Interview

Sir Tony Atkinson

Der britische Ökonom erforscht die Ungleichheit, um sie zu bekämpfen

Gespräch: Wolfgang Zwander

FALTER:  Nr. 03/2013

Erscheinungsdatum: 16.01.2013

23. Wiener Stadtgespräch mit Sir Anthony Atkinson © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Anthony Atkinson ist Senior Research Fellow am Nuffield College in Oxford, dessen Rektor er von 1994 bis 2005 war. Atkinson, der zum Ritter geschlagen wurde und 18 Ehrendoktorate erhielt, ist Centennial Professor an der London School of Economics und war Präsident der britischen Royal Economic Society, der Econometric Society, der European Economic Association, und der International Economic Association. Er arbeitete als Berater in hochrangigen britischen Kommissionen sowie für den französischen Premier und den EU-Ministerrat. Das Atkinson-Maß für Ungleichheit wurde von ihm entwickelt.

Sir Anthony Atkinson wollte eigentlich Mathematiker werden. 1963 wurde er jedoch in Hamburg, wo er als Hilfspfleger jobbte, mit Armut und Elend konfrontiert. Daraufhin widmete er sein Leben der Erforschung von sozialer Ungleichheit und inskribierte Soziologie und Wirtschaft in Oxford. Für seine wissenschaftlichen Leistungen wurde Atkinson vielfach ausgezeichnet. Er ist 18-facher Ehrendoktor.
FALTER:  Herr Atkinson, Sie haben Ihr ganzes Berufsleben der Erforschung von Armut und Reichtum, von sozialer Gleichheit und Ungleichheit gewidmet. Was fesselt Sie so sehr an dem Thema?

Ich bin einfach besorgt über die große Ungleichheit, die wir auf der Welt erleben müssen. Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit. Es gibt zwei Hauptgründe, warum man über Ungleichheit besorgt sein kann. Erstens: Ungleichheit hat negative Effekte. Neben der Instabilität in der Wirtschaft hängen auch viele soziale Probleme mit der Ungleichheit zusammen. In ungleicheren Gesellschaften gibt es mehr Krankheitsfälle, mehr übergewichtige Menschen, mehr Verbrechen, mehr illegale Drogen und Kinder schneiden schlechter in der Schule ab.

Und der zweite Grund?

In einer guten Gesellschaft gibt es keine exzessive Ungleichheit. Das heißt nicht, dass alle gleich sein sollen, aber es sollte keine zu große Ungleichheit geben. In Großbritannien verdienen Vorstandsvorsitzende 200 mal soviel wie der durchschnitlliche Arbeiter und vierhundert mal so viel wie Mindestgehalt-Bezieher. In Großbritannien erhielt das reichste Prozent ein Drittel das Einkommenszuwachs in den letzten Dekade. Da geht es um soziale Gerechtigkeit. Ungleichheit ist also an sich schlecht, das ist der zweite Grund. Für mich ist er sogar noch wichtiger, denn ich bin ein Anti-Ungleichheits-Egalitarist.

Sie wären also auch gegen Ungleichheit, wenn sie keine negativen Konsequenzen für die Gesellschaft hätte?

Jede Gesellschaft hat ein Idealbild von sozialer Gerechtigkeit, und das ist auf der ganzen Welt damit verbunden, dass zu große Ungleichheit unter den Menschen abgelehnt wird. Das Volk hat einen feinen Sinn für solche Sachen.

Seit Jahren erleben wir nun, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden – die Schere geht auseinander. Trotzdem scheint die große Mehrheit das eher resignierend hinzunehmen, anstatt sich aufzulehnen. Warum?

Das ist nicht ganz richtig. Ich glaube, dass der Widerstand gegen die wachsende Ungleichheit gerade beginnt. Die Lücke zwischen oben und unten hat ein Ausmaß angenommen, das in der Öffentlichkeit nicht mehr übersehen werden kann. So erklärte zum Beispiel Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), beim Jahrestreffen von IWF und Weltbank, dass die Bekämpfung der globalen Ungleichheit zu einer ihrer drei Topprioritäten in den kommenden Jahren zählt. So eine Aussage habe ich noch nie zuvor von einem IWF-Chef gehört.

Was kann eine Gesellschaft tun, um mehr Gleichheit zu schaffen?

Meiner Meinung nach muss man die Frage so stellen: Wann hatten Gesellschaften in der Vergangenheit Erfolg darin, Ungleichheit zu bekämpfen? Einige Antworten darauf können uns nicht gefallen – so ist zum Beispiel die Gleichheit während des Zweiten Weltkriegs angestiegen. Interessanter für uns ist aber die Phase nach 1945. Während der Nachkriegsperiode hat man die Ungleichheit in Europa erfolgreich mit progressiver Besteuerung und dem breiten Aufbau eines Wohlfahrtsstaats bekämpft.

Warum hat das damals funktioniert?

Die Krise der 1920er- und 1930er-Jahre war in den Köpfen der Wähler und Politiker noch präsent. Der politische Mainstream stand 1945 im Zeichen der Stimmung, dass Ungleichheit gefährlich ist.

