Gespräch: Klaus Nüchtern
FALTER: Nr. 44/2012
Erscheinungsdatum: 30.10.2012
Unter den deutschen Intellektuellen ist Navid Kermani eine jener Figuren, die das gern genommene Epitheton "streitbar" verkörpern. Normalerweise ist dies ein Euphemismus für "störrischer alter Mann". Aber dafür ist der Schriftsteller, promovierte Islamwissenschaftler und habilitierte Orientalist einfach noch zu jung.
Ein beeindruckendes Werk hat der Sohn iranischer Einwanderer dennoch bereits vorgelegt. Das betrifft nicht nur den Umfang seines Romans "Dein Name", der es immerhin auf stattliche 1232 Seiten bringt, sondern auch die Bandbreite der Themen und Debatten, zu denen sich der in Köln lebende Doppelstaatsbürger äußert – ob es nun um das Gottesbild im Koran, den Multikulturalismus, die US-amerikanische Invasion im Irak oder die in Deutschland recht heftig, um nicht zu sagen: hysterisch geführte Beschneidungsdebatte geht.
In letzter Zeit sind von Kermani zwei öffentliche Reden als Bücher erschienen: "Vergesst Deutschland!" enthält Kermanis Rede zur Eröffnung der Hamburger Lessing-Tage aus dem Jänner 2012; "Über den Zufall" die fünf Frankfurter Poetikvorlesungen, die der Autor kurz vor Abschluss seines Opus magnum "Dein Name" im Mai und Juni 2010 gehalten hat.
Dass jemand die eigene Stadt, Landschaft, Sprache, Herkunft oder Kultur liebt, erscheint mir nicht nur nicht verwerflich – das ist sicher etwas Positives. Ich denke allerdings, dass sich – etwas pauschal formuliert – die Loyalität gerade in der Kritik an diesem Eigenen erweist, nicht im Stolz und schon gar nicht im Herabschauen auf andere. Außerdem stelle ich den heutigen Begriff der Nation, der sich erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, als Referenzpunkt für das Eigene infrage. Die Nation lief historisch fast immer auf die Nivellierung von gewachsenen oder auch neu entstehenden kulturellen, sprachlichen, ethnischen oder religiösen Differenzen hinaus und birgt ein enormes Gewaltpotenzial, wie sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch gezeigt hat.
Das nicht, aber ich beharre darauf, dass die Überwindung des Nationalismus, für den das europäische Projekt schon vor den beiden Weltkriegen stand, eine der ganz glücklichen Entwicklungen auf diesem Kontinent ist. Ich gehöre also zu denen, die gerade jetzt für die Transformation der Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Union in Europa streiten.
Bestimmt hat die jetzige Nationalmannschaft aufgrund der Herkunft ihrer Spieler, aber auch aufgrund ihrer Spielweise, in der sich gerade nicht die deutschen Fußballtugenden ausdrücken, zu einem veränderten Selbstverständnis der Deutschen wahrscheinlich mehr beigetragen als viele gutgemeinte Konferenzen und Bücher zusammen.
Nein, aber ich tröste mich mit dem Satz Doderers, der nicht nur für Menschen, sondern auch für Fußballvereine gilt: "Denn wir alle wissen’s doch im innersten Gemüte, dass jene, die’s zu was gebracht haben und aus denen was geworden ist, allermeist zu den schlechthin Widerlichsten gehören, damit’s endlich einmal ganz klipp und klar gesagt ist."
Nein.
Es mag schon sein, dass diese Bedenkenträgerei gelegentlich nervt und dass mit den 68ern hier und dort ein kurioser, mir durchaus suspekter Selbsthass in die politische Kultur eingezogen ist. Aber deswegen wird mir das Gegenteil doch nicht lieber, schon gar nicht in Deutschland, wo wir vom Gegenteil wirklich genug hatten. Und irgendwie mag ich die ewig mit sich und ihrer Nation unzufriedenen Deutschen. Die großen Dichter, unter ihnen auch die Klassiker, die heute als große Deutsche geführt werden, waren fast alle so.
Navid Kermani
Gerade im deutschen Sprachraum gehen Kultur und Nation gar nicht zusammen. Gehört Kafka als Prager Jude deutscher Sprache, der politisch dem Habsburger Reich, dann der Tschechoslowakischen Republik angehörte, zu Österreich oder nicht? Gehören Heimito von Doderer, Thomas Bernhard oder Peter Handke einer anderen Dichtung an als Goethe und Schiller? Sie nach ihrer nationalen Zugehörigkeit zu trennen, erschiene mir lächerlich. Das bedeutet ja nicht, die regionalen Eigenheiten zu verkennen – wobei zu den regionalen Eigenheiten der Österreicher bekanntlich mehr als nur die Kritik, sondern oft schon der literarisch höchst ergiebige Hass auf das Eigene gehört.
Sie können ja gern Kafka für sich in Anspruch nehmen, aber dann erlauben Sie mir als Sohn iranischer Einwanderer in Westdeutschland doch, mich auf seine Literatur ebenfalls als etwas Eigenes zu beziehen. Er repräsentiert für mich die deutsche oder meinetwegen deutschsprachige Kultur, der ich angehöre, jedenfalls mehr als alle heutigen Amtsträger. Und was Bernhard und Jelinek betrifft: Kann sein, dass sie einen auch mal erschöpfen, das bringt ihre Manie mit sich – na und? Die Unzufriedenheit mit Österreich ist bei Bernhard, Jelinek und anderen doch offenbar ein wesentlicher Antrieb, aus dem einige der großartigsten Texte der deutschen Nachkriegsliteratur entstanden sind.
