Interview

Friederike Schmitz

"Jeder Kühlschrank verändert die Norm"

Geht es nach der Philosophin, sollten wir nicht nur weniger Fleisch und Milchprodukte essen. Sondern die Tierindustrie gleich komplett abschaffen. Aber wie?

Gespräch: Katharina Kropshofer

FALTER:  Nr. 41/2024

Erscheinungsdatum: 09.10.2024

68. Wiener Stadtgespräch mit Friederike Schmitz © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Friederike Schmitz hat in Philosophie mit dem Schwerpunkt Tierethik promoviert und war zuletzt Postdoc an der FU Berlin. Sie engagiert sich in der Tierrechtsbewegung und hat mehrere Bücher über Tierethik geschrieben. „Anders satt: Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt“ ist ihr viertes Buch.

Die Vorteile pflanzlicher Ernährung sind bekannt: Die Tierindustrie beschleunigt die Klimakrise, gefährdet unsere Gesundheit, und immer wieder tauchen Videos auf, die das Leid von Schweinen, Rindern und Hühnern dokumentieren. Es gibt aber auch Versuche, all das zu verbessern: Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) treibt das Ende des Vollspaltenbodens für Schweine an, die EU hat die Käfighaltung von Geflügel zumindest teilweise verboten.

Und trotzdem ist die Intensivhaltung von Tieren weiterhin für 15 Prozent der weltweiten klimaschädlichen Gase verantwortlich, so die Welternährungsorganisation FAO. Pro Kopf konsumierten die Österreicher im Jahr 2023 rund 58 Kilo Fleisch – dreimal so viel wie empfohlen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, es ändert sich aber nichts. Wie ist das möglich? Wie grenzen sich Menschen moralisch davon ab? Die deutsche Tierethikerin und Tierrechtsaktivistin Friederike Schmitz hat ein Buch darüber geschrieben. Und fordert den kompletten Ausstieg aus der Tierindustrie.

FALTER:  Frau Schmitz, Ihre Forderung, die Tierindustrie abzuschaffen, würden viele als radikal bezeichnen. Wieso ist sie der Realität angemessen?

Ich bin der Meinung, dass kleine Veränderungen, also mehr Platz oder kürzere Transporte, die Grundproblematik nicht lösen. Es kommen viele Dinge zusammen: Umwelt- und Klimaschutzargumente, weil die aktuelle Produktion von Fleisch, Milch, Eiern sehr viel mehr Emissionen verursacht als vergleichbare pflanzliche Nahrungsmittel. Umgekehrt ist der Umstieg eine Riesenchance: So werden Flächen frei, die für Artenvielfalt oder Kohlenstoffspeicherung genutzt werden können. Dazu kommt, dass wir in Europa viel mehr Tierprodukte essen, als von Medizinern empfohlen wird. So riskieren wir in den Tierfabriken auch neue Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen springen. Und es ist nicht fair gegenüber den Tieren selbst: Sie werden üblicherweise unter schlimmen Bedingungen ausgebeutet. Dabei müssten wir das nicht machen.

Es gibt Studien, die zeigen, dass auch kleine Maßnahmen viel bringen. Ein Fünftel des konsumierten Rindfleischs global durch alternatives Protein zu ersetzen, könnte etwa die zukünftige Entwaldung halbieren, so das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Wäre es nicht einfacher, sich für weniger Fleischkonsum einzusetzen?

Reduktion ist natürlich gut, dafür setze ich mich auch ein. Aber es wird unterschätzt, wie groß diese Reduktion eigentlich sein müsste. Häufig heißt es: „Wir machen einen Veggie-Day“, und das war’s. Forscher haben aber berechnet, welche Ernährungsweise mit den Belastungsgrenzen unseres Planeten zusammengeht: Dafür dürften wir in Deutschland und Österreich nur noch ein Viertel der Tierprodukte essen, die wir heute verzehren; und nur noch ein Zehntel des roten Fleisches. Der Fleischkonsum geht leicht zurück, das ist gut. Aber es braucht Kräfte, die eine umfassende Transformation noch deutlicher fordern. Und dazu zähle ich mich.

