Interview

Franz Schuh

Der Schriftsteller über seine Obszönitätsbeobachtung im Fall F. und die Tyrannei der Intimität

Gespräch: Stefan Apfl, Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 22/2008

Erscheinungsdatum: 28.05.2008

7. Wiener Stadtgespräch mit Franz Schuh © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Franz Schuh ist ein österreichischer Autor. Er studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik und erhielt für seine Bücher zahlreiche Preise, unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse, den Tractatus und den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Schuh gilt als einer der letzten Essayisten, die in der scharfzüngigen Tradition eines Karl Kraus oder Elias Canetti die Gesellschaft sezieren. Er lehrt an der Universität für angewandte Kunst.

Wer Franz Schuh zu Hause besucht, betritt ein Universum des kultivierten Chaos. Das Arbeitszimmer ist verdunkelt, Regale und Tische sind mit tausenden Büchern vollgeräumt, Zetteln und Rechnungen auf dem Boden verstreut. „Lassen Sie die da liegen“, sagt der Hausherr, „die liegen absichtlich genau dort.“ Schuh selbst sitzt im Anzug breitbeinig inmitten der scheinbaren Unordnung. Weil es nicht genug Sessel gibt, nehmen wir für das Interview auf dem Bett Platz.
FALTER:  Verfolgen Sie die Bericht­erstattung über die Familie F.?

Masseneremit, der ich bin, bin ich nicht mehr dran an dem Fall. Es hat sich erschöpft.

Was war der Moment, wo Sie genug hatten?

Es geht dabei nicht um mich. Das ist ein selbstverständlicher Prozess: Die Strategie der Darbietung ist darauf aus, eine ­Neuigkeit zu verkaufen. Von dem Moment an, wo etwas nicht mehr neu ist, beginnt das geweckte Interesse automatisch zu erlahmen. Das ist der Preis, den die Medien für die Intensität zahlen müssen, die sie durch ihren Neuigkeitsfetischismus gewinnen.

Was ist Ihr Motiv, solche Fälle zu verfolgen?

Es ist Voyeurismus. In meinem Fall bezieht er sich weniger auf die Tat, sondern auf die Obszönität der Berichterstattung. Es mag Leute geben, die die Berichterstattung dazu benützen, um sich an der Tat zu begeilen. Ich begeile mich an der Obszönität, mit der über solche Taten berichtet wird. Gott sei’s geklagt, ich bin kein besserer Mensch, ich bin nur indirekter geil.

Setzen Sie Ihrem Voyeurismus Grenzen? Oder dem Voyeurismus der anderen?

Anderen Grenzen des Voyeurismus zu setzen wäre eine Angelegenheit der Ethikkommission der Republik. So was gibt’s zum Glück – noch – nicht. Eine Grenze liegt dort, wo die Sache langweilig wird. Und eine andere, wo das Niveau zu tief und gleichzeitig zu durchsichtig ist. Die gesamte Berichterstattung, auch meine eigene Obszönitätsbeobachtung, ist vor allem ein Resultat gereizter Instinkte. Und diese Instinkte lassen relativ schnell nach. Es kommt natürlich auch von einem Erfahrungsmangel. Der Profiler Thomas Müller benötigt die Sensationspresse nicht. Er hat seine instinktive Gier verwissenschaftlicht. „Wir“ dagegen sind arm. Wir brauchen für unsere Sozialpornografie Vermittler.

Orten Sie im Fall F. eine Entgrenzung des Boulevards?

Ich halte das für einen Irrtum. Dass die Sensationspresse heute, gemessen an ihren historischen Vorläufern, extremistisch wäre, ist falsch.

Aber die Dimension ist allein schon wegen der Globalisierung der Betroffenheit und der Verbreitung eine andere.

Die Verbreitungsdimensionen haben sich geändert, aber nicht das substanziell Moralische. Sensationslüsternheit und das gierige Begaffen des Bösen, das man zu diesem Zweck extra ausstellt, ist keine Erfindung unserer Zeit.

Gilt das für Medien wie für Konsumenten?

Ich glaube, dass Österreich durch seine spezifische Mediensituation – und davon weiß ich nur aus dem Falter, sonst wüsste ich es ja nicht – eine merkwürdige Sonderrolle hat. Die Medien arbeiten hier intimisierend. Die deutsche Bild-Zeitung ist ein hartes Organ kapitalistischer Entfremdung. Die Krone ist ein weiches Organ mit einem persönlichen Naheverhältnis zu jedem Einzelnen – in der Simulation natürlich. Aber hier simuliert man Nähe. Bild zeigt die höhnische Fratze einer sich anbiedernden Ungemütlichkeit. Die österreichische Presse legt alles durch ein pseudo-nichtentfremdetes Berichterstatten jedem Einzelnen ans Herz. Und diese Herzigkeit ist eine ziemliche Gemeinheit, jedenfalls das Gegenteil jeder Idee von Gesellschaft. Die Tyrannei der Intimität ist eine Spezialität unserer Medienlandschaft. Das kann man nicht einmal über die englische Dreckspresse sagen. Es ist eine Spezialität der österreichischen Schreib- und Darstellungskünstler.