Ich glaube, dass es grundsätzlich im Schreiben oder jedenfalls in meinem Schreiben darum geht, für die Unmittelbarkeit eine Form zu finden, die selbst natürlich nicht unmittelbar sein kann.
Der Prozess verläuft tatsächlich oft so, dass der Entwurf eines Textes – ich will nicht sagen: zwingend rauschhaft, aber doch unkontrolliert, spontan, gewissermaßen „absichtslos“ entsteht. Das ist dann aber meist noch sehr weit entfernt von der endgültigen Fassung, für die ich ganz wach sein muss. Allerdings gibt es dafür keine Regel, manche Bücher sind auch ganz anders entstanden.
Es ist schwer, eine ganze Epoche auf einen Begriff zu bringen. Vielleicht nur so viel: Alle drei Genannten und viele andere Dichter dieser Zeit, deren Namen uns noch immer viel bedeuten, verkörpern einen selbstverständlich kosmopolitischen Begriff der Literatur. Und sie gehören einer Zeit an, in der Literatur sich von den Vorgaben der orthodoxen Religion radikal löste, ohne ihre Ausrichtung auf das Christliche oder allgemeiner das Metaphysische schon verloren zu haben.
Das hat natürlich mit meiner eigenen Arbeit, meiner eigenen Prägung zu tun. Der Blick in den Himmel – und sei es, in einen leergewordenen Himmel – ist für die deutsche Literatur bis zum Zweiten Weltkrieg durchaus charakteristisch gewesen, gerade im Vergleich zu den anderen europäischen Literaturen.
Ich möchte nicht die ganze Literaturgeschichte auf einen Begriff bringen oder durch ein Merkmal charakterisieren, aber es ist doch offenkundig, dass die deutsche Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sehr viel stärker von metaphysischen Fragestellungen durchdrungen ist als die französische und angelsächsische mit ihren Traditionen des großen Gesellschaftsromans und des psychologischen Realismus. So wie Hugo und Flaubert nicht für die gesamte französische Literatur stehen, sind sie doch spezifisch französisch. Und auch wenn Hölderlin, Kleist, Kafka oder Thomas Mann nicht repräsentativ sein mögen für die deutsche Literatur, weisen sie doch religiöse Fragestellungen und ganz konkret auch biblische Bezüge auf, die in anderen Literaturen der Moderne und eben auch in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur nicht in dieser Dichte anzutreffen sind.
Mich ärgert im Alltag vielleicht mehr die Borniertheit, aber bedenklicher erscheint mir das andere, dass vielleicht weniger eine Blindheit als ein Analphabetismus, also gesellschaftlich selbstverschuldet ist: die völlige Unkenntnis der eigenen und erst recht der anderen religiösen Traditionen. Ich merke, wie der gesamte religiöse Kanon, der ein Wissenskanon ist, aber auch ein Archiv von ästhetischen, also sinnlichen Erlebnissen, komplett wegbricht. Das ist nicht nur ein Problem für die organisierten Religionen, sondern auch eines für die Kultur und für die Gesellschaft insgesamt.
Ein guter Teil der deutschsprachigen Literatur – ob das nun Hölderlin ist oder Celan – kann ohne die religiösen, meist natürlich biblischen Konnotationen und Verweise nicht angemessen verstanden werden. Für die klassische Musik und etwa die ältere Malerei ließe sich das ebenfalls sagen. Unsere Gesellschaft versperrt sich zunehmend den Zugang zu den eigenen kulturellen Grundlagen. Genau das mag dann auch zu dem idiotischen Überlegenheitsdünkel führen – in Österreich vermutlich genauso wie in Deutschland –, den ich mir oft nur als Produkt von Ignoranz und Unkenntnis zu erklären vermag. Und diese Unkenntnis ist dann eben auch die Voraussetzung dafür, metaphysisch grundierter Weltanschauung mit völligem Unverständnis zu begegnen. Das ist nicht zwingend eine Frage des individuellen Glaubens. Jemand wie Ernst Bloch hat sich als Atheist begriffen, aber von der Religion bestimmt mehr verstanden und auch mehr gewusst als die allermeisten Theologen.
In meinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung habe ich ja deutlich geschrieben, wo ich Martin Mosebach nicht folge. Mich haben die Angriffe gegen ihn geärgert, in ihrer Aggressivität sogar erschüttert, die nicht auf eine Zurückweisung dieser oder jener Position hinausliefen, sondern auf seine vollständige moralische und literarische Diskreditierung. Und ich habe mir überlegt, wie diese Angriffe zu erklären sind, und da ist mir eben der Begriff des "Vulgärrationalismus" eingefallen.
Die Haltung muss nicht im Egoismus gründen. Ich meine vielmehr die eklatante Unfähigkeit oder den demonstrativen Unwillen, etwas anderes als das Hier und Jetzt zu sehen. Die Haltung muss nicht im Egoismus gründen. Ich meine vielmehr die eklatante Unfähigkeit