Interview

Frank Schirrmacher

Der FAZ-Herausgeber über Computer und die Spieltheorie, die unser Leben verformen

Gespräch: Armin Thurnher

FALTER:  Nr. 15/2013

Erscheinungsdatum: 09.04.2023

24. Wiener Stadtgespräch mit Frank Schirrmacher © Christian Fischer
© Christian Fischer
Frank Schirrmacher

Frank Schirrmacher, 54, ist Journalist, Buchautor und seit 1994 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der jüngste bisher. Er schrieb Bestseller wie Das "Methusalem-Komplott" und "Payback". Schirrmacher ist einer der mächtigsten Journalisten Deutschlands und auch einer der umstrittensten. Sein neues Buch "Ego" hat eine starke These: Der Kalte Krieg sei heute unter digitalen Vorzeichen in unsere Herzen eingewandert. Großes Aufsehen erregte er auch mit seinem Artikel "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat". Für seine Arbeit wurde Schirrmacher vielfach ausgezeichnet, etwa als "Journalist des Jahres" mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache und dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.

Frank Schirrmachers neues Buch "Ego" hat eine starke These: Nach dem Ende des Kalten Kriegs arbeitslos gewordene Physiker brachten ihre Spieltheorie an die Wall Street. Die menschliche Raubtier­identität wandert als Algorithmus, als mathematische Problemlösung in den Computer und formt so das Leben der Menschen, die nur noch digitales ­Spielmaterial darstellen. Das schafft nicht nur viel Geld für wenige, es bedroht unsere Autonomie und die Demokratie.
FALTER:  Herr Schirrmacher, Sie
schrieben, Sie begännen zu glauben, die Linke habe recht. Sind Sie noch ein Konservativer?

Ich habe mich immer als Bürger gesehen, durch Kunst und Kultur definiert, als das moderne europäische Subjekt. Bürgertum definiert sich immer durch das Interesse, dass mehr Bürger von unten nachwachsen. Aufstiegsmöglichkeit – das war der Sinn von Bürgertum. Die Lehre der "Ökonomie des Geistes" lautet: Du kannst alles werden, alles steht dir offen. Klingt schön. Aber was geschieht, wenn man es trotz aller angeblichen Chancen nicht schafft? "Es funktioniert nicht", sagt die Journalistin Barbara Ehrenreich, die sich in so ein Coaching begeben hat. "Du meinst: Es funktioniert nicht bei dir", sagt der Trainer. Das ist dann wirklich der Moment der absoluten Einsamkeit.

Sie haben mit Ihrem Buch "Ego" einen Nerv getroffen. Die Thesen Ihrer Bücher finden oft den richtigen Zeitpunkt.

Wenn das so leicht wäre. Eine These, ein Vorabdruck, und schon gibt es eine Debatte. Aber so ist es nicht. Das Ganze ist intuitiv und wie alles Schreiben auch immer etwas vermessen. Denn ich schließe von mir auf die Gesellschaft. Im Fall der Eurokrise stelle ich fest: Wenn ein Mann wie Alan Greenspan, einst im Egoismus erzogen von Ayn Rand, vor dem US-Kongress erklärt: "Das ganze Gedankengebäude ist zusammengebrochen" – und sich dabei ausdrücklich auf Nobelpreisträger und Computer bezieht –, dann kann man nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Dieses Datum ist von sehr großer Bedeutung. Auch wir Journalisten behandeln die Ökonomie immer noch als eine Art Naturwissenschaft. In Wahrheit leben wir im Inneren einer Maschine, deren Funktionsweise wir mit einem Naturgesetz verwechseln.

Sie fokussieren alles auf Algorithmus und Spieltheorie und stellen die als das Böse der Welt dar.

Es gibt noch sehr viel mehr als Spieltheorie. Sie ist aber für mein Argument von überragender Bedeutung, weil beispielsweise Börsenalgorithmen gar nicht anders programmiert sein können als nach dem Formalismus des berühmten Nash-Gleichgewichts – eine Mathematik des Egoismus, die aus dem Kalten Krieg stammt und dort ihre Funktion hatte. Ariel Rubinstein, einer der großen Spieltheoretiker, sagt in der FAZ, es sei Wahnsinn, diese Theorie so anzuwenden, wie sie gerade angewendet wird.

