Interview

Jan Philipp Reemtsma 

Der Germanist und Sozialforscher über politische Exzentrik, das Gute an Friedrich Hayek und seinen freigelassenen Entführer

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 44/2013

Erscheinungsdatum: 30.10.2013

Portrait Jan Philipp Reemtsma © Bodo Dretzke
© Bodo Dretzke
Zur Person

Jan Philipp Reemtsma, 1952 in Bonn geboren, ist Gründer und geschäftsführender Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur sowie der Arno Schmidt Stiftung. Er gründete das Hamburger Institut für Sozialforschung. Der Erbe der größten deutschen Tabakdynastie wurde im Jahr 1996 für über einen Monat entführt. Das Lösegeld betrug 30 Millionen Mark. Reemtsma ist Autor zahlreicher Bücher zu literaturwissenschaftlichen, historischen und philosophischen sowie sozialen und politischen Themen, darunter „Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“ (2008)

Jan Philipp Reemtsmas Ruf als menschenscheuer Intellektueller ist legendär. Er gibt nur selten Interviews, will nicht fotografiert werden und spricht am liebsten in Form eines Vortrags. Für den Falter nimmt er sich in seinem Büro im Hamburger Institut für Sozialforschung eine gute Stunde Zeit. Hochkonzentriert, zwischendurch nur an seinem Tee nippend, antwortet er druckreif. 


FALTER: Herr Reemtsma, Ihr Entführer Thomas Drach ist seit einem Tag frei. Der Verbleib des Lösegelds ist ungeklärt. Der Fußfessel, die er in Deutschland tragen müsste, entzieht er sich, indem er sich ins Ausland absetzt.  Finden Sie das gerecht?

Er hat seine Strafe verbüßt. Damit ist er frei, auch frei, ins Ausland zu gehen. Die Entziehung seines Passes oder die Einschränkung seiner Freizügigkeit ist nicht Teil seiner Strafe. Somit ist es rechtmäßig. Ich war der Meinung, dass in diesem Falle das etwas schwierige Rechtsinstrument der Sicherungsverwahrung angemessen gewesen wäre. Das entspricht auch den psychologischen Gutachten, die für das Gericht gemacht worden sind. Weil es sich um einen gefährlichen Menschen handelt, der mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Verbrechen begehen wird, zumal er in seinem Leben nie etwas anderes getan hat.

 "Rechtmäßig" und "gerecht" decken sich also nicht?  

In diesem Fall wüsste ich nicht, wo Gerechtigkeit sinnvollerweise außerhalb des Gesetzes liegen könnte. Die Entscheidung, Sicherheitsverwahrung nicht zu verhängen, lag im Ermessen des Gerichts. Ich halte sie für falsch, aber das Wort „ungerecht“ ist da nicht am Platze.

Ein Grund, an der gefängnislosen Gesellschaft zu zweifeln?

Ich habe dieser Idee nie angehangen. Menschen in ein Gefängnis wegzuschließen ist zwar eine harte Strafe, wir haben nur nichts anderes. Historisch haben wir uns von den Leibesstrafen entfernt, wir haben die Todesstrafe abgeschafft. Das Einzige, was uns blieb, waren Geld- und Freiheitsstrafen. Jetzt geht es darum, die negativen Auswirkungen von Gefängnisstrafen, wie etwa, dass Menschen im Gefängnis noch weiter in ein kriminelles Milieu hineingetrieben werden, möglichst gering zu halten. Und die positiven Aspekte, alles, was mit Resozialisierung zu tun hat, zu fördern. Was sollen wir sonst tun?

Der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik darf im Gefängnis Politikwissenschaft studieren.

Das muss er tun können. Die Möglichkeit, sich zu bilden, muss einem Menschen im Gefängnis gestattet sein.

Hat Bildung die Kraft, jemanden zu bessern?

Das hängt vom Einzelfall ab. Die Universität ist keine Besserungsanstalt für Charaktere. Bildung schützt vor gar nichts. Ein sehr gebildeter Mensch kann zu extremen Scheußlichkeiten fähig sein. Auf der anderen Seite kann Bildung bei Menschen, die dafür ansprechbar sind, sicher etwas bewirken. Nur man weiß es vorher nicht. Per se ist Bildung also kein Resozialisierungsinstrument. Lest viel und ihr werdet besser? Nein.

Herr Reemtsma, kommen wir zu Ihnen persönlich. Sie sind ein "müßiger Reicher", nicht wahr?

