Interview

Manfred Nowak

Der österreichische Völkerrechter über Menschenwürde, Folter, George W. Bush und die Folgen von 9/11

Gespräch: Stefan Apfl

FALTER:  Nr. 36/2011

Erscheinungsdatum: 07.09.2011

FALTER Interview mit Manfred Nowak © FALTER
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Zur Person

Manfred Nowak ist Jurist und seit 2007 Professor für internationalen Menschenrechtsschutz am Institut für Europarecht an der Universität Wien. Er war Mitgründer des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte, von 1993 bis 2006 hatte er verschiedene Funktionen als UN-Experte für erzwungenes Verschwindenlassen inne. Bis 2003 war er einer von acht internationalen Richtern an der Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina, von 2004 bis 2010 übte er das Mandat des UN-Sonderberichterstatters für Folter aus. Für seine Arbeit wurde er 2007 mit dem Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte geehrt.

In den vergangenen Jahren hat Manfred Nowak viel Elend gesehen. Als UN-Sonderberichterstatter für Folter reiste er in die schlimmsten Gefängnisse dieser Welt, erhob seine gewichtige Stimme für die Machtlosen, übte international Druck aus, um den Gepeinigten zu ihrem Recht zu verhelfen. Nowaks Kampf für die Menschenrechte dauert bis heute an.
FALTER:  Herr Professor Nowak, wie erklären Sie einem siebenjährigen Kind, was Menschenrechte sind?

Menschenrechte sind Grundprinzipien über die Frage, wie Menschen miteinander umgehen, ob im Rahmen einer Familie, eines Staates oder eines Krieges. Dabei gilt die goldene Regel: Was du nicht willst, das dir angetan wird, das tu auch keinem anderen an.

Zugespitzt formuliert haben die USA diese Regel nach 9/11 ins Gegenteil verkehrt: Weil sich unsere Feinde nicht an die Menschenrechte halten, können wir diese uns im Kampf gegen sie auch nicht leisten.

Genau das war das Fatale nach 9/11. In einer streitbaren Demokratie sollten Rechtsstaat und Menschenrechte stark genug sein, um nicht die eigene Werteordnung infrage zu stellen. In den USA war dies aber leider der Fall. Die Anschläge haben gezeigt, wie fragil das amerikanische System ist und wie schnell es sich von seinen eigenen Werten verabschiedet, wenn es im Kern getroffen wird.

Die Regierung Bush hat das absolute Folterverbot relativiert. Wie hat man das zu legitimieren versucht?

Zunächst hat man gesagt, es handle sich um einen Krieg, den „war on terror“. Aber kann ein Land mit einer losen Organisation wie al-Qaida völkerrechtlich überhaupt Krieg führen? Bush jedenfalls verhängte das Kriegsrecht, ignorierte aber, dass auch im Krieg ein absolutes Folterverbot herrscht. Das nächste Argument lautete: Wenn man schon Menschenrechte anwendet, dann gelten sie nur für das Territorium der USA, aber nicht für Guantánamo Bay oder Abu Ghraib. Auch das ist rechtlich falsch, weil Regierungen für extraterritoriale Handlungen verantwortlich sind. Zuletzt hat Bush die Definition von Folter mit fragwürdigen Rechtsgutachten stark eingeengt, indem er sagte, unmenschliche Behandlung würde erst dann zur Folter, wenn sie schwere langfristige physische und psychische Folgen hat.

Oft wurde das „ticking-bomb scenario“ bemüht: Wenn wir die Informationen nicht aus dem Terroristen herausbringen, könnte es zu einem zweiten 9/11 kommen.

Ja, und ich bin auch überzeugt, dass die CIA durch Folter zu Informationen gekommen ist, die für sie von großem Nutzen waren. Umso schwerer ist es, den Leuten klarzumachen, dass das Recht auf Leben letztlich sogar weniger wichtig ist als das Recht, nicht gefoltert zu werden. Wenn die Tötung eines Geiselnehmers die letzte Möglichkeit ist, eine andere Person zu retten, ist dies moralisch, rechtlich und philosophisch rechtfertigbar. Folterung hingegen kann niemals gerechtfertigt werden. Die Bush-Regierung hat sogar die Verrechtsstaatlichung von Folter gefordert. Wenn sich ein US-Polizist in einem ticking-bomb scenario befindet, sollte nicht er, sondern ein Gericht entscheiden, ob gefoltert werden darf. Das ist das Horrorszenario. Dann sind wir wieder in der Zeit Karls V., wo ein großer Teil der Strafprozessordnung davon handelte, wie und warum jemand gefoltert werden darf.

Welche Mechanismen haben versagt, dass sich ausgerechnet die USA in einen feudalen Staat zu verwandeln drohten?

Die Amerikaner wurden erstmals auf ihrem eigenen Territorium angegriffen. Gleichzeitig war eine Regierung an der Macht, die generell nicht viel von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gehalten hat. Als ich in den 70er-Jahren in den USA studiert habe, war ich begeistert von der amerikanischen Gewaltenteilung, den checks and balances. Präsident, Kongress und Supreme Court sind strikt voneinander getrennt. Unter der Bush-Regierung war der Kongress aber jahrelang gelähmt und hat sich wie die Justiz an der Nase herumführen lassen.

Warum hat Europa nach 9/11, aber auch nach Madrid und London anders reagiert?