Es ist nicht irgendeine ökonomische Wissenschaft, sondern die neoliberale. Sie hat sich mithilfe einer Propagandastrategie durchgesetzt.

Die Idee, es sei vernünftig, wenn man nur an sich selbst denkt, hatte eine wichtige Funktion, und viele ihrer Vordenker in den USA waren ja auch eher Linke. Es war die Antwort auf die Totalitarismen, die behaupteten, sie wüssten am besten, was gut für den Menschen ist. Ob Friedrich Hayek oder Kenneth Arrow, die Absichten waren nicht schlecht: besser der Mensch sagt, was wichtig ist, als das System. Im Detail hat Philip Mirowski, mein wichtigster Zeuge, gezeigt, dass es in den 50er-Jahren zu einer faszinierenden Vermischung von Ökonomie und Militär kommt, Stichwort "Kalter Krieg". In dem Moment erkennt die Ökonomie: Wir haben hier ein Modell, mit dem können wir die ganze Welt auf den Begriff bringen. Das, so meine These, ist die Geburtsstunde dessen, was wir Neoliberalismus nennen. Das Problem war nur: In dem Augenblick, wo der Totalitarismus verschwand, mit dem Ende der Sowjetunion, wanderte dieses Denken fidel in die Zivilgesellschaft ein.

Sie sagen immer: "die Ökonomie", aber die besteht ja aus wirtschaftlich interessierten Menschen.

Nein. Ich rede von einer Theorie, die sich zur Handlungsanweisung entwickelt. Es ist ein enormer Unterschied, ob Sie sagen, wir sind alle Egoisten, oder ob Sie ein Weltbild entwickeln, dass sagt, es sei vernünftig, egoistisch zu sein. Die Ideologie schafft genau den Menschen, den sie behauptet. Sie ist normativ. Unsere moralische Empörung ist ein Ventil, aber nutzlos, solange wir nicht erkennen, dass wir nicht über Moral, sondern über Rationalität reden sollten. Was gilt als vernünftig? Und was gilt als vernünftig in einem Zeitalter der "vernünftigen" Maschinen, die, auch das zeigt Mirowski, ihre DNA aus eben diesem ökonomischen Formalismus bezogen haben? Was einst als Antwort auf die Deindustralisierung der USA gedacht war, die berühmte, von Reagan so genannte "Ökonomie des Geistes", ist längst Wirklichkeit, ohne dass wir erkennen, was da vor sich geht: die Ökonomisierung selbst von Gedanken, ja von Absichten – Google und Amazon lassen grüßen. Der alte Traum ist wahr geworden, aus nichts etwas zu erschaffen. Jeder klassische Ökonom hätte diesen Wahnsinn eines nur noch aus Rückkoppelungen lebenden Systems bereits an Derivaten ablesen können.

Dahinter stehen Investmentbanken, Banker, im wesentlichen Goldman-Sachs.

Schreibe ich auch. Aber das ist nur ein Aspekt. Das eigentlich Faszinierende ist doch: Gleichzeitig mit dieser "Ökonomie des Geistes" taucht die Gegenkulturbewegung aus der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung in Kalifornien auf. In den 80er-Jahren mischen sich die beiden Sphären, daher besteht diese Ökonomie nicht nur aus Goldman-Sachs, sondern auch aus Silicon Valley.

Mit der utopischen Gegenwelt der Netzkultur, des digitalen Weltbürgertums räumen Sie ja ziemlich auf.

