Gespräch: Robert Misik
FALTER: Nr. 14/2011
Erscheinungsdatum: 06.04.2011
Die Grünen schon, mich nicht. Denn ich empfinde es schon auch als ernüchternd, dass es einer solchen Katastrophe wie der von Fukushima bedurft hat, damit so ein Durchbruch möglich wurde. Klar, die Grünen sind jetzt seit Jahren eine stabile Kraft, und schon vorher waren die Umfragewerte gut. Aber als rational denkender Mensch willst du doch, dass deine Argumente überzeugen, weil sie eben die richtigen Argumente sind. Aber sie kommen nur an, wenn sie getragen werden von einem solchen Entsetzen, einem solchen Erschrecken.
Sicherlich, insbesondere in Baden-Württemberg, wegen der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Doch ich muss auch da sagen: Ich finde den Bahnhof in Stuttgart falsch – aber ich könnte wiederum auch nicht ausflippen, wenn der Bahnhof doch gebaut würde. Ein Bahnhof ist doch kein Atomendlager! Und dennoch gab es darüber eine Emotionalisierung, eine Radikalisierung der Emotionen, die selbst etwas Irrationales hat. Und das macht mich schon auch nachdenklich, auch wenn wir davon profitiert haben.
Das macht die Umsetzung in Politik schwierig. Wie gut immer Winfried Kretschmann sein mag, auch er kann nicht zaubern. Dieser Umstieg, diese energiepolitische Transformation, diese industrielle Umrüstung, die wir wollen – das ist ein langwieriger Prozess. Und ein solcher Prozess dauert viel, viel länger als die Halbwertszeit solcher Emotionen. Und das kann zu einem politischen Problem werden.
Aber ja! Ich freue mich doch eh, dass wir gewonnen haben. Aber ich springe jetzt nicht gleich vor Euphorie an die Decke.
Die Grünen sind in den Fragen der Energiepolitik und der Ökologie bei den Menschen die glaubwürdigste Partei. Das ist ihr Profil. Und jetzt plötzlich wird das in der Realität zur wahlentscheidenden Frage. Das hat die Grünen beflügelt. In der Glaubwürdigkeitsskala sind sie mittlerweile an der Spitze.
Sagen wir so: Der Teil, der sie wählt, findet, dass sie ein Konzept haben, das in die richtige Richtung geht. Und der Teil, der uns nicht wählt, hält uns auch nicht für verlogene Falotten.
Ja und nein. Was die Atomenergie betrifft, sind heute ganz sicher die meisten Bürger Deutschlands der Meinung, dass das eine falsche Form der Energiegewinnung ist, dass man diese aufgeben soll und dass das auch ohne größere Probleme ginge. Das ist gesellschaftlicher Konsens. In dieser Frage haben die Grünen die Hegemonie, die Gesellschaft ist überzeugt – in Deutschland jedenfalls. Dasselbe gilt für die Energiewende, hin zu regenerativen Energieformen, dass die möglich ist. Etwas anderes ist die Frage, wie man den Klimawandel aufhält, wie wir unsere Fabriken umrüsten, vor allem der Ausstieg aus der Automobilität, wie wir aus dem Öl rauskommen – da hoffen die Leute auf eine technologische Lösung, die irgendwann kommt, aber sie halten das im Augenblick für eher utopisch.
Daniel Cohn-Bendit
Ausstieg aus der Atomenergie und all den anderen Energieformen der 50er-Jahre heißt auch Einstieg – Einstieg in eine technologische Modernisierung der Gesellschaft. Beispiel Passivhäuser, das sind Häuser auf hohem technologischem Niveau. Man ist nicht glaubwürdig, wenn man nur sagt, wir müssen uns einschränken, wir müssen weniger Strom konsumieren. Man muss sagen: Primär müssen wir besser werden. Und dafür muss man mit den modernsten Möglichkeiten arbeiten. Man braucht Windräder, neue Stromnetze, große Solarfelder in Nordafrika, man braucht eine physikalische Revolution bei den Speicherkraftwerken. Früher hat man Milliarden in die Atomindustrie gepumpt, diese Gelder muss man in Zukunftsinvestitionen leiten.