Wann wurde es für Sie persönlich klar, dass es einen kompletten Ausstieg braucht?

Es gab kein Schlüsselerlebnis, aber vegan wurde ich vor 15 Jahren, als ich über Milchproduktion und Hühnerhaltung gelesen habe. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Selbst in Bio-Betrieben können die Tiere nicht ihre Bedürfnisse ausleben, Kühen werden ihre Kälber weggenommen. Sie werden geschlachtet, sobald sie nicht mehr produktiv sind. Das ist ungerecht.

"Eigentlich widerspricht das, was wir als Gesellschaft mit Tieren tun, den Überzeugungen der meisten Menschen"

Friederike Schmitz

FALTER:  Sie erzählen in Ihrem Buch vom „Fleischparadox“: Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir Tierprodukte essen?

Das Fleischparadoxon meint, dass die meisten Menschen im Widerspruch leben: Wir sind alle davon überzeugt, dass wir Tieren nicht unnötig Leid zufügen sollten. Die meisten lehnen zum Beispiel Tierversuche für Kosmetika ab. Aber das Leid in der Nutztierhaltung wird in Kauf genommen. Es gibt Studien, die zeigen, dass sich 97 Prozent der Legehühner mindestens einmal im Leben das Brustbein brechen, auch in der Bio-Haltung. Das liegt an der Züchtung: Ur-Hühner haben vielleicht 20 Eier im Jahr gelegt, um sie auszubrüten. Heutige Hühner legen mehr als 300. Eigentlich widerspricht das, was wir als Gesellschaft mit Tieren tun, also den Überzeugungen der meisten Menschen – eine kognitive Dissonanz, für die es Rechtfertigungsstrategien und Verdrängung braucht.

Ein häufiges Argument ist, dass es „natürlich“ sei, Tiere zu essen, weil ja auch andere Tiere Tiere essen. Zählt das nicht?

In anderen Fällen lassen wir Natürlichkeit auch nicht als Argument gelten: Wir leben in Häusern, führen dieses Interview übers Internet. Und es gibt keinen Grund zu sagen, dass das, was natürlich ist, auch gut ist. Sonst würden wir vielleicht alle Konflikte mit Gewalt lösen, indem sich der Stärkere durchsetzt. Abgesehen davon hat die aktuelle Tierhaltung nichts mit einer „natürlichen“ Beschaffung zu tun. Die wenigsten gehen in den Wald und jagen Tiere, sondern wir halten sie in Fabriken, befruchten sie künstlich und schlachten sie dann an Fließbändern.

Ich habe aufgehört, Fleisch zu essen, nachdem ich „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer gelesen hatte. Sprich: durch Information. Wieso funktioniert das bei manchen, bei anderen nicht? Wie baut sich diese moralische Abgrenzung ab?

Ernährungsverhalten hat viel mit Sozialisierung, Gewohnheit, Identität und kulturellen Normen zu tun. Es gibt zum Beispiel eine Verknüpfung zwischen Fleisch und Männlichkeit, die auch von der Werbung bedient wird. Das führt dazu, dass sich weniger Männer als Frauen vegetarisch oder vegan ernähren. Weil es quasi ein noch größerer Sprung ist, sich von dieser Identität zu trennen. Viel hat aber auch damit zu tun, als wie einfach man den Umstieg empfindet: Wie gut sind die Alternativen? Hat man darauf Zugriff? Wie schmecken die Alternativen? Aktuell sind diese Entscheidungen oft noch schwierig, weil die ganze Umgebung dagegen ausgerichtet ist. So wird das Thema zur Verzichtsdebatte. Pflanzliche Alternativprodukte spielen hier eine Rolle: Erbsenschnitzel oder Sojawurst können gerade für eine Übergangszeit gut sein, weil sie Geschmäcker haben, die man schon kennt.

Die meisten Menschen essen Fleisch, weil die meisten Menschen Fleisch essen. Schafft es nicht auch Zusammenhalt, soziale Kohäsion, wenn das Schnitzel zur Identitätsfrage wird?