"Gefährlich wird es meiner Meinung nach dann, wenn Ungleichheit die Politik zu bestimmen beginnt" 

Sir Tony Atkinson

FALTER:  Ab welchem Punkt wird Ungleichheit zur Gefahr für das politische System?

Gefährlich wird es meiner Meinung nach dann, wenn Ungleichheit die Politik zu bestimmen beginnt. Im Jahr 1895 sagte der US-Senator Mark Hanna, zwei Dinge seien wichtig in der amerikanischen Politik: "Das erste ist Geld. Was das zweite ist, habe ich vergessen." Heute sind seine Worte aktueller denn je. Man muss sich vor Augen halten, dass Barack Obama gegen Mitt Romney nur deshalb gewonnen hat, weil er ein absolut ungewöhnlicher Kandidat war und auf viele kleine Spenden und ein Heer von ehrenamtlichen Unterstützern setzen konnte. Andernfalls hätten der uncharismatische Romney und seine reichen Unterstützer die Wahl einfach gekauft.

Wie ließen sich solche Entwicklungen zurückdrängen?

Wir müssen einfach wieder eine effektivere Besteuerung einführen und dem Kredit- und Hypothekenunwesen ein Ende bereiten, mit dem sich die Masse ihren Konsum auf Pump finanziert, was am Ende erst nur wieder die Reichen reicher macht und die Armen ins Elend stürzt.

Sie sagen das so leicht, eine "effektive Besteuerung einführen". Gleicht das Kapital nicht einem scheuen Reh, das vor seinen Jägern in Richtung Steuerparadies flüchtet und sich dort nicht fangen lässt?

Mit dem von George W. Bush initiierten Krieg gegen den Terror ist viel mehr globale Informationstransparenz entstanden, was etwa dazu führte, dass die Schweiz, wo Reichen beim Steuerbetrug geholfen worden war, zunehmend unter Druck gerät. Wenn es politisch forciert würde, könnte hier einiges erreicht werden. Mit dem von George W. Bush initiierten Krieg gegen den Terror ist viel mehr globale Informationstransparenz entstanden, was etwa dazu führte, dass die Schweiz, wo Reichen beim Steuerbetrug geholfen worden war, zunehmend unter Druck gerät. Wenn es politisch forciert würde, könnte hier einiges erreicht werden.

Wie viel Steuern sollte Ihrer Meinung nach die höchste Einkommensklasse in einer Gesellschaft zahlen?

40 Prozent wie in Großbritannien oder gar noch weniger, wie in den USA, sind viel zu wenig. Die höchste Einkommensklasse sollte an die 50 Prozent zahlen.

In Österreich zahlt man für jährliches Einkommen, das über 60.000 Euro liegt, 50 Prozent Steuern.

Das ist vielleicht ein Grund, warum es Österreich in der Krise viel besser ergeht als Großbritannien.

Die Thesen

Punkt 1

Armut schließt gesellschaftlich aus

Armut wirkt sich in reichen Gesellschaften so aus, dass es Armen nicht zur Gänze möglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein Beispiel: Heute ist es für Kinder wichtig, einen Computer zu haben, sonst haben sie Probleme in der Schule. Arme Erwachsene haben wiederum Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Das unterscheidet die Gruppe der Armen von anderen Teilen der Gesellschaft. Das Argument, dass Ungleichheit gut für die Motivation von armen Menschen sei, weil sie an Reichen sehen könnten, was man erreichen könne, stimmt nicht. Denn erfolgreiche Leute hatten in der Vergangenheit meist andere Antriebe als nur Geld.

Punkt 1

Die Welt wird nicht überall ungerechter  

Die pessimistischen Ausblicke, dass die Welt immer ungerechter wird, teile ich nicht ganz. Mit der industriellen Revolution begann sich die Schere zwischen Reich und Arm zu öffnen. Jetzt sehen wir, dass ärmere Länder aufholen. In Ländern wie Chile oder Brasilien, wo die Ungleichheit historisch hoch war, wird sie reduziert – von einem hohen Niveau ausgehend. Nicht alle Zeichen sind also negativ.

Punkt 3

Wir können die Welt gerechter machen

In der Vergangenheit wurde in den OECD-Staaten die Ungleichheit bedeutend reduziert, im 20. Jahrhundert sank in den meisten Ländern der Anteil der Höchstverdiener über lange Zeit. Das spiegelte den Einfluss der progressiven Einkommens- und Reichensteuer wider. Es spiegelte ebenso die Senkung von Armut durch sozialen Schutz und den Wohlfahrtsstaat wider. Diese Politik hatte einen Effekt. Ungleichheit ist also kein natürliches Phänomen, über das wir keine Kontrolle haben. Wir haben es in unserer Hand; wenn wir Ungleichheit bekämpfen wollen, können wir das tun. Aber derzeit wiederholen wir die Fehler der Politik aus den frühen 1930er-Jahren.

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