Interview

Marlene Streeruwitz

Die Schriftstellerin über Prosecco-Faschismus im Kulturbetrieb und den Dilettantismus als Widerstand

Gespräch: Klaus Nüchtern

FALTER:  Nr. 42/2006

Erscheinungsdatum: 17.10.2006

3. Wiener Stadtgespräch mit Marlene Streeruwitz © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Marlene Streeruwitz ist eine österreichische Schriftstellerin und Regisseurin. Sie studierte Slawistik und Kunstgeschichte, 1986 veröffentlichte sie ihr erstes literarisches Werk. Für ihre Theaterstücke, Romane und Novellen („Waikiki Beach. Und andere Orte“, „Verführungen“, „Nachwelt“, „Kreuzungen“) erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Hermann-Hesse-Preis, den Literaturpreis der Stadt Wien und den Droste-Preis. Streeruwitz gilt als eine der politisch engagiertesten deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen.

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses 2006 und der damit verbundenen Aussicht auf einen Machtwechsel begann auch die Spekulation darüber, wer denn Franz Morak als Kunststaatssekretär nachfolgen oder einem neu zu schaffenden Kulturministerium vorstehen könnte. Als eine der ersten Künstler und Künstlerinnen meldete sich Marlene Streeruwitz zu Wort und stellte Forderungen nicht nur an die (Kultur-)Politik, sondern auch an die Kunst: „Kunst und Literatur müssen wieder in ihrer Aufgabe gesehen werden, die Suche nach den gesellschaftlichen Wahrheiten des Jetzt zu betreiben.“
FALTER:  Sie hören gerade Rufus Wain–wright – Begleitmusik wozu?

Zum Arbeiten. Diese melodiöse Jammerei ist einerseits ohnehin Grundlage der Gestimmtheit hierzulande, andererseits ein Vergnügen.

Man kann nach der Wahl und der Wahlkartenauszählung doch auch wieder ein bisschen Freude zeigen, oder?

Ein bissl getanzt hab ich schon. Aber nur ein bissl, und wahrscheinlich ist in Demokratien mehr auch gar nicht richtig.

Wie das?

Wir haben ja nicht das Mehrheitswahlrecht, bei dem dann die einen oder die anderen gewinnen – was ich ja an sich für besser halte, weil es diese Mauscheleien und Unausgesprochenheiten, die wir haben, nicht zulässt.

Waren Sie über das Wahlergebnis überrascht?

Eigentlich schon. Angesichts der Hoffnungslosigkeit der dunklen Wolken, die diese sechs Jahre über uns ausgebreitet haben, war das der rosige Schimmer am Horizont.

Worauf dürfen wir nach der Wahl hoffen?

Ich hoffe auf einen Rücktritt von Schüssel und dass damit Schluss ist mit dem herablassend pädagogischen Ton der ÖVP. Und ich hoffe, dass sich dadurch etwas bewegt. Es muss eine Geschichtsdiskussion geben, damit endlich diese Lager beschrieben werden, die nicht mehr so sind wie früher, aber noch immer so tun, als wären sie es. Ich würde auch sehr gerne wissen, was die ÖVP eigentlich mit „christlich“ meint. Ich finde, dass die Ausländerhasswahnvorstellungen offen benannt und beschrieben werden sollten. Dann kann man auch darüber sprechen, dass es ein Ablenkungsmanöver ist.

Was meinen Sie mit „Ablenkungsmanöver“?

Die Rechte suggeriert: Wenn die Ausländer weg wären, wär’s gut! In Wirklichkeit wird der Mittelstand zerrieben, und die Lebensformen, die unsere Identität bestimmen, werden in Mobilität und Unsicherheit aufgelöst. Es geht also nicht um das Ausländerproblem, das so groß nicht ist, sondern um die Frage, wie sich Europa in den nächsten 15 Jahren noch erhalten kann oder ob es Zweite Welt wird, in der 80 Prozent der Menschen unter schwierigsten Bedingungen arbeiten, um die Infrastruktur für die restlichen sehr reichen 20 Prozent zu erhalten.

Wie erklären Sie sich die starken Verluste der ÖVP auch in Kernländern wie Niederösterreich?

Die Wahlkampagne der ÖVP war sehr einschließend und vermittelte: Wir stehen gut da! Da muss man aber dann halt dazugehören, und es gehören weniger dazu, als die Herrschaften von der ÖVP sich das vorgestellt haben. Offenbar haben viele doch gemerkt: Was erzählen mir die? Ich steh nicht gut da! Das soziale Problem darf ja bei uns immer erst benannt werden, wenn die bedürftigen Massen schon weinend auf der Straße liegen. Immer musste der Nachweis erbracht werden, dass es tatsächlich genug gibt, denen es nicht so gut geht, und dass eine berechtigt depressive Stimmung herrscht, die niemanden dazu beflügeln kann, großartig positive Werke oder Ideen zu entwickeln.