Ja, die Transformation bringt sicher Konflikte mit sich, die Gesellschaft wird zeitweise weniger homogen. Aber das passiert ja jetzt schon. Und es ist möglich, eine neue gemeinsame Kultur zu schaffen, die nicht mehr am Schnitzel hängt. Es könnte ja auch das traditionelle Linsengericht sein.

Gibt es so etwas wie ein Recht auf Genuss?

Als Grund-Menschenrecht nicht. Aber natürlich würde ich sagen, es ist ein Ziel, dass alle Menschen sich nicht nur gesund, sondern auch genussvoll ernähren können. Ich glaube aber, dass man sich auch sehr genussvoll pflanzlich ernähren kann.

Es gibt aber noch andere Argumente, die gegen einen kompletten Abschied von tierischen Produkten sprechen: Wenn es etwa keine Beweidung auf Almen gäbe, würden Wiesen verbuschen und viele seltene Arten verlorengehen.

Da ist etwas dran. Grünland ist eine Landschaft, in der Arten vorkommen, die es auf dem Acker oder im Wald nicht gibt. Aber Artenreichtum gibt es meist dann, wenn etwas sehr extensiv bewirtschaftet oder beweidet wird. Die aktuelle Fleisch- und Milchwirtschaft tut aber das Gegenteil. Die Kühe sind oft gar nicht mehr auf der Weide, meist bekommen sie im Stall Grassilage und Kraftfutter serviert. Die intensiven Futterflächen sind vielleicht besser als Ackerland, aber weit weg von artenreichen Wiesen. Wenn man es also ernst meint mit der Artenvielfalt, müsste die Nutzung mindestens stark verringert werden.

Man muss dazusagen, dass die meisten Gegenden heutzutage Kulturlandschaften sind. Ohne die Pflege würden viele Flächen verbuschen oder zu Wäldern werden.

Teilweise macht es aber auch Sinn, wieder andere Ökosysteme entstehen zu lassen, Moore wieder zu vernässen oder Wälder wachsen zu lassen – das speichert massig Kohlenstoff.

Viele Landwirte leben seit Generationen von Tierhaltung. Wieso sollten die bei einem Umstieg mitmachen?

Das ist tatsächlich nicht leicht, sie dafür zu motivieren. Wer jetzt noch Tiere hält, hat meist die Tierzahl in den vergangenen Jahren erhöht, um konkurrenzfähig zu bleiben – das klassische „Wachsen oder Weichen“. In der Tierhaltung steckt auch viel Tradition und Identität. Ein Umstieg funktioniert also meist bei den Leuten, die schon unzufrieden sind, weil es finanziell schwieriger wird oder weil sie sehen, wie die Tiere leiden. Es ist erfolgreicher bei denjenigen, die noch direkt mit ihren Tieren zu tun haben, bei Rinderbauern zum Beispiel. Schweinebauern haben oft Angestellte, bei Hühnern sind es so viele Tiere, da kann man das auch leichter wegschieben. Und dann gibt es Leute, die an gute, tierfreie Alternativen glauben. Es müsste als gesellschaftlich unterstützte Veränderung wahrgenommen werden und nicht als Schuldzuschreibung. Denn viele Landwirte fühlen sich momentan als Sündenböcke für Umweltverschmutzung und Tierquälerei, sie sind im Verteidigungsmodus anstatt offen für Veränderung. Und der Wandel wird auch noch nicht gefördert, die Subventionen gehen in eine andere Richtung.

Sie vergleichen diese Wende mit einer „just transition“ in Kohleabbaugebieten. Also einem gerechten, staatlich gesteuerten Umstieg.

Genau. Kohlearbeitern geht es nicht allein darum, weiter einen Job zu haben, sondern sie wollen ihre Lebensleistung, ihre Identität nicht so angegriffen sehen. Man muss klarmachen: Es muss sich verändern, dafür gibt es Unterstützung und gleichzeitig auch Wertschätzung für das, was die Leute bisher geleistet haben. In der Landwirtschaft stellen sich momentan noch Bauernverbände gegen alles, was in Richtung Wandel geht. Deswegen hatten wir ja auch letzten Winter große Proteste gegen Steueränderungen für Agrardiesel – ein Aufhänger für viel Wut und Unzufriedenheit.

