Interview

Kurt W. Rothschild

Der österreichische Doyen der Wirtschaftswissenschaften über die Börsenkrise 1929 und heute

Gespräch: Richard Wimmer

FALTER:  Nr. 04/2009

Erscheinungsdatum: 21.01.2009

9. Wiener Stadtgespräch mit Kurt W. Rothschild © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Kurt W. Rothschild (1914 bis 2010) war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Linz und galt als einer der prominentesten und besten Wirtschaftswissenschaftler Österreichs. Für seine Publikationen („The Theory of Wages“, „Wege zur Vollbeschäftigung“, „Ethics and Economic Theory“) erhielt er mehrere Ehrendoktorate sowie unter anderem das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und das Ehrenzeichen des Landes Oberösterreich.

Im Arbeitszimmer seiner Döblinger Altbauwohnung empfängt Kurt Rothschild zum Gespräch. Zu Beginn streckt seine Ehefrau den Kopf zur Tür herein. Die Russen, sagt sie, lieferten noch immer kein Gas. Rothschild seufzt und rollt mit seinen wachsamen, humorvollen Augen. Es ist nicht die erste Krise, die der Wirtschaftswissenschaftler erlebt. Er reibt sich die Hände und bittet um die erste Frage.
FALTER:  Herr Professor Rothschild, Sie werden heuer 95 Jahre alt, Sie überblicken beinahe ein Jahrhundert voller Krisen. Wo sollen wir beginnen? 1914 oder 2009? Oder bei der Weltwirtschaftskrise 1929?

Im Jahr 1929 war ich 15 Jahre alt. Ich kann mich erinnern, dass es ein besonders strenger Winter mit über 30 Grad minus war. Mit meinem Vater ging ich auf die vereiste Donau. Die Kälte war jedoch damals – wie heute – nicht die Ursache der wirtschaftlichen Krise. Richtig angekommen ist die Wirtschaftskrise dann zu Beginn der 30er-Jahre, da war ich schon politisch interessiert.

Haben Sie die Krise persönlich gespürt?  

Ich erinnere mich an die Sorgen der Eltern. Mein Vater war Vertreter für Registrierkassen einer amerikanischen Registrierkassenfirma in Niederösterreich. Er hat nur von Provisionen gelebt, die Krise hat ihn deshalb hart getroffen. Ich selbst war noch jung und nicht direkt betroffen, ich musste nie hungern.

In Wien herrschten Armut und Elend.

Ja, aber man darf nicht vergessen, dass die Not in Österreichs Straßen schon vorher herrschte. In jeder Familie war jemand betroffen, die Arbeitslosigkeit lag bei 25 Prozent. Wirtschaftlich und sozial war das eine schreckliche Zeit. Aber psychologisch war sie vielleicht für den einzelnen Arbeitslosen besser verkraftbar als Arbeitslosigkeit in guten Zeiten, damals wusste ja jeder, dass er Opfer einer extremen Wirtschaftskrise geworden war.

Wie verliefen damals die politischen Diskussionen?

Es gab sehr heftige politische Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten, den aufkommenden Nazis und den Christlichsozialen. Die politische Lage hat sich aber zunehmend verschärft, in den Straßen waren militärische Aufmärsche zu sehen. In den persönlichen Beziehungen gab es jedoch bis 1938 keine Probleme, man hat diskutiert und gestritten und ist dann gemeinsam Ski fahren gegangen.

Den Keynesianismus gab es damals noch nicht, schließlich hatte John Maynard Keynes seine Allgemeine Theorie erst 1936 veröffentlicht. Wie ging die österreichische Regierung damals mit der Krise um?

Nach 1933 wurden politische Debatten nicht mehr öffentlich geführt, weil es ja nur mehr eine Partei gab. Man war entweder dafür oder dagegen. Privat hat man schon diskutiert, das war sehr polarisierend, entweder man war für den Kapitalismus oder für den Sozialismus. Abstufungen dazwischen gab es kaum. Dass es verschiedenste Spielarten des Kapitalismus gibt, hat man damals ja nicht gewusst, die Idee des Wohlfahrtsstaates war nicht bekannt.

Gab es die Idee einer Sozialpolitik?

Ja, es gab Sozialpolitik und es gab die Vision einer Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und einer solidarischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite stand der Kapitalismus, wo nur mehr die politische Frage gestellt wurde, und zwar, ob es Demokratie geben soll oder den Faschismus.

Die Krise dauerte in Österreich länger als in anderen Ländern.

Es gab ständig dieses Gefühl der persönlichen Bedrohung in der Krise. Nach dem ersten Schock machte sich eine depressive und resignative Stimmung breit. Einige Menschen suchten andere Auswege und gingen nach Deutschland arbeiten oder sogar in die Sowjetunion. Auch die Wahl meines eigenen Studiums war von der Krise beeinflusst. Eigentlich wollte ich Physik studieren, und da hat mir jeder gesagt, das sei vollkommen aussichtslos, dass du da irgendeinen Posten kriegst, weil die Industrie am Boden liegt.

Sie hatten Jus studiert.

Ja! Hätte ich damals die spannenden Grisham-Filme gesehen, wäre ich Strafverteidiger geworden und nicht Ökonom. (Lacht.) Meine Berufswahl ist also durch die Krise bestimmt worden und durch den Dollfuß und den Hitler. Im August 1938 flüchtete ich mit meiner Frau in die Schweiz und von dort nach England, wo ich Ökonom wurde. Ich habe 1938 rasch begriffen, dass ich wegmuss. Manche sind am Vorabend des Einmarschs schon in die Tschechoslowakei geflüchtet. Mir selbst ist Schlimmeres erspart geblieben, meinen Eltern nicht, sie konnten nicht mehr flüchten.