Ursprünglich ist die Idee aus den frühen 90er-Jahren, dass alle mit allen digital kooperieren, toll. Im kommerzialisierten Internet ist daraus ein Markt geworden, aus der kooperativen Meinungsbildung wurde ein Plebiszit des Verkaufens. Es ist verwunderlich, wenn Journalisten das nicht sehen: Sie selber verlieren doch gerade reihenweise ihre Jobs deswegen. Manche Artikel wären früher so nie geschrieben worden, aber nun antizipieren die Autoren die Likes und Empfehlungen und Postings. Alles Plebiszit, Plebiszit. Am Ende ist sogar das Recht Plebiszit, das haben wir in der Eurokrise gesehen. Wenn die Märkte sagen: lieber jetzt nicht wählen!, dann wählen wir lieber nicht. Oder legen das den Griechen nahe. Das muss man sich einmal klarmachen! Wahlen – ja schon noch, aber das wahre Meinungsbild, was Menschen wollen, können wir dauernd abfragen. Daraus folgt, wir müssen in die Köpfe der Menschen eindringen. Google macht das ja auf vorerst ganz nette Weise, die sagen uns dauernd, was wir wollen, schon ehe wir es selber wissen, deswegen sind sie ein Riesenunternehmen geworden. Wenn das jetzt aber auch bei staatlichen Dingen passiert, wenn andere plötzlich besser wissen, was wir für uns wollen, dann verlieren wir Autonomie, Souveränität und Selbstbestimmung. Als man im 18. Jahrhundert den Blutkreislauf entdeckte, wurde das zur Metapher für politische und ökonomische Prozesse. Heute reden wir von einem weltumspannenden "Nervensystem". Dieses Nervensystem ist aber eine Ökonomie, der Reiz ist ein "Investment", die Schnelligkeit der Reizübermittelung – Stichwort Hochfrequenzhandel und Echtzeitkommunikation – entscheidet über den Profit. Darum überall diese kurzfristigen Skandalisierungen oder, im Bereich der Ökonomie, die Blasenbildung.

Das ist mit Plebiszit allein nicht gesagt. Es könnte ja eine Art Beschleunigung der Volkswillensbildung sein.

Diese Utopie ist immer noch gültig. Trotz der Erfahrungen der Piraten in Deutschland. Aber mir scheint, die Kommerzialisierung des Netzes ist zu weit vorangeschritten. Kennen wir die Regeln, nach denen Google oder Facebook Stimmungen erfassen? Und was noch wichtiger ist: Es geht künftig darum zu wissen, was einer will, ehe er es selber weiß. Oder vorauszusagen, was der andere wollen wird, wenn er weiß, was ich will – das ist exakt die spieltheoretische Urszene. Sie können es mit einem permanenten Pokerspiel vergleichen, in dem Kommunikation immer häufiger zur Irreführung wird. Ist die Eurokrise zu Ende, wie Schäuble sagte? Wem sagte er das? Welchen Reiz wollte er setzen? Das Problem ist, dass in einer Zeit, wo alles sich um die Ausbeutung von Gedanken zwecks Investment dreht, der Prozess der Kreativität sich selber ändert. Wenn Amazon mir Bücher empfiehlt – wunderbar. Wenn aber am Ende ein Konzern die gesamte Produktion von Büchern verändert, fragt man sich doch, was für eine Logik hier herrscht. Ich glaube nicht einmal, dass wir es mit bösen Absichten zu tun haben, jedenfalls nicht überwiegend. Es ist ein Effekt der neuen Rationalität.

Das Stichwort "marktkonforme Demokratie" ist ein schwerer Vorwurf gegen dessen Urheberin Angela Merkel.

Es stammt ja nicht von ihr, sondern von Sigmar Gabriel. Es stammt ja nicht von ihr, sondern von Sigmar Gabriel.

Sprechen Sie mit ihr darüber?