Europa hat aus den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege und des Nationalsozialismus die Lehre gezogen, dass Menschenrechte eine wesentliche Möglichkeit sind, so etwas in Zukunft zu verhindern. Obwohl die USA an der Wiege der Menschenrechte standen, haben sie diese Erfahrung nicht gemacht. Sie sind weiterhin der Meinung, dass Menschenrechte etwas für andere sind. Heute ist Amerika jedoch in Sachen Menschenrechte gegenüber Europa weit zurückgefallen. Von der Nichtanerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs bis hin zur Todesstrafe und der höchsten Häftlingsrate der Welt.

"Gefoltert wurde und wird in vielen Staaten der Welt" 

Manfred Nowak

FALTER:  War das nur eine kurze Episode, oder haben die USA, hat die Welt langfristig Schaden genommen?

Gefoltert wurde und wird in vielen Staaten der Welt. Der Unterschied ist, dass lateinamerikanische, kommunistische oder afrikanische Staaten das nie zugegeben haben. Die USA haben zum ersten Mal die Normen verändert, um ihre Praxis zu legitimieren. Das hat die Menschenrechte nachhaltig beschädigt. Wo immer ich als UN-Sonderberichterstatter für Folter hingekommen bin, hat man mich sofort gefragt, was ich eigentlich wolle. Folter sei doch nicht mehr absolut verboten, wenn nun sogar die USA offen foltern.

Halten Sie die Relativierung des absoluten Folterverbots für irreversibel?

Nein. Aber die Büchse wieder zuzubekommen wird sehr, sehr lange dauern. Auch wenn er weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, was etwa die Aufarbeitung der Bush-Ära oder die Schließung ­Guantánamos betrifft, so hat Präsident ­Obama doch eine klare Zäsur gesetzt. Jene Foltermethoden, die unter seinem Vorgänger Praxis waren, gibt es heute nicht mehr.

Wir leben nach wie vor in einer Art permanentem Alarmzustand. Stehen dadurch auch die Menschenrechte unter Druck?

Ja. Natürlich ist der globale Terrorismus eine Bedrohung, gegen die wir uns schützen müssen. Mitunter müssen Menschenrechte auch eingeschränkt werden. Dass etwa unsere Privatheit zunehmend eingeschränkt wird, ist bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Aber ich bin davon überzeugt, dass in Europa wie auch in Österreich die Terrorgefahr auch zum Vorwand genommen wird, um sicherheitspolizeiliche Gesetze auszubauen.

Wo sehen Sie Österreich in der Diskussion um 9/11 und Menschenrechte?

Österreich ist in der glücklichen Lage, dass wir bisher nicht vom globalen Terrorismus direkt bedroht wurden. Aber das Vertrauen in die Gefestigtheit des Rechtsstaates und eine hohe Menschenrechtskultur, so wie die Norweger es jüngst bewiesen haben, dieses Vertrauen in die österreichische Politik habe ich nicht. Würde morgen ein großer Terroranschlag Wien treffen, so fürchte ich, dass unsere Grundrechte sehr schnell und sehr rigoros eingeschränkt werden würden.

Hat das amerikanische System der „checks and balances“, vom Supreme Court bis hin zur New York Times, seine Lektion gelernt?

Da bin ich sehr skeptisch. Wenn es ein Präsident darauf anlegt, das System in einer Ausnahmesituation auszuhebeln, wird er das wieder schaffen.

Ist das letztlich ein Sieg der 9/11-Attentäter, diese Schwächen offenbart zu haben?

Wenn es die Intention war, den USA zu beweisen, wie schnell man das westliche Regierungs- und Gesellschaftssystem ins Wanken bringen kann, dann waren die Attentäter leider erfolgreich.

Die Thesen

Punkt 1

Folter passiert, weil Polizisten unter Druck geraten

In den ersten zwei Tagen nach der Verhaftung ist die Gefahr statistisch gesehen am größten, gefoltert zu werden. Das hat mit dem Justizsystem zu tun. Aus Personalmangel oder aus Tradition verlassen sich Richter in manchen Ländern im Strafprozess darauf, dass die Polizei ein Geständnis erwirkt. Statt Sachbeweisen oder anderen Beweisformen sind dort Geständnisse die Basis für eine Verurteilung. Wenn das Justizsystem so funktioniert, dann ist der Druck auf die Polizei extrem groß, ein Geständnis zu erzielen. Gerade in der ersten Zeit fangen Polizisten an, mit allen möglichen Mitteln die Person so weit zu bekommen, dass sie ihre Tat gesteht. Denn der Kampf gegen die Kriminalität ist immer ein wichtiges nationales Interesse.

Punkt 1

Folter ist eine Entmenschlichung für Opfer und für Täter

Folter ist eine Form von systematischer, struktureller Gewalt, die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens infrage stellt. Sie führt zu einer totalen Entmenschlichung des Opfers, aber auch des Täters. Insofern ist es für mich verwerflicher zu foltern, als zum Beispiel eine Person zu töten, wenn ich damit einen anderen Menschen retten kann. Man darf aus Notwehr töten, aber nicht aus Notwehr foltern.

Punkt 3

Die schwerste Menschenrechtsverletzung ist die Armut

Armut ist nicht irgendein Schicksal, Armut ist eine ganz schwere Menschenrechtsverletzung – die schwerste unserer Zeit. Aber man kann doch durch ein Umdenken etwas bewegen. Etwa durch die Millenniums-Entwicklungsziele, die momentan nicht umgesetzt sind, weil alles durch diese sicherheitsorientierte Terrorismusbekämpfung überlappt ist.

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