Ist Karl-Heinz Grasser und die Art, wie er seine Privatheit öffentlich entfaltet, ein Produkt dieser Tyrannei der Intimität?

Grasser ist ein globales Phänomen. In der Kunst gilt ja schon lange, dass nicht das Werk von Bedeutung ist, sondern der Kult, den der Künstler um sich selbst herum erzeugt. Das ist ein Teil jener zitierten Selbstregulation. Weder kann man die Kunst von diesen Künstlern befreien noch die Politik von den Grassern. Das hat Andreas Khol versucht, und es ist ihm durch einen Machtspruch gelungen. Aber es kostet minus zehn Prozent bei der nächsten Wahl. Wenn man verlieren will, kann man ruhig mit Verboten in solche Systeme eingreifen. Will man aber gewinnen, muss man sich diesen Regeln angleichen oder sie intelligenter – als mit Verboten – austricksen.

Wäre es nicht Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Senders ORF, Standards zu setzen?

Das ist eine merkwürdige Frage, weil sie davon ausgeht, dass der ORF und seine Propaganda etwas anderes wäre als ein Teil des österreichischen Mediensystems.

Die Frage entspringt der Hoffnung, dass das vielleicht so sein könnte.

Dieser Hoffnung kommt der ORF, so weit er es kann, auch entgegen. Dort, wo es den Journalisten darum geht, internationale Standards der Fernsehreportagekunst zu berücksichtigen. Aber dort, wo es darum geht, uns Eingeborenen Eindruck zu machen, hat man weder die Kraft noch die Leute, radikal abzuweichen.

Wie würde eine radikale Abweichung aussehen?

Sie würde darin bestehen, diese Phänomene zu verwissenschaftlichen, sie zu abstrahieren ...

... sodass man sich nicht daran „begeilen“ kann.

Ja, das wäre meine Utopie.

Der Journalist, der über Josef F. berichtet, hat keine Erfahrungswerte, wie mit solchen Fällen umzugehen ist.

Hat er nicht? Studieren Sie den Fall Max Gufler. Priklopil und F. sind individuelle Fälle, aber sie sind nicht singulär.

Aber worauf kann der 30-jährige Journalist, der die Kriminalgeschichte Österreichs nicht studiert hat und ad hoc mit dem Fall konfrontiert ist, zurückgreifen?

Für Kriminalitätsberichterstattung gibt es Scripts, bevor ein Fall passiert ist, ob er nun singulär oder historisch relativierbar ist. So ein Script besteht aus Kriminalliteratur und auch aus kriminologischen Expertisen, die gesetzliche und psychologische Seiten haben. Kriminalitätsberichterstattung ist eine unreflektierte Mischung verschiedener Eindruckskünste. Sie hat wenig zu tun mit dem Fall, wie er „eigentlich gewesen ist“. Stärker als die Theaterkritik ist die Kriminalitätsberichterstattung mit Fiktionen verbunden. Das macht es schwer, die Tatsächlichkeit eines Falls zu erfahren. Kriminalität muss man in der Darstellung kompliziert konstruieren, dafür sollte es wissenschaftliche Fachzeitschriften geben.

Würde ein Kulturjournalist über Josef F. anders berichten?

Kaum. Es hat ja nichts mit den Berichterstattern, sondern mit der Logik des Berichterstattens zu tun. Journalisten schreiben gewöhnlich, ohne dass sie dabei Persönlichkeit entwickeln. Es gab natürlich Kriminalitätsberichterstattung, etwa im Spiegel oder im Profil, wo sich ein Journalist durch seine Texte personifiziert hat. Diese Leute können durchaus als Fachleute gelten, auch weil sie die Differenz zwischen dem, was sie berichten, und dem, wie es gewesen ist, mitreflektieren.

"Durch die journalistische Gier wiederholt sich der Opferstatus. Denn die Familie F. kann jetzt genauso wenig raus wie zuvor unter der Knute des Vaters" 

Franz Schuh

FALTER:  Wenn eine englische Boulevardzeitung der Familie F. einen Paparazzi nachschickt – ist das noch Teil der Logik des Berichterstattens?

Der Journalismus, sagte Karl Kraus, kennt keine Ehrfurcht vor dem Unglück. Aber die benötigen wir. Wenn wir selbst Unglück haben, wäre es für uns gut, käme man uns mit Distanz entgegen, in einer Entfernung, die – ich verwende ein altes, fast schon unbrauchbares Wort – mit unserer Würde zu tun hat. Diese Art von Journalismus und die Menschenwürde schließen einander aus. Durch die journalistische Gier wiederholt sich der Opferstatus. Denn die Familie F. kann jetzt genauso wenig raus wie zuvor unter der Knute des Vaters.