Man muss diesen Begriff so verstehen, wie es der Ökonom Friedrich Hayek, den Sie zitieren, gemeint hat. Im Sinne von reichen Menschen, die ihre Arbeit nicht in erster Linie dazu verwenden, ihr Vermögen zu vermehren. So gesehen bin ich das. Ich bin wirtschaftlich nicht tätig. Mein Vermögen wird professionell verwaltet. Wer den Hayek’schen Kontext nicht kennt, wird mit dem Begriff "müßiger Reicher" aber eher Nichtstun assoziieren.

Hayek verwendet den Begriff, um einen "man of independent means" zu beschreiben, der etwas zum Ethos der Gesellschaft beitragen will. Einen Philanthropen, einen Mäzen.

Genau das nicht. Hayek sagt, der müßige Reiche tut, was ihm gefällt. Aus welchen Gründen auch immer. Es müsse, so Hayek, solche Leute geben, und sie müssen diese Möglichkeit haben, unkonventionelle Dinge zu tun, die die Mehrheit von sich aus nicht tun würde. Weil Mehrheiten konventionell denken.

Deswegen, behaupten Sie mit Hayek, soll die Gesellschaft Stiftern nicht vorschreiben, was sie mit ihrem Geld anfangen.

Im Rahmen der Gesetze und der Kontrolle der Gemeinnützigkeit.

Nun ist das, was Sie mit Ihrem Institut machen, ein Musterbeispiel für eine Stiftung. Aber reiche Menschen wie Sie sind selten.

Im größeren Maßstab gibt es Bill Gates oder George Soros. Es geht Hayek ja nicht darum, dass ein Stifter nur etwas unterstützt, was – im Sinne Hayeks – unterstützenswert wäre. Musterbeispiel für einen Mäzen ist für ihn Friedrich Engels, der bekanntlich Karl Marx finanziert hat. Kein Autor, den Hayek schätzte. Wenn jemand es für interessant hält, eine Porzellansammlung dieses oder jenes Zuschnitts zu haben und ein Museum für sie zu bauen, dann ist das genauso legitim.

Genauso, wie sein Erbe Tierheimen zu spenden?

Die Frage ist doch einzig die: Wenn Ihnen das nicht gefällt, was würden Sie denn tun wollen, um es zu verhindern? Das Erbrecht einschränken? Warum soll es schlechter sein, wenn eine Person ihr Vermögen einem Katzenasyl vererbt als ihrem Sohn, der ein Taugenichts ist?

Oder einem Institut, das sich der Aufklärung verschreibt?

Wer soll das entscheiden? Eine staatliche Aufsicht? Eingesetzte Gremien, paritätisch besetzt? Mit wem? Nach Geschlechtern, Religionen, Gewerkschaften und was weiß ich für Vereinen? Die Durchschnittlichkeit und die Langeweile wären programmiert. Wir hätten mit solchen Vorkehrungen selbstverständlich garantiert, dass bestimmte Arten von Unsinn nicht passieren. Aber wir hätten auch garantiert, dass sehr langfristig wirksame Exzentrizität nicht zustande kommt.

Sie glauben also, dass kultureller Fortschritt nicht aus der Mitte einer Gesellschaft kommt, sondern von ihren Rändern aus einsickert? Von Exzentrikern? Aber gibt es nicht genug historische Beispiele, die uns das fürchterliche Gegenteil lehren?

Man darf das Argument natürlich nicht verkehren. Nicht alles, was Exzentrik ist, ist kultureller Fortschritt. Im 18. Jahrhundert ist diese Frage unter dem Begriff des "Schwärmers" abgehandelt worden. Der Schwärmer war immer eine umstrittene Figur. Auch eine verdächtige. Weil man nicht ganz weiß, warum er tut, was er tut. Weil er sein Tun nicht ganz rational begründen kann. Und weil er das Potenzial hat, Leute um sich zu scharen und anzuziehen. Er hat das Potenzial zum Konstruktiven wie zum Destruktiven – wie der Mensch überhaupt, eben nur gesteigert. Christoph Martin Wieland hat vor dem Schwärmer gewarnt und festgehalten, dass es ohne ihn keine kulturelle Entwicklung gibt.

Aber wer leistet sich heute noch Exzentrik oder fördert sie?

Wann ist jemals so viel Geld gesammelt worden? International? Soros fördert politische Exzentrik.

"Diskreditiert wurden Reiche immer, wobei man unterscheiden muss zwischen der Kritik an ökonomischen Strukturen und Ressentiment"

Jan Philipp Reemtsma

Dennoch ist das Image der Reichen, nicht zuletzt durch die Finanzkrise, diskreditiert. Nicht der Mäzen, sondern der Finanzmarktprofiteur, der sein Geld durch undurchsichtige Transaktionen gemacht hat, steht fürs Reichsein.