Das Klischee von Künstlerkreativität besagt gerade das Gegenteil: Großes Leid schafft große Kunst.

Das hat mit vordemokratischen Gesellschaften zu tun: Wenn einem die Fürsten den Pass verweigert haben und man seine Gedichte anderswo nicht vorlesen konnte, war das natürlich ein Leidensdruck, der Werke erzwang. In einer Demokratie kann es aber nicht bloß darum gehen, dass man alles sagen darf, sondern dass es für jeden und jede einen Raum gibt, Kunst zu entwickeln und davon auch leben zu können. Und das ist im Augenblick nicht der Fall. Vor 2000 konnte man gerade noch leben, heute bastelt jeder nur an seiner Existenz.

Was ist dazwischen passiert?

Es gibt keine Strukturen, die Förderung im Projekt betreibt. Durch die Kürzungen können zum Beispiel Literaturhäuser nicht mehr so viele Lesungen veranstalten – da fällt vieles weg, aus dem man sich früher ein Leben zusammengesetzt hat.

"Wir Autorinnen und Autoren werden wie Millionäre besteuert und können deswegen nicht einmal mehr Mittelstandsexistenzen bestreiten" 

Marlene Streeruwitz

FALTER:  Sie haben einen deutschen Verlag, werden an deutschen Theatern gespielt ...

... und versteuere alles in Österreich. Ich will auch keine Steuern hinterziehen, bin aber knapp am Minimum – und ich verdiene ganz gut. In einem Steuersystem, das für Unternehmer geschaffen wurde und auf Abschreibung ausgerichtet ist, brennt man wie ein Luster, wenn man nichts abzuschreiben hat. Wir Autorinnen und Autoren werden wie Millionäre besteuert und können deswegen nicht einmal mehr Mittelstandsexistenzen bestreiten. Und wenn ich mir was auf die Seite legen könnte, um mir zwei Jahre zu finanzieren – für ein Romanprojekt –, falle ich aus der Sozialversicherung raus und verliere alle Ansprüche.

Rudolf Burger würde Ihre Kritik wohl dem „Sklavenaufstand der Moral“ zurechnen. Der Kleinen Zeitung gegenüber hat er gemeint, dass der angeblich von der SPÖ geschürte Hass die „leichtlebige Gestalt“ des Finanzministers nur deshalb getroffen habe, „weil er ein schöner Mann ist“.

Der Herr Burger soll seine Stellungnahmen lieber auf der Grundlage von Hobbes’ Schriften treffen. Es ist unerträglich, dass Leute sich nur noch mit ihren privaten Gekränktheiten zu Wort melden. Woher weiß der Burger denn Bescheid über die Gründe für den angeblichen Hass auf Grasser? Hat er eine Sozialstudie oder eine Erhebung gemacht oder wenigstens im P1 alle jungen Frauen gefragt? Außer eine Meinung zu haben, hat er auch nichts gemacht! Er hat mitverloren als philosophischer Berater Schüssels. Das macht nicht fröhlich.

Sie selbst haben wie viele Künstler eine „Ministerkompetenz zu Kunst und Kultur“ gefordert. Ist das nicht das josephinische Erbe: Gebt uns unseren Ressortmonarchen zurück?

Wenn es schon Ministerien gibt, dann bitte auch eines für die Kultur. In einem System wie Österreich hat eine Ministerverantwortlichkeit schon ein anderes Gewicht. Von gleich auf gleich ist das richtiger. Ich würde freilich meinen, dass ganz viele Agenden dem Wirtschaftsministerium übertragen werden könnten. Festspiele haben in einem Kunstministerium eigentlich nichts zu suchen.

Warum das?

Weil sie nichts mehr mit Kunst zu tun haben. Wenn immer nur die Umwegrentabilität beschworen wird, dann soll sich das selber tragen und keine Kunstmittel verschlingen.

Wie sähe denn Ihrer Meinung nach ein vernünftiges Festival aus? Waren zum Beispiel die Wiener Festwochen schon mal gut?

Nein, waren sie nie. Aber es war schon mal besser. In der Ära von Ursula Pasterk wurde uns die Globalisierung in der Kunst vorgetanzt. Diese Riesenproduktionen, die nur mehr vom Budget her gedacht werden, weil sie durch fünf verschiedene Festivals geschleust werden, waren das Erste, was wir – neben McDonald’s – von der Globalisierung gesehen haben. Gleichzeitig ist das Geld dem eigenen Raum entzogen: den Kleinbühnen zum Beispiel. Es kann da nichts mehr geleistet werden, es gibt keine Schauspieler und Regisseurinnen, die sich da bewähren können, keine Werkstätten des Eigenen, die etwas entwickeln könnten.