Das letzte Hintergrundgespräch ist schon eine Weile her. Sie führt eine Art Reparaturbetrieb, spieltheoretisch sehr versiert, aber doch. Wir haben seit der Lehman-Krise permanent Duellsituationen, permanent die Alles-oder-nichts-Situation, die Frage: Scheitert Europa? Damit hat sie angefangen. Es ist nun eine Kalter-Krieg-Situation oder, wie die Spieltheorie sagt, ein Chickengame. Zwei Autos rasen aufeinander zu, wer weicht als Erster aus? Früher hätte man gesagt, psychologische Kriegsführung. Nervenkrieg. Politik ist eigentlich dafür da, solche Situationen nicht entstehen zu lassen. Wenn Politik das Ergebnis eines entfesselten Marktes ist, dann passiert so was. Würden wir politisch operieren, würden wir fragen, welches Europa wollen wir und was tun wir dafür? Jenseits von reinen Marktprinzipien. Zum Beispiel ein Europa, das bestimmte Werte vertritt.

"Es geht bei der ganzen Krise darum, Europa zusammenzuhalten, weil Europa eine Idee ist, größer als etwas Ökonomisches, etwas, das wir nie wieder kriegen" 

Frank Schirrmacher

FALTER:  Das wäre dann außerökonomisch. In der Krise geht es aber um Ökonomie.

Das finde ich nicht. Geht es denn um die Realökonomie? Auch wenn das narkotisierende Wort "Staatsschuldenkrise" unkritisch nachgebetet wird: Diese Krise entstand aus der Lehman-Krise und dem "zusammenstürzenden" Denkgebäude, von dem Greenspan sprach. Nicht Realwirtschaft, sondern virtuelle Wirtschaft. Und jetzt glauben wir auch noch, wir dürften über unsere Werte nicht mehr reden. Es geht bei der ganzen Krise darum, Europa zusammenzuhalten, weil Europa eine Idee ist, größer als etwas Ökonomisches, etwas, das wir nie wieder kriegen. Unsere Werte sollen auf der ganzen Welt gelten.

Dann müsste Europa für diese Werte bezahlen. Die Deutschen müssten sagen, unsere Banken und Rüstungsbetriebe müssen für die Idee Federn lassen.

Man müsste den Deutschen und den Österreichern sagen: Das Geld ist weg, nun habt ihr die Möglichkeit, dafür gehasst zu werden oder nicht. Aber jetzt geht es um den Preis des Ganzen, und der wäre, Abtretung von Souveränitätsrechten an Brüssel, fiskale Rechte, gesetzgebende Rechte. Die Krise nutzen, um ein stabiles Europa zu bauen. Stattdessen wird reiner Reparaturbetrieb gemacht. Wir kaufen nur Zeit.

Der Spieltheorie folgend wäre es nicht rational, die Massen gegen sich aufzubringen, weil ökonomische Werte zerstört werden.

Wieso nicht? Ein Nash-Gleichgewicht ist eine Lösung, die keineswegs für beide Seiten optimal sein muss. Deshalb publizieren Investmentbanken ja ständig diese spieltheoretischen Investmenthilfen für die Eurokrise. Aktueller Stand: Der Knackpunkt wird der Konflikt mit Italien. Das optimale Ergebnis wäre, im Interesse Europas eine Lösung zu finden. Wird aber nicht passieren, sagen diese Analysten: Der Preis einer Reform in Italien ist zu hoch und der Preis eines Bail-outs für Deutschland ebenso – also hier ist die Sollbruchstelle. Zeit zu kaufen ist ambivalent. Es bedeutet auch, den Zusammenhang politischer Verantwortung zu verschleiern. Politiker sind nicht mehr im Amt, wenn die Folgen ihres Tuns eintreten. Sie haben recht, es könnte nicht im Interesse der Staaten sein, Geldvernichtung im großen Ausmaß zu betreiben. Aber im Wahnsinnssystem digitaler Märkte ist es immer möglich, einen Profit daraus zu ziehen. Der automatisierte Hochfrequenzhandel umfasst mittlerweile 50 Prozent. Jede Transaktion ist spieltheoretisch nach dem Nash-Equilibrium-Modell kalkuliert. Das heißt, Politiker reagieren zu 50 Prozent auch auf Roboter – die natürlich von Menschen programmiert worden sind und die immer sehen, wie sie ihren Profit machen. Ich befürchte, dass Politiker nicht mehr offen reden, sondern nur noch verschleiert zu den Märkten, um im dritten Glied irgendetwas auszulösen. Das kann einer Demokratie nicht guttun.