Diskreditiert wurden Reiche immer, wobei man unterscheiden muss zwischen der Kritik an ökonomischen Strukturen und Ressentiment.

Es geht nicht um Ressentiments, sondern um Verantwortung. Fehlt den Reichen heutzutage nicht das Bewusstsein, etwas zurückzugeben, weil man privilegiert geboren wurde?

Im Weltmaßstab gesehen haben wir alle – Sie, Ihre Leserinnen und Leser, ich – extreme Privilegien. Dann gibt es noch große Gefälle innerhalb dieser Privilegien. Man soll sich immer des Maßes an Zufälligkeit bewusst sein, die bei Privilegierungen im Spiel ist. Ich bin nur ein bisschen skeptisch bei der Formulierung des "Zurückgebens". Wer hat einem was gegeben? Aber man weiß ja ungefähr, was gemeint ist, und das ist in Ordnung.

Warum haben Sie Arno Schmidt und Christoph Martin Wieland so viel pers­önliches und finanzielles Engagement gewidmet?

Es sind Autoren, die in besonderer Weise für literarische Schönheit in der Moderne stehen. Manche Autoren bedeuten einem zu einem gewissen Zeitpunkt sehr viel im Leben, und dann gibt es sich wieder. Schmidt und Wieland begleiten mein Leben seit fast 40 Jahren und sind mir nie langweilig, und vor allem bin ich, glaube ich, durch ihre Lektüre klüger geworden. Durch biografische Zufälle konnte ich für sie, für Autor und Werk, dann etwas tun. Hier spreche ich von "zurückgeben".

Das Hamburger Institut für Sozialforschung, das Sie gegründet haben und leiten, hat zwei Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht gemacht, die in Deutschland wie Österreich massiv die Art und Weise, wie über den Zweiten Weltkrieg gedacht und gesprochen wird, verändert haben. Hätten Sie das auch gemacht, wenn Ihre Vorfahren nicht mit den Nazis kollaboriert hätten?

Meine Familiengeschichte hat mit dem Thema der Wehrmachtsverbrechen im Grunde nichts zu tun. Was Sie wissen wollen: Ist das Thema "Nationalsozialismus" eines der Themen dieses Instituts, weil sein Gründer das aus biografischen Gründen so möchte? Nein.

Wirklich nicht? Können Sie das denn so einfach ablegen? Ausblenden?

Ich blende nichts aus, ich unterscheide: Das eine ist meine Beschäftigung mit meiner Familiengeschichte, aus der ich persönliche Folgerungen ziehe – etwa die Entschädigung früherer Zwangsarbeiter –, das andere ist das Programm eines wissenschaftlichen Instituts.

Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrer Form der Exzentrik? Aufklärung? Kulturellen Fortschritt?

Ich vertrete kein Programm.

Sondern?

Ich kann begründen, was ich tue, aber das, was man tut, als Ergebnis einer über allem schwebenden (meist fixen) Idee zu schildern – das sollen andere machen.

Gibt es überhaupt noch so etwas wie kulturellen Fortschritt?

Jemand, der aus der Mitte seiner Zeit versucht, diese historisch einzuordnen, irrt sich eigentlich immer und redet Unfug.

Das heißt, Sie agieren mit Ihrem Institut im Blindflug. Ohne zu wissen, ob es einmal als Katalysator des Fortschritts wahrgenommen wird.

Blindflug? Das ist Unsinn. Der zweite Teil der Frage ist nicht beantwortbar – aber, wenn Sie erlauben, auch recht sonderbar.

Wieso? Was bleibt einem aufgeklärten Menschen noch, der etwas zum Fortschritt beitragen will?

Ich hoffe, niemand spricht von sich in solcher Weise. Ich jedenfalls könnte ihn nicht ernst nehmen.

Politiker sagen das andauernd.

Und? Wird man aus solchen allgemeinen Statements klüger?

Trifft das auch auf jene Intellektuellen zu, die sich Sorgen um die Debattenkultur machen?

Und leisten auf diese Weise ihren Beitrag zur Unterhaltung. Amüsant, entspannend am Abend – man muss sich keinen einzigen Satz merken, der dort geäußert wurde. Herrlich, nicht?

Wo sind dann die Schwärmer von heute zu finden, von denen wir in zehn Jahren reden werden?

Das weiß ich nicht. Ich muss es auch nicht wissen. Es ist doch keine interessante Frage.

