Gespräch: Wolfgang Zwander
FALTER: Nr. 03/2013
Erscheinungsdatum: 16.01.2013
Ich bin einfach besorgt über die große Ungleichheit, die wir auf der Welt erleben müssen. Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit. Es gibt zwei Hauptgründe, warum man über Ungleichheit besorgt sein kann. Erstens: Ungleichheit hat negative Effekte. Neben der Instabilität in der Wirtschaft hängen auch viele soziale Probleme mit der Ungleichheit zusammen. In ungleicheren Gesellschaften gibt es mehr Krankheitsfälle, mehr übergewichtige Menschen, mehr Verbrechen, mehr illegale Drogen und Kinder schneiden schlechter in der Schule ab.
In einer guten Gesellschaft gibt es keine exzessive Ungleichheit. Das heißt nicht, dass alle gleich sein sollen, aber es sollte keine zu große Ungleichheit geben. In Großbritannien verdienen Vorstandsvorsitzende 200 mal soviel wie der durchschnitlliche Arbeiter und vierhundert mal so viel wie Mindestgehalt-Bezieher. In Großbritannien erhielt das reichste Prozent ein Drittel das Einkommenszuwachs in den letzten Dekade. Da geht es um soziale Gerechtigkeit. Ungleichheit ist also an sich schlecht, das ist der zweite Grund. Für mich ist er sogar noch wichtiger, denn ich bin ein Anti-Ungleichheits-Egalitarist.
Jede Gesellschaft hat ein Idealbild von sozialer Gerechtigkeit, und das ist auf der ganzen Welt damit verbunden, dass zu große Ungleichheit unter den Menschen abgelehnt wird. Das Volk hat einen feinen Sinn für solche Sachen.
Das ist nicht ganz richtig. Ich glaube, dass der Widerstand gegen die wachsende Ungleichheit gerade beginnt. Die Lücke zwischen oben und unten hat ein Ausmaß angenommen, das in der Öffentlichkeit nicht mehr übersehen werden kann. So erklärte zum Beispiel Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), beim Jahrestreffen von IWF und Weltbank, dass die Bekämpfung der globalen Ungleichheit zu einer ihrer drei Topprioritäten in den kommenden Jahren zählt. So eine Aussage habe ich noch nie zuvor von einem IWF-Chef gehört.
Meiner Meinung nach muss man die Frage so stellen: Wann hatten Gesellschaften in der Vergangenheit Erfolg darin, Ungleichheit zu bekämpfen? Einige Antworten darauf können uns nicht gefallen – so ist zum Beispiel die Gleichheit während des Zweiten Weltkriegs angestiegen. Interessanter für uns ist aber die Phase nach 1945. Während der Nachkriegsperiode hat man die Ungleichheit in Europa erfolgreich mit progressiver Besteuerung und dem breiten Aufbau eines Wohlfahrtsstaats bekämpft.
Die Krise der 1920er- und 1930er-Jahre war in den Köpfen der Wähler und Politiker noch präsent. Der politische Mainstream stand 1945 im Zeichen der Stimmung, dass Ungleichheit gefährlich ist.
Sir Tony Atkinson
Gefährlich wird es meiner Meinung nach dann, wenn Ungleichheit die Politik zu bestimmen beginnt. Im Jahr 1895 sagte der US-Senator Mark Hanna, zwei Dinge seien wichtig in der amerikanischen Politik: "Das erste ist Geld. Was das zweite ist, habe ich vergessen." Heute sind seine Worte aktueller denn je. Man muss sich vor Augen halten, dass Barack Obama gegen Mitt Romney nur deshalb gewonnen hat, weil er ein absolut ungewöhnlicher Kandidat war und auf viele kleine Spenden und ein Heer von ehrenamtlichen Unterstützern setzen konnte. Andernfalls hätten der uncharismatische Romney und seine reichen Unterstützer die Wahl einfach gekauft.
Wir müssen einfach wieder eine effektivere Besteuerung einführen und dem Kredit- und Hypothekenunwesen ein Ende bereiten, mit dem sich die Masse ihren Konsum auf Pump finanziert, was am Ende erst nur wieder die Reichen reicher macht und die Armen ins Elend stürzt.
Mit dem von George W. Bush initiierten Krieg gegen den Terror ist viel mehr globale Informationstransparenz entstanden, was etwa dazu führte, dass die Schweiz, wo Reichen beim Steuerbetrug geholfen worden war, zunehmend unter Druck gerät. Wenn es politisch forciert würde, könnte hier einiges erreicht werden. Mit dem von George W. Bush initiierten Krieg gegen den Terror ist viel mehr globale Informationstransparenz entstanden, was etwa dazu führte, dass die Schweiz, wo Reichen beim Steuerbetrug geholfen worden war, zunehmend unter Druck gerät. Wenn es politisch forciert würde, könnte hier einiges erreicht werden.
40 Prozent wie in Großbritannien oder gar noch weniger, wie in den USA, sind viel zu wenig. Die höchste Einkommensklasse sollte an die 50 Prozent zahlen.
Das ist vielleicht ein Grund, warum es Österreich in der Krise viel besser ergeht als Großbritannien.
Armut wirkt sich in reichen Gesellschaften so aus, dass es Armen nicht zur Gänze möglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein Beispiel: Heute ist es für Kinder wichtig, einen Computer zu haben, sonst haben sie Probleme in der Schule. Arme Erwachsene haben wiederum Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Das unterscheidet die Gruppe der Armen von anderen Teilen der Gesellschaft. Das Argument, dass Ungleichheit gut für die Motivation von armen Menschen sei, weil sie an Reichen sehen könnten, was man erreichen könne, stimmt nicht. Denn erfolgreiche Leute hatten in der Vergangenheit meist andere Antriebe als nur Geld.
Die pessimistischen Ausblicke, dass die Welt immer ungerechter wird, teile ich nicht ganz. Mit der industriellen Revolution begann sich die Schere zwischen Reich und Arm zu öffnen. Jetzt sehen wir, dass ärmere Länder aufholen. In Ländern wie Chile oder Brasilien, wo die Ungleichheit historisch hoch war, wird sie reduziert – von einem hohen Niveau ausgehend. Nicht alle Zeichen sind also negativ.
In der Vergangenheit wurde in den OECD-Staaten die Ungleichheit bedeutend reduziert, im 20. Jahrhundert sank in den meisten Ländern der Anteil der Höchstverdiener über lange Zeit. Das spiegelte den Einfluss der progressiven Einkommens- und Reichensteuer wider. Es spiegelte ebenso die Senkung von Armut durch sozialen Schutz und den Wohlfahrtsstaat wider. Diese Politik hatte einen Effekt. Ungleichheit ist also kein natürliches Phänomen, über das wir keine Kontrolle haben. Wir haben es in unserer Hand; wenn wir Ungleichheit bekämpfen wollen, können wir das tun. Aber derzeit wiederholen wir die Fehler der Politik aus den frühen 1930er-Jahren.