. Beides besitzt Almaz Böhm zur Genüge. Es ist ein atmosphärisches Problem, das zu tun hat mit der Strahlkraft von Karlheinz Böhms Star-Mythos. Das zu kompensieren wird für Almaz ebenso schwierig, wie darauf zu verzichten. Almaz sagt, sie sehe das nicht als Nachteil. Auch mit dieser Frage pflegt sie einen pragmatischen Umgang. „Er hat mir durch seinen Namen und seine Bekanntheit viele Türen aufgemacht. Durchgehen muss ich selber.“
Wer Geld hat, hat Macht. „Menschen für Menschen“ hat Frauen in Betriebswirtschaft unterrichtet und ihnen Geld gegeben. Die Frauen wollten das Vertrauen nicht enttäuschen, das ihnen erstmals entgegengebracht wurde. Bald merkten auch die Männer, dass Frauen das Geld besser verwalteten, es den Familien und Männern selbst besser ging.
Die Tradition der Klitorisbeschneidung wurde von Generation zu Generation überliefert, aber niemand weiß, wo ihr Ursprung liegt. Der Wendepunkt in der Beschneidungsfrage kam, als die Religionsführer versicherten, weder im Koran noch in der Bibel stünde etwas von der Beschneidung. Über Nacht sprachen Familien über dieses tabuisierte Thema und wurden aufgeklärt.
Der Begriff der „zwei Welten“ ist unsinnig, die Menschen leben auf einem Planeten. Es gibt eine allgemeine Verantwortlichkeit für die Welt. Die Gesellschaft muss die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich so gut wie möglich abbauen.