"Wir beobachten heute keine keynesianische Revolution, sondern den Zusammenbruch des Neoliberalismus"

Kurt W. Rothschild

FALTER:  Wie beurteilen Sie die Renaissance keynesianischer Ideen? Die Regierungen versuchen sich ja geradezu zu übertrumpfen mit ihren Konjunkturbelebungsmaßnahmen.

Wir beobachten heute keine keynesianische Revolution, sondern den Zusammenbruch des Neoliberalismus, also jener Ideologie, wonach der Markt am besten die Dinge regelt, wenn man ihn in Ruhe lässt. Keynes hat die Krisen ja nicht erfunden, aber für einen Keynesianer ist es ganz natürlich, dass es zu Krisen kommt, zumal zu Finanzkrisen in nicht regulierten Märkten. Dass dem Staat eine Aufgabe zukommt, kann man schon bei Keynes und auch schon bei früheren Ökonomen nachlesen. Wir haben gelernt, dass nach jeder Krise die Bereitschaft besteht, ein wenig gegenzusteuern. Aber dann – nach einiger Zeit – beginnt wieder das Streben nach höheren Renditen. Sie können es ja schon heute beobachten, dass diese Kräfte vorhanden sind.

Wie sehen Sie die Bankenrettungspakete?

Schauen Sie, manche Banken wollen jetzt die Hilfe gar nicht annehmen, weil sie Angst haben, dass ihnen sonst der Staat dreinredet. Der Neoliberalismus ist ja nicht was völlig Irrationales. Er geht einher mit der Revolution in der Technik, vor allem in der Informationstechnologie. Da sind die Transaktionskosten ungeheuerlich gesunken, sodass die großen Unternehmungen, die einst den Nationalstaat brauchten, um ihre Monopolstellung zu schützen, nunmehr sämtliche Grenzen niederreißen wollen.

Was können die Regierungen tun?

Kurzfristig müssen die Investitionen wieder in Gang gebracht werden, denn wenn der Aufschwung und die Nachfrage wieder da ist, dann fehlen die Beschäftigungsmöglichkeiten. Wenn man bedenkt, wie rasch der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen ist, waren alle überrascht. Langfristig brauchen wir ein wohlfahrtsstaatliches Konzept, das aber europaweit oder gar international angelegt sein muss. Schließlich müssen jene Fragen diskutiert werden, die die aktuelle Krise offengelegt hat: Brauchen wir ein Konzept, das Währungsspekulation verhindert? Brauchen wir ein Konzept, das Banken wieder zu Banken macht anstatt zu Spekulationsbetrieben? Brauchen wir ein besseres Konzept für die Ratingagenturen? Mir scheint, dass wir uns in Europa rasch auf Deregulierung haben einigen können, die Schaffung von guter Re-Regulierung scheint jedoch viel schwieriger. Die Lobbys, die das verhindern wollen, sind sehr aktiv und einflussreich.

Die Thesen

Punkt 1

Der Kapitalismus kann nicht reibungslos funktionieren

Die neoliberale Ideologie besagt, der Kapitalismus sei das beste System, weil die Preise über die Märkte geregelt werden. Dieses romantische Bild war von Anfang an falsch. Der Kapitalismus kann nicht reibungslos funktionieren, denn er ist auf Gewinn ausgerichtet und nicht auf das, was Menschen wirklich brauchen. Mit dem Wachsen ökonomischer Macht und dem Entstehen größerer Produktionseinheiten bis hin zu weltweiten Konzernen wird Gewinn nicht nur erwirtschaftet, indem man etwas produziert, sondern auch dadurch, dass der Markt manipuliert wird. Das fängt bei Zöllen an, mit denen man sich Konkurrenz fernhält, und geht bis hin zum Druck auf die Löhne und anderer Kosten.

Punkt 1

Spekulationskrisen wiederholen sich

Wenn die Wirtschaft lange gut läuft, werden die Leute wagemutiger und beginnen zu spekulieren. Sie kaufen etwa Autoaktien, weil sie glauben, der Autoverkehr werde künftig zunehmen. Steigen die Aktien, erweckt das weitere Erwartungen und es wird viel zu viel in Autoaktien investiert. Durch Spekulationsgeschäfte wird das Marktgeschehen verzerrt. Stellt sich heraus, dass die spekulativen Preise mit den wirklichen Bedürfnissen nichts zu tun haben – der Bedarf an Autos viel geringer ist –, kommt das Erwachen und alle wollen ihre Aktien loswerden. Die Preise fallen, das Vermögen ist weg, es kommt zum Krach. Darauf folgt die große Angst, weil sich Firmen weniger zu investieren trauen und die Banken höhere Zinsen verlangen. Das führt zur Finanzkrise, auf die wieder ein paar ruhige Jahre folgen. Dann beginnt das Spiel von neuem.

Punkt 3

Die Gier ist ins System Kapitalismus eingebaut

Der Kapitalismus ist ein System, das darauf beruht, dass Leute Gewinne machen wollen. Er beruht also auf einer unmoralischen Basis: Ich tue nicht etwas, weil es für die Gesellschaft nützlich ist, sondern ich tue etwas, weil es für mich nützlich ist. Die Gier ist also in das System eingebaut.

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