Interview

Daniel Cohn-Bendit

Der "Monsieur Europe" der Grünen über die Wahltriumphe seiner Partei und die Notwendigkeit eines Krieges

Gespräch: Robert Misik

FALTER:  Nr. 14/2011

Erscheinungsdatum: 06.04.2011

6. Wiener Stadtgespräch mit Daniel Cohn-Bendit © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Daniel Cohn-Bendit ist ein deutsch-französischer Grün-Politiker und Publizist. Er ist Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er die grüne Fraktion als Co-Vorsitzender leitet. Während der Unruhen im Mai 1968 war er Sprecher der Pariser Studenten. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich spielte er in den 1970ern in der deutschen Sponti-Szene eine führende politische Rolle, die mit Hausbesetzungen, Straßenkämpfen und der Agitation in Betrieben die soziale Revolution erprobte. Cohn-Bendit war Herausgeber des Frankfurter Stadtmagazins Pflasterstrand, dem Sprachrohr der linken Sponti-Szene.

Die Grünen gewinnen Wahlen – in Deutschland. Was bedeutet das für die Politik? Wird sie grüner? Wie wird sich die Welt nach Fukushima ändern? Und wieso ist der Einsatz militärischer Gewalt in Afrika für einen Grünen zulässig? Der deutsch-französische EU-Abgeordnete, Fernsehmoderator und Publizist Daniel Cohn-Bendit zählt zu den geistigen Anführern der europäischen Grünbewegung. Ein Gespräch über Macht, grüne Mythen und militärische Einsätze im Namen der Menschenrechte.
FALTER:  Die Grünen erreichen in Deutschland historische Höchstwerte – stimmt Sie das euphorisch?

Die Grünen schon, mich nicht. Denn ich empfinde es schon auch als ernüchternd, dass es einer solchen Katastrophe wie der von Fukushima bedurft hat, damit so ein Durchbruch möglich wurde. Klar, die Grünen sind jetzt seit Jahren eine stabile Kraft, und schon vorher waren die Umfragewerte gut. Aber als ­rational denkender Mensch willst du doch, dass ­deine Argumente überzeugen, weil sie eben die richtigen Argumente sind. Aber sie ­kommen nur an, wenn sie getragen werden von ­einem solchen Entsetzen, einem solchen Erschrecken.

Nun brachte Fukushima sicher die entscheidenden Prozente, aber die Grünen hätten auch sonst gut abgeschnitten.

Sicherlich, insbesondere in Baden-Württemberg, wegen der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Doch ich muss auch da sagen: Ich finde den Bahnhof in Stuttgart falsch – aber ich könnte wiederum auch nicht ausflippen, wenn der Bahnhof doch gebaut würde. Ein Bahnhof ist doch kein Atomendlager! Und dennoch gab es darüber eine Emotionalisierung, eine Radikalisierung der Emotionen, die selbst etwas Irrationales hat. Und das macht mich schon auch nachdenklich, auch wenn wir davon profitiert haben.

Es waren also irrationale Stimmungen, die diesen Wahlsieg ermöglicht haben?

Das macht die Umsetzung in Politik schwierig. Wie gut immer Winfried Kretschmann sein mag, auch er kann nicht zaubern. Dieser Umstieg, diese energiepolitische Transformation, diese industrielle Umrüstung, die wir wollen – das ist ein langwieriger Prozess. Und ein solcher Prozess dauert viel, viel länger als die Halbwertszeit solcher Emotionen. Und das kann zu einem politischen Problem werden.

Nun gut, gleichzeitig …

Aber ja! Ich freue mich doch eh, dass wir gewonnen haben. Aber ich springe jetzt nicht gleich vor Euphorie an die Decke.

… gleichzeitig ist auch klar: Vor zehn, 20 Jahren wären die Grünen auch bei einem Super-GAU nicht bei 25 Prozent gelandet, es wäre undenkbar gewesen, dass sie die Sozialdemokraten überholen, wie das jetzt in Baden-Württemberg, aber auch in Frankfurt geschehen ist. Was hat sich da verändert?

Die Grünen sind in den Fragen der Energiepolitik und der Ökologie bei den Menschen die glaubwürdigste Partei. Das ist ihr Profil. Und jetzt plötzlich wird das in der Realität zur wahlentscheidenden Frage. Das hat die Grünen beflügelt. In der Glaubwürdigkeitsskala sind sie mittlerweile an der Spitze.