Wie kommen wir da raus?

Das Buch, das man jetzt lesen müsste, ist Max Gigerenzers "Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft". Gigerenzer, Chef des Max Planck Instituts für Bildungsforschung Berlin, sagt, unser Problem ist nicht das Risiko, sondern dass wir uns ständig dagegen absichern wollen. Das war auch im Kalten Krieg so. Wie kam es zu spieltheoretischen Modellen in der Politik? Weil sie den Nuklearkrieg verhindern sollten. Aber jetzt geht es nicht um Atombomben, jetzt geht es um Profite. Die Antwort lautet also: massiv in einer Form von zweiter Aufklärung, mit Heuristik und Intuition die menschliche Urteilskraft wieder rehabilitieren, die immer gesagt hat, das kann nicht funktionieren.

Wenn nun aber auch die Öffentlichkeit algorithmisch präformiert ist?

Diese Debatte sollten Journalisten einmal führen. Nehmen Sie das Start-up Narrative Science: Ein Computer trifft Handelsentscheidungen in Nanosekunden, aufgrund von Meldungen, die er maschinenlesbar von Reuters bekommt. Jetzt kommt ein zweiter Computer, der mit einem Algorithmus von Narrative Science ebenfalls binnen Nanosekunden daraus einen Artikel schreibt, der dann bei Bloomberg auf der Seite steht. Das ist heute Realität. Der Journalismus muss eine zweite Naivität lernen. Ich bin für diese Systeme (deutet auf iPad und iPhone, die das Gespräch aufnehmen), ich benutze sie. Sie helfen uns, sie sind nicht Orwell. Ich will aber nicht, dass sie Journalismus, Buchhandel und Verlagen vorgeben, was gelesen oder geschrieben wird. Wir haben die ersten Fälle von E-Books, die umgeschrieben werden, weil Amazon oder Apple feststellen, das bestimmte Kapitel nicht gelesen werden. Immer wieder geht es darum, dass alles Markt wird. Wir wissen aber, dass einige unserer größten Stunden gerade daraus resultierten, dass sie nicht der Markt diktierte, in der brotlosen Kunst etwa.

Muss man das fördern? Von Staats wegen? Enklaven schaffen?

In Schulen schon. Wir brauchen unbedingt eine Debatte über die total homogene Art, wie wir Ökonomie lehren und lernen. Zweitens glaube ich, dass man Daumenregeln lernen kann. Ein deutsches Bundesland überlegt, das Fach Kontemplation einzuführen.

Ich dachte an staatliche Presseförderung für Qualitätsmedien.

Bin ich total dagegen.

Warum?

Das sehen Sie ja an öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Sobald der Staat drin ist, sind die Politiker mit im Boot.

Wenn Sie sagen, alles ist Markt – was ist die Alternative?

In den Medien haben wir ja den Markt abgeschafft und die verrückte Situation geschaffen, dass wir die gleichen Dinge freigeben und kostenlos verbreiten, die wir auch verkaufen. Vielleicht trauen wir unseren eigenen Inhalten nicht mehr? Teile der Gesellschaft werden sich entscheiden müssen, was sie auf dem Qualitätsmarkt brauchen. Wenn man das, was wir zu bieten haben, nicht mehr braucht, ist das auch eine Aussage. Dann hilft aber nicht der Staat. Dann ist das eine Aussage über die Gesellschaft. Ich kann es mir aber nicht vorstellen.

Was halten Sie vom Gedanken, Enklaven des Quotendenkens zu fördern, wenn zum Beispiel die großen Qualitätszeitungen existenziell bedroht wären.

Die FAZ und der Falter sind, was das angeht, absolut im gleichen Boot, auch in der gleichen Größe, wenn ich sie mit den Bewusstseinsindustriegiganten vergleiche, die innerhalb von zehn Jahren aus Amerika gekommen sind. Von der Politik erwarte ich, dass sie sich dem Lobbyismus von Facebook, Google, Apple widersetzt und sich die Monopolstrukturen anschaut, die hier entstehen. Paul Krugman hat gefragt, ob nicht eines Tages die Suche Allgemeingut sein müsste.