... eine Fortsetzung der Isolation mit anderen Mitteln.

Und „in Freiheit“. Entscheidend ist, was auf dem Markt etwas wert ist – nicht die Brutalität, mit der man die Opfer bis zum letzten Foto auspresst. Ein Metaphysiker wie ich hat die Arschkarte. Interessant ist, wie viele Institutionen, die sich moralisch legitimieren, mit diesem Journalismus kooperieren – und wie wenig es gelingt, diesen Journalismus zu ächten. Oder die Personen, die ihn vertreten.

Ist es das, was der Metaphysiker leisten kann?

Der Metaphysiker hat genau dieselben Instinkte wie alle anderen, er kann nur versuchen, sie sich abzugewöhnen und treffende Ausdrücke zu finden, mit denen man das Treiben ächtet.

Natascha Kampusch versucht sich aus der Opferrolle zu emanzipieren, sie selbst umzudeuten.

Der „Fall Kampusch“ ist mein Fall. Für mich ist es ausgemachte Sache, dass die Person, die von dieser Berichterstattung betroffen ist, umgeben von diesen Beratern, per se nichts anderes machen kann, als selbst Medienarbeiterin zu werden.

Sie hätte auch das Land verlassen können und in die Anonymität abtauchen.

Aber sie hätte es nicht mit demselben Profit machen können. Wenn jemand als Objekt der Medien eine solche Berühmtheit erlangt, dann liegt es nahe, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass man ein Subjekt der Medien wird. Diese Variante des Spießumdrehens ist der ehrenwerte Versuch einer Person, die erlittene Objektivierung in eine Subjektivierung zu verwandeln.

Aber warum schlägt ihr dabei zunehmend Neid und Hass entgegen?

Es bedeutet gar nichts, sollten die Menschen sie nicht mögen, solange sie ihren Namen oft genug aussprechen – das würde für die Subjektivierung reichen. Aber „die Menschen“ mögen jemanden nicht, in den sie so viel von sich hineingepumpt haben, wenn diese Projektionsfigur versucht, sich unabhängig zu machen, aber gleichzeitig das Hineinpumpen weiter zu verwenden und sich wie ein Einser vor alle anderen hinzustellen. Wer sollte das wollen? Aber ich denke, das Problem wird ein anderes sein. Als Ö1-Mitarbeiter nehme ich zur Kenntnis, dass Natascha Kampusch eine Art Ö1-Sprache zu sprechen gelernt hat, also einen Bildungsjargon. Und dieser ist nicht wendig genug für den Job, mit dem sie jetzt mediale Aufmerksamkeit ergattern möchte. Wenn Sie nicht lernt, genau das Schreckensvokabular, das scheinbar für sie, tatsächlich aber gegen sie angewandt wurde, ihrerseits anzuwenden, wird sie nicht viele Chancen haben.

Kampusch könnte eine Ö1-Sendung übernehmen.

Aber die sind schon durch Leute wie mich besetzt.

Die Thesen

Punkt 1

Es gab keine Verdrängung

Die Schoah wurde von den Tätern nicht verdrängt. Verdrängen kann man nur, was einen schwer verletzt hat. Die Österreicher haben nicht verdrängt, sondern sind schlicht ungerührt geblieben. Die Versuche, ihre Verantwortung in Erinnerung zu rufen, zielten ins Leere, weil man von den Leuten gleichzeitig verlangte, sie sollten auch berührt davon sein und darüber trauern. Dafür aber sahen sie keinen Grund.

Punkt 1

Das Ende der Österreich-Kritik

Die Österreich-Ideologie ist in den 70er-Jahren durch die Österreich-Kritik abgelöst und ersetzt worden, allen voran von Thomas Bernhard. Heute will man wieder aus den Schemata dieser Österreich-Kritik heraus. Es ist deshalb sehr bezeichnend, dass der erfolgreichste junge Autor Österreichs, Daniel Kehlmann, über Bernhard sagt, Bernhard sei Jörg Haider ähnlich gewesen, da auch Bernhard gleichzeitig Regierung und Opposition spielte.

Punkt 3

Spende geht nur nach Rührung

In unserer Gesellschaft ist es so, dass die große Mitleidsillusion eine Voraussetzung dafür ist, dass im großen Rahmen gespendet wird. Geholfen kann nur dann werden, wenn man Rührung erzeugt. Es geht bei uns nicht anders, als dass man die Masse zunächst weich macht, um etwas aus ihr rauszuholen. Die Spender zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie von sich selber gerührt sind, weil sie gerührt sind. Wir sind eine verkitschte Bande.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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