Glaubwürdigkeit kann viel heißen: Dass man den Grünen glaubt, dass sie ernst meinen, was sie sagen – oder dass man ihnen abnimmt, dass sie realistisch ihr Programm umsetzen können, das auch gut ist.

Sagen wir so: Der Teil, der sie wählt, findet, dass sie ein Konzept haben, das in die richtige Richtung geht. Und der Teil, der uns nicht wählt, hält uns auch nicht für verlogene Falotten.

Aber gibt es nicht noch immer diese Haltung bei den Menschen: „Ja, wir wissen, wir stecken in einer Sackgasse mit unserem Energiehunger – aber wir kommen aus der auch nicht raus“?

Ja und nein. Was die Atomenergie betrifft, sind heute ganz sicher die meisten Bürger Deutschlands der Meinung, dass das eine falsche Form der Energiegewinnung ist, dass man diese aufgeben soll und dass das auch ohne größere Probleme ginge. Das ist gesellschaftlicher Konsens. In dieser Frage haben die Grünen die Hegemonie, die Gesellschaft ist überzeugt – in Deutschland jedenfalls. Dasselbe gilt für die Energiewende, hin zu regenerativen Energieformen, dass die möglich ist. Etwas anderes ist die Frage, wie man den Klimawandel aufhält, wie wir unsere Fabriken umrüsten, vor allem der Ausstieg aus der Automobilität, wie wir aus dem Öl rauskommen – da hoffen die Leute auf eine technologische Lösung, die irgendwann kommt, aber sie halten das im Augenblick für eher utopisch.

"Ausstieg aus der Atomenergie und all den anderen Energieformen der 50er-Jahre heißt auch Einstieg – Einstieg in eine technologische Modernisierung der Gesellschaft" 

Daniel Cohn-Bendit

FALTER:  Sollten die Grünen einen Techno-Optimismus verkörpern, einen Fortschrittsgeist, wie es ihn seit den 60er-Jahren nicht mehr gegeben hat? So in dem Sinn: Wir bauen ein neues, effizientes Energiesystem mit neuen Arten von Kraftwerken, mit Windrädern, Solarenergie und „smarten“ Steuerungsanlagen, die aus jedem Haus eine Art Raumschiff Enterprise machen.

Ausstieg aus der Atomenergie und all den anderen Energieformen der 50er-Jahre heißt auch Einstieg – Einstieg in eine technologische Modernisierung der Gesellschaft. Beispiel Passivhäuser, das sind Häuser auf hohem technologischem Niveau. Man ist nicht glaubwürdig, wenn man nur sagt, wir müssen uns einschränken, wir müssen weniger Strom konsumieren. Man muss sagen: Primär müssen wir besser werden. Und dafür muss man mit den modernsten Möglichkeiten arbeiten. Man braucht Windräder, neue Stromnetze, große Solarfelder in Nordafrika, man braucht eine physikalische Revolution bei den Speicherkraftwerken. Früher hat man Milliarden in die Atomindustrie gepumpt, diese Gelder muss man in Zukunftsinvestitionen leiten.

Was bedeutet es machtpolitisch, dass die Grünen die Sozialdemokraten erstmals in einem Bundesland überholt haben und den Ministerpräsidenten stellen werden?

So ein Wahlergebnis hat, wenn man so will, neben der vordergründigen Botschaft noch eine kleingedruckte Botschaft, die man lesen können muss. Und die lautet: Es kann sein, es ist möglich, wenngleich auch nicht wahrscheinlich, aber möglich!, dass in zehn, 20 Jahren eine Grüne, möglicherweise auch türkischer Herkunft, Bundeskanzlerin werden kann. Bisher hätte man gesagt: theoretisch möglich, praktisch vollkommen ausgeschlossen. Das kann man heute nicht mehr sagen. Man wird plötzlich irgendwie anders angesehen: von den Wählern, von der politischen Konkurrenz, von den professionellen Beobachtern, Journalisten etc.

Lassen Sie uns noch über Libyen reden: Sie sind ja deutscher Grüner, aber zuletzt als Spitzenkandidat der französischen Grünen ins Europaparlament gekommen. Jetzt gibt es in Frankreich im linksliberalen Milieu eine starke Stimmung, möglicherweise sogar einen Konsens, dass die Militärintervention gegen Gaddafi richtig ist, während in Deutschland eine pazifistische Grundstimmung herrscht.