Wieso, Sie greifen sich ja auch Persönlichkeiten heraus, die Sie fördern.

Nicht so.

Welche Akteure sind Ihrer Meinung nach in der Postdemokratie dann überhaupt noch relevant?

Wieso eigentlich Postdemokratie? Das politische Leben ist heute nicht weniger demokratisch, als es früher gewesen ist. Die Politik spielt die Rolle, die sie eben spielen kann – über Einzelheiten geht der Streit. Aber sie spielt eine Rolle. Sie entscheidet, ob Lehman gerettet wird oder nicht, welcher Autokonzern finanziell unterstützt wird oder nicht. In der Wirtschaftspolitik (und nicht nur dort) werden wichtige Entscheidungen getroffen. Ob es die richtigen sind, wird gestritten. Das nennt man doch "demokratische Politik"?

Aber ist die Rolle der Politik wirklich stark genug?

Wollen wir eine vollkommen durchpolitisierte Gesellschaft? Das war der Nationalsozialismus, der Stalinismus, China unter Mao Tse-tung.

Dafür haben wir eine – dank Twitter, Facebook und der Möglichkeit, mit dem Handy jeden überall zu fotografieren und im Netz bloßzustellen – durchmedialisierte Gesellschaft.

Das hat merkwürdige Züge, aber die hatte die Presse schon immer. Ich muss in Österreich vielleicht nicht den Namen Karl Kraus nennen. Die Pressefreiheit bringt immer Vulgarität, Frechheit und Dummheit mit sich. Wieland sah das, aber sagte auch klar: Ohne Pressefreiheit gibt es keine Aufklärung. Die Nachteile müssen in Kauf genommen werden und wie alle anderen Phänomene gesetzlich geregelt sein. Jetzt kommt ein neues, großes Kommunikationsmedium, das wie alle anderen auch einen Haufen an Grässlichkeiten mit sich bringt. Kein Medium macht die Menschen freier, klüger, gebildeter. Dieses neue Medium hat das Potenzial, sie dümmer, ungebildeter, unkultivierter und undifferenzierter zu machen wie jedes andere auch. Die Frage ist: Was kann man dagegen tun? Gegen die Dummheit nichts. Gegen anderes durchaus. Die Frage ist wieder: Welche Freiheitsbeschränkungen sind vertretbar, welche nicht? Darauf würde ich es einengen.

Sie zitierten in unserem Gespräch gerne Hayek. Wo stehen Sie eigentlich politisch?

Nein, gar nicht. Ich habe Hayek zweimal zitiert, einmal wie oben erwähnt, ein anderes Mal in ganz anderem Zusammenhang. Ich ordne mich nicht politisch ein; andere können das machen, wenn sie das für ein interessantes Thema halten. Also Ihre Aufgabe, nicht meine.

Sie sind vielleicht ein Sozialliberaler.

Was ist denn das für eine langweilige Angelegenheit? Aber wenn Sie meinen.

Die Thesen

Punkt 1

Menschenrechte sind Fragen
der Durchsetzung

Die Idee der Menschenrechte ist von Anfang an verbunden mit der Frage: Was passiert im Falle ihrer Verletzung? Die Nürnberger Prozesse fanden eine politische Antwort darauf: Der Verstoß muss auch nach rechtlich festgelegten Regeln behandelt werden. Es braucht internationales Strafrecht.

Punkt 1

Ein Identifikationsangebot machen

Wie wurden Menschen von Hexenprozessen abgebracht? Man hat nicht belegt, dass es keine Hexerei gibt. Friedrich von Spee war Gegner der Hexenprozesse, er argumentierte in "Cautio Criminalis" (1631) so: Die Behandlung Bezichtigter sei derart, dass man alles gestehen würde. Spee und anderen gelang es, die Perspektive der Öffentlichkeit zu ändern. Spee machte ein Identifikationsangebot. Menschen, die man vorher als Bedrohung angesehen hatte, nahm man als leidende Menschen wahr. Es bedarf einer Änderung gesellschaftlicher Sensibilität. Das sind lange evolutionäre Prozesse, an denen man aber mitwirken kann.

Punkt 3

Gewöhnung bedingt Verhalten

Der Mensch ist kein auf Widerspruch geeichtes Wesen: Es passt im Menschen als Individuum und als sozialem Wesen ungeheuer viel zusammen. Menschen gewöhnen sich daran, sich anders zu benehmen – weil sie die Möglichkeit dazu haben und weil negatives Verhalten sanktioniert wird.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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