Aber Kleinbühnen sind doch nicht automatisch besser?

Nein, aber Staatstheater sind einfach sadistische Maschinerien, die nur Unterhaltung produzieren können. Auf einer bestimmten Ebene ist Dilettantismus heute der einzige Widerstand, den man gegen die alles bedeckende Soße einer gleichgeschalteten Perfektion leisten kann.

Wer soll uns denn Mut zur Eigenständigkeit machen? Braucht’s da wirklich einen charismatischen, supersensiblen Künstler als Kunstminister oder kann das ein cooler, pragmatischer Beamter auch machen?

Ich glaube sowieso, dass so einer oder eine viel besser wäre. In den Ministerien gab es ja auch sehr erstaunliche, fürsorglich und umfassend agierende Beamte und, wenn sie dorthin aufsteigen dürfen, Beamtinnen. Warum charismatisch? Letztendlich ist Kunstminister dann auch ein Job wie jeder andere. Jemand, der sich mit allen IGs und Verbänden bespricht und sich umfassend über das informiert, was gebraucht wird, ist mir lieber als ein Jack Lang, der sehr gut reden kann, aber dann wieder nix für die Künstler macht. Ich habe überhaupt nichts gegen eine still vor sich hin werkelnde Bürokratie, die sich demokratisch überprüfen lässt. Es muss auch nicht gleich das Paradies eingerichtet werden. Jemand versucht etwas, beendet seine Arbeit, und dann kommt der Nächste und schaut, ob’s richtig war.

Fällt Ihnen ein Name auch noch ein für jemand, der’s könnte?

Franz Morak hat doch Gerhard Ruiss genannt. Das find ich gut. Der ist eingearbeitet, leistungsfähig und hat Freude an allen Künsten – sodass er auch keine Bevorzugungsängste auslösen würde.

Ist die Politik nie in irgendeiner Form an Sie herangetreten?

Heinz Fischer hat mich als Parlamentspräsident einmal eingeladen, mich gefragt, ob es wirklich so schlimm ist, hat mir sein Buch geschenkt, und dann bin ich wieder gegangen. Es war sehr nett. Ich vermeide allerdings auch alle Berührungen mit der Prosecco-faschistischen Innenwelt der Seitenblicke-Kultur: Wir trinken nach der Vernissage in der Albertina unter den goldenen Kandelabern noch ein Glaserl vom Geld der Steuerzahler auf uns als Aufsteiger in die Sponsorenkohorten.

Faschistisch? Nicht eher feudal?

Nein. Weil feudal sich aus dem Besitz heraus unverantwortlich fühlt, während sich hier ein Zirkel bildet, der mit dem politischen Zugriff auf die Ressourcen ohne jegliche demokratische Überprüfung und Verantwortung über diese verfügt – so was nenn ich faschistisch.

Aber das ist doch nicht unbedingt an Parteien gebunden?

Doch. Die ganzen Donnerstagsdemonstrationen gegen Schwarz-Blau wurden einfach ignoriert. Das ist eine Weigerung, mit dem Souverän zu sprechen. Früher sind die Mächtigen wenigstens auf den Balkon getreten und haben ...

... gewunken.

Ja, wenigstens gewunken.

Die Demonstranten wollten mit Schüssel & Co reden?

Wenn 200.000 Menschen am Heldenplatz stehen, erwarte ich mir schon, dass sich eine Regierung dazu verhält oder irgendwas sagt. Aber es wurde einfach ausgesessen. Das hängt mit diesen neuen Sesselklebern zusammen – Männer wie Tony Blair, Gerhard Schröder oder Wolfgang Schüssel müssen wegprügelt werden, weil sie nicht gehen. Sie beschließen eine Karriere für sich und fühlen sich nur sich selbst gegenüber verantwortlich.

Gibt es auch so was wie eine schwarz-blaue Ästhetik?

Das glaube ich schon. Die Albertina-Umbauten von Direktor Klaus Albrecht Schröder etwa folgen einer Investorenästhetik, und die wird nun mal von der ÖVP getragen. Wir leben ja überhaupt in einer Investorenwelt: Nur wer was hineinsteckt, kriegt etwas heraus – die ganze Gesellschaft wird von Geld penetriert. Wir gehen alle nicht zu den Salzburger Festspielen, weil sie uns zu blöd sind ...

... vor allem zu teuer!