Ich meine, das war, in jenem Moment, in dem sie entschieden wurde, eine absolut notwendige Intervention. Ob sie am Ende richtig oder falsch gewesen sein wird, im Sinne von erfolgreich oder nicht, das wird man sehen.

Aber kann man von der Frage, ob die internationale Militäraktion gute Resultate zeitigt, wirklich absehen? Gut gemeint reicht ja wohl nicht.

Natürlich nicht, so war das auch nicht gemeint. Aber in dem Moment, in dem die Militäraktion beschlossen wurde, ging es um etwas Unmittelbareres: nämlich darum, ein Blutbad in Bengasi zu verhindern. Und dafür war sie notwendig.

Glauben Sie, dass daraus ein besseres Libyen entsteht?

Das ist offen. Aber die libysche Revolte hat ein Befreiungspotenzial. Und eines soll man auch nicht übersehen: Diese Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, mit militärischer Gewalt den Vormarsch Gaddafis zu stoppen, ist eine Wasserscheide im Völkerrecht. Erstmals ist die responsibility to protect, also die Verantwortung der Staatengemeinschaft zum Schutz der Zivilbevölkerung, praktisch angewendet worden. Und das ist ein Fortschritt.

Und doch kann man nie ohne schlechtes Bauchgefühl sagen: Ich bin fürs Bombardieren!

Nun, ich denke doch, dass es den technisch avancierten westlichen Armeen möglich ist, in einem Konflikt, in dem Gaddafis Armee auf breiten Straßen und in der Wüste vorstößt, nur militärische Ziele ins Visier zu nehmen. Da habe ich nicht wirklich ein Problem damit.

Die Soldaten in den Panzern sind hinterher auch verkohlte Leichen.

Aber diese Soldaten hätten Bengasi in Schutt und Asche gelegt. Entschuldigen Sie, das ist genauso, als wenn man seinerzeit gesagt hätte, die SS-Leute sind ja auch Menschen.

… und wie bei diesen gilt auch für Muammar al-Gaddafis Streitkräfte: Gutes Zureden bringt da nichts?

Natürlich erschrickt man auch in solchen Fällen, wenn man auf einmal militärische Gewalt einsetzen muss. Aber es gibt Situationen, in denen gibt es keine bessere Möglichkeit.

Die Thesen

Punkt 1

Es braucht die EU, um global mitbestimmen zu können

Europa muss sich entscheiden, welche Rolle es künftig in der Welt spielen will. Die Frage des Klimawandels kann nicht national gelöst werden. Auch wenn die Schweiz die tollste Bahnverbindung hat, ist sie zu klein, um die großen Probleme lösen zu können. Europa ist die Mindestgröße, in der man eine Klima-, Energie- und Verkehrspolitik machen kann, die uns wirklich weiterbringt. In dieser Größe können wir bestimmte Positionen in einem globalen Zusammenhang entscheidend vertreten. Wir können so Bündnisse schließen, damit sich das Klima global ändert. Um das zu erreichen, braucht man eine handlungsfähige Union.

Punkt 1

Ein Nein zum EU-Beitritt der Türkei ist ein Nein gegen Muslime

Wenn sich die Türkei verändert, bin ich für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die aufgeklärten Türken wollen in Richtung EU gehen, um den türkischen Nationalismus zu zivilisieren – so wurde ja auch der deutsche Nationalismus zivilisiert. Die nötigen Veränderungen werden von jenen Türken vorangetrieben, die zur EU wollen. Nimmt man ihnen diese Perspektive, muss sich die türkische Gesellschaft woandershin orientieren. Die muslimische Welt sieht die Türken nicht als Araber, aber wenn die EU jetzt Nein zur Türkei sagt, wird die Mehrheit der Türken glauben, das Nein richte sich gegen Muslime. Wer das will, muss ein bisschen irre sein.

Punkt 3

Vergesst 1968!

Vergesst 68! Es ist vorbei, die Welt ist eine andere. Wir haben kulturell und sozial gewonnen. Es gibt heute eine Möglichkeit der Freiheit, die man vor 50 Jahren nicht gekannt hat. Dafür haben wir heute eine ganz andere Welt mit ganz anderen Problemen. Damals kannten wir keine Arbeitslosigkeit, es gab kein Aids, 1968 war die letzte Revolte in einer Zeit, in der man von CO2 keine Ahnung hatte. Wir waren die erste globale Generation. Heute ist Globalisierung etwas, was verängstigt.

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