Öffentlich-rechtliche Suchmaschinen?

Dafür war ich immer. Das gesamte Silicon Valley ist über Jahrzehnte vom militärischen Bereich subventioniert worden. Die Chinesen haben ihre eigene Suchmaschine, die Amerikaner haben ihre eigene Suchmaschine. Wenn wir von einer Vision Europas reden, haben wir auf allen Gebieten eine Alternative für diese Welt anzubieten, die gerade entsteht. Soziale Marktwirtschaft wäre das Stichwort. Das wäre die europäische Idee. Das Gleiche bei digitalen Systemen. Ich bin nicht naiv, natürlich muss jeder am Markt bestehen. Aber es gibt bestimmte ökologische Bereiche der Infrastruktur, bei denen man sich genau überlegen muss, in wessen Hände man das gibt und wer da die Macht hat. Ein ­Google-Suchergebnis entscheidet heute schon über die Valenz von ganzen Industrien.

Haben Sie Angst, dass ihre Vernunft, Denk- und Schreibweise digital infiziert ist? Während wir schreiben, sind wir immer gleichzeitig am Suchen …

 Das macht mir nicht solche Sorgen. Ich darf als verantwortlicher Redakteur nur nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen, wenn das und jenes nicht mehr gelesen wird. Berichterstattung aus dem Nahen Osten wird zum Beispiel, wenn nicht Krieg ist, kaum gelesen.

Und wenn Texte zu kompliziert geschrieben sind?

Da bin ich alte FAZ-Schule. Ein Text muss verständlich sein, aber er muss dem Leser auch etwas zumuten – ob das Frechheit ist, Polemik oder Abstraktionsniveau, das gehört dazu. Sie beim Falter haben eine Mission, die Süddeutsche hat eine Mission – die pure Existenz von Qualitätsmedien hindert andere Zeitungen daran, total marktorientiert zu werden.

Die Thesen

Punkt 1

Der Mensch wurde zum Homo oeconomicus

Die Krise, die wir gerade erleben, ist nur ein Symptom. Sie zeigt nicht nur die Instabilität von Märkten, sondern auch von Gesellschaften. Gesellschaften werden wie Märkte und der Mensch wie ein Homo ­oeconomicus organisiert. Die moderne Ökonomie ist die Informationsökonomie, sie bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte genauso wie Aktien oder Waren und sie hat erstmals die technischen Mittel, das immer perfekter zu tun. Das soziale Leben wird immer mehr zu Geschäft und Auktion, die Welt des Ich-Verkaufs folgt glasklaren ökonomischen Regeln.

Punkt 1

Die moderne Alchemie-Ideologie

Wir haben eine Ideologie des "Du kannst alles werden". Aber wir sagen nicht, was passiert, wenn es nicht funktioniert. Die Menschen in der Moderne haben immer stärker das Gefühl, dass es nur an ihnen liegt, ob sie Erfolg haben oder nicht. Zufall und Schicksal verschwindet. Dabei gibt es viele Gründe, warum man etwas erreicht oder nicht erreicht. Das ist reine Alchemie. Bei den Alchemisten, die Blei zu Gold machen sollten, funktionierte es auch nie, und sie hatten eine Erklärung: Deine Seele war nicht rein genug. Das ist der Kern einer Ideologie.

Punkt 3

Das Naturgesetz der Daten ist trügerisch

Wir leben im Zeitalter des Big Data. Wir haben die Intuition verloren und glauben den Daten. Wenn etwa jemand Rap-Musik hört, ist er für Banken weniger kreditwürdig. Früher hat man noch die Geschichte der Menschen gekannt und vertraute seiner Intuition. Die Macht von Maschinen sind unglaublich suggestiv, und wir glauben, die Gesellschaft und Menschen sind so wie Maschinen. Die Vernunft ist derzeit eine rein ökonomistische und wir nehmen sie zu sehr als Naturgesetz wahr.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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