Wenn schon kleine Maßnahmen so schwer umzusetzen sind, wo muss die Politik dann anfangen?

Es sind bisher immer nur kleine Maßnahmen und nie ein Gesamtprogramm. So entsteht das Gefühl: Wir können nichts Großes verändern, weil nicht einmal die kleinen Dinge funktionieren. Ich glaube, wir bräuchten ein Programm auf zehn, 20 Jahre, dann gäbe es nicht so viel Widerstand. Auch der wissenschaftliche Beirat des deutschen Agrarministeriums empfiehlt eine umfassende Transformation. So könnten sich Bauern auch auf etwas einstellen, das sich nicht in drei Jahren wieder ändert.

Was wäre der Kern einer solchen Transformation?

Positive Anreize und klare Ansagen. Anstatt sofort Sachen zu verbieten, sollte man Umstiegsanstrengungen fördern. Die aktuelle Regierung in Deutschland tut das in kleinem Maßstab schon, etwa beim sogenannten „Chancenprogramm Höfe“. Mit 30 Millionen Euro sollen dieses Jahr Tierhalter unterstützt werden, die auf alternative Proteine umsteigen. Noch ist dieses Geld aber nicht geflossen.

Was braucht es auf der Ernährungsseite?

In der Region Nordkarelien in Finnland wurde in den 1970ern ein Arzt beauftragt, dafür zu sorgen, dass die Menschen weniger tierische Fette essen, weil die Quote an Herzerkrankungen in der Region sehr hoch war. Er hat also eine Aufklärungskampagne gestartet, Freiwillige sind zu Leuten nachhause gegangen und haben ihnen andere Arten zu kochen gezeigt – sogenannte Partys für ein langes Leben. Das hat schließlich auch eine Veränderung bei den Tierhaltern angeregt. Über einen Zeitraum von 40 Jahren ersetzten die Finnen Butter durch pflanzliche Fette, die Anzahl der Herzerkrankungen sank um 80 Prozent. Noch sind Fleischgerichte oft billiger, bequemer zu bestellen, gewohnter. Wenn sich eine solche Norm verändert, kann sich die Ernährung schnell wandeln. Wenn das Standardgericht pflanzlich ist, wird es bequemer, das zu bestellen. Oder wenn viele Leute um einen herum sich vegan ernähren, strahlt das aus.

Sie vergleichen die Lobby der Fleisch- und Milchindustrie mit der Tabaklobby. Wie geht man gegen sie vor? Durch ein Werbeverbot, wie es für Zigaretten in der Plakatwerbung gilt?

Das wäre auf jeden Fall ein guter Schritt und aufgrund der Auswirkungen aufs Klima auch gerechtfertigt. Nur schwierig durchzusetzen. Es gab riesige Widerstände der Ernährungsindustrie, als der deutsche Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) das Verbot von Werbungen für Süßigkeiten im Kinderfernsehen durchsetzen wollte. Eine entschlossene Regierung, die Widerstände aushält, könnte trotzdem viel bewirken: Als Rauchen in Restaurants verboten wurde, gab es viel Ablehnung. Heute kann sich das niemand mehr vorstellen. Preispolitik, öffentliche Kantinen, Kampagnen, Werbeverbote – es wäre sehr viel möglich. Nur sehen wir momentan, dass progressive Kräfte, die den Umwelt- und Klimaschutz weiterbringen wollen, es sehr schwer haben. Druck muss also auch aus der Bevölkerung kommen.

Was kann man als Einzelne oder Einzelner machen?

Auch jeder private Kühlschrank verändert die Norm. Man kann also die eigene Ernährung umstellen, aber auch einfordern, dass die Betriebskantine des eigenen Arbeitgebers oder die Schulen oder Kindergärten der eigenen Kinder umgestellt werden.

Sind Sie eigentlich noch in der Tierrechtsbewegung aktiv?

Ich bin noch sehr verbunden mit dem Bündnis „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“, gehe auf Demos, mache Blockadeaktionen, also auch zivilen Ungehorsam. Nur in Tierbetriebe steige ich nicht mehr ein – dafür bin ich zu ängstlich.

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