Zu teuer und zu blöd. Egal. Es ist schlicht obszön, wie Salzburg von den Leuten, die das Geld haben, genommen wird. Der öffentliche Raum, der ohnedies schon karg genug ist, wird durch die Privatisierungen unglaublich zurückgestutzt. Die Massen sitzen draußen und schauen sich die Opern auf der Videoleinwand an, und das Hochkulturpublikum darf wirklich ins Festspielhaus. Was ist denn das für eine verkommene Sache?! Und der Politikerliebling Jürgen Flimm führt Salzburg nun endgültig ins milde Schaumbad der Musikfilm­ästhetik. Ich mein, mir ist es recht: Die Oper wird dran kaputtgehen.

Und darüber sind Sie froh?

Darüber bin ich froh. Nur die Musik geht leider auch kaputt, genauso wie die Kleinigkeiten, die daran richtig waren. So werden wir zu identitätslosen Postsubjekten: Nicht einmal am Falschen kann man sich festhalten, weil die letzte Regierung sich selbst auch noch das genommen hat, was einmal „Heimat“ geheißen hat.

Abstrakt formuliert: Es gibt keine Territorien mehr, wo man weiß, was überhaupt noch gespielt wird?

Richtig. Weil mühsam gewachsene politische Konventionen im Rausch der Selbstbejubelung weggeschoben wurden. Demonstrationen werden ignoriert, Gesetze nicht mehr zur Begutachtung vorgelegt – speed kills!

Hat die Linke da nicht auch den Fehler gemacht, Konventionen generell als Ballast der Reaktion zu betrachten und sich nie die Frage zu stellen: Was gilt es zu bewahren? Was ist wert, auch verteidigt zu werden?

Ich glaube, es ist ein Avantgarde­problem. Die Avantgarde braucht, um überhaupt entstehen zu können, den väterlichen Widerstand. Der wurde 1968 endgültig zerbröselt – zu Recht. Ich würde 68 immer verteidigen! Man hat der unglaublich starren Welt der alten Nazis eine neue Sprache entgegengesetzt. Die Linke hat darin versagt, dass diese Sprache sich in der Konstruktion frei fickender Männer aufgezehrt hat und weder für die Emanzipation der Frau noch des Kindes wirklich zur Verfügung gestanden ist. So ist die Aufklärung wie so oft in einer halbvollendeten Befreiung steckengeblieben. Das beste Beispiel für einen ins Leere rennenden Avantgardisten war Claus Peymann, der sich Jörg Haider suchen musste, weil es keinen Vater mehr gab, gegen den er anrennen hätte können. Und die katholischen 68er wie Wolfgang Schüssel, der aus der katholischen Hochschuljugend kommt, hauen überhaupt – wie im Hochgefühl einer Polsterschlacht – alles beim Fenster raus. Bloß: Der schiere Verlust einer Konvention ist ja noch kein Fortschritt. Die katholischen 68er sind keine Erwachsenen, die Verantwortung übernehmen, es sind keine großen Brüder, die uns als Führer durch eine schreckliche Welt an der Hand nehmen ... Was dann? Letztlich doch die kleinen Ministranten, die wissen, wo die Hostien aufbewahrt sind. Das genügt ihnen auch.

Die Thesen

Punkt 1

Politikerinnen wollen härter sein

Wenn man die harten Töne von Politikerinnen hört, dann haben bürgerliche Frauen das große Problem, bürgerliche Männer übertreffen zu müssen. Sie werden viel härter und haben nie ein Differenzdenken entwickelt, das ihnen eine Einsicht in oben und unten ermöglicht. Sie haben sich immer mit dem Mann identifiziert – und sind einer.

Punkt 1

Das Problem der Emanzipation

Bei der Arbeiteremanzipation ist es ähnlich wie bei allen Emanzipationen – egal ob bei Frauen oder Schwarzafrikanern. Es kann immer eine Form von Freiheit und Möglichkeiten erworben werden, aber all diese Emanzipationsbewegungen schaffen es nicht, ihre Errungenschaften über die Generationen weiterzugeben. Die Töchter meiner Generation sagen also: „Emanzipation kann die Mama machen, aber mich soll sie damit im Kraut lassen.“

Punkt 3

Das geschlechtlose Zeitalter

Die Männer sind sich nicht im Klaren, in welcher Situation sie sind. Durch den neoliberalen Umbau der Welt haben wir kein Geschlecht mehr. Wir sind alle nur noch durch die Frage definiert: Haben oder Nichthaben. Das Geschlecht ist eine reine Performanz und gibt den Männern nur noch einen winzigen Vorsprung – vor allem in einer konservativen Gesellschaft wie in unserer haben sie noch Vorteile.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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