So ein Wahlergebnis hat, wenn man so will, neben der vordergründigen Botschaft noch eine kleingedruckte Botschaft, die man lesen können muss. Und die lautet: Es kann sein, es ist möglich, wenngleich auch nicht wahrscheinlich, aber möglich!, dass in zehn, 20 Jahren eine Grüne, möglicherweise auch türkischer Herkunft, Bundeskanzlerin werden kann. Bisher hätte man gesagt: theoretisch möglich, praktisch vollkommen ausgeschlossen. Das kann man heute nicht mehr sagen. Man wird plötzlich irgendwie anders angesehen: von den Wählern, von der politischen Konkurrenz, von den professionellen Beobachtern, Journalisten etc.
Ich meine, das war, in jenem Moment, in dem sie entschieden wurde, eine absolut notwendige Intervention. Ob sie am Ende richtig oder falsch gewesen sein wird, im Sinne von erfolgreich oder nicht, das wird man sehen.
Natürlich nicht, so war das auch nicht gemeint. Aber in dem Moment, in dem die Militäraktion beschlossen wurde, ging es um etwas Unmittelbareres: nämlich darum, ein Blutbad in Bengasi zu verhindern. Und dafür war sie notwendig.
Das ist offen. Aber die libysche Revolte hat ein Befreiungspotenzial. Und eines soll man auch nicht übersehen: Diese Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, mit militärischer Gewalt den Vormarsch Gaddafis zu stoppen, ist eine Wasserscheide im Völkerrecht. Erstmals ist die responsibility to protect, also die Verantwortung der Staatengemeinschaft zum Schutz der Zivilbevölkerung, praktisch angewendet worden. Und das ist ein Fortschritt.
Nun, ich denke doch, dass es den technisch avancierten westlichen Armeen möglich ist, in einem Konflikt, in dem Gaddafis Armee auf breiten Straßen und in der Wüste vorstößt, nur militärische Ziele ins Visier zu nehmen. Da habe ich nicht wirklich ein Problem damit.
Aber diese Soldaten hätten Bengasi in Schutt und Asche gelegt. Entschuldigen Sie, das ist genauso, als wenn man seinerzeit gesagt hätte, die SS-Leute sind ja auch Menschen.
Natürlich erschrickt man auch in solchen Fällen, wenn man auf einmal militärische Gewalt einsetzen muss. Aber es gibt Situationen, in denen gibt es keine bessere Möglichkeit.
Europa muss sich entscheiden, welche Rolle es künftig in der Welt spielen will. Die Frage des Klimawandels kann nicht national gelöst werden. Auch wenn die Schweiz die tollste Bahnverbindung hat, ist sie zu klein, um die großen Probleme lösen zu können. Europa ist die Mindestgröße, in der man eine Klima-, Energie- und Verkehrspolitik machen kann, die uns wirklich weiterbringt. In dieser Größe können wir bestimmte Positionen in einem globalen Zusammenhang entscheidend vertreten. Wir können so Bündnisse schließen, damit sich das Klima global ändert. Um das zu erreichen, braucht man eine handlungsfähige Union.
Wenn sich die Türkei verändert, bin ich für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die aufgeklärten Türken wollen in Richtung EU gehen, um den türkischen Nationalismus zu zivilisieren – so wurde ja auch der deutsche Nationalismus zivilisiert. Die nötigen Veränderungen werden von jenen Türken vorangetrieben, die zur EU wollen. Nimmt man ihnen diese Perspektive, muss sich die türkische Gesellschaft woandershin orientieren. Die muslimische Welt sieht die Türken nicht als Araber, aber wenn die EU jetzt Nein zur Türkei sagt, wird die Mehrheit der Türken glauben, das Nein richte sich gegen Muslime. Wer das will, muss ein bisschen irre sein.
Vergesst 68! Es ist vorbei, die Welt ist eine andere. Wir haben kulturell und sozial gewonnen. Es gibt heute eine Möglichkeit der Freiheit, die man vor 50 Jahren nicht gekannt hat. Dafür haben wir heute eine ganz andere Welt mit ganz anderen Problemen. Damals kannten wir keine Arbeitslosigkeit, es gab kein Aids, 1968 war die letzte Revolte in einer Zeit, in der man von CO2 keine Ahnung hatte. Wir waren die erste globale Generation. Heute ist Globalisierung etwas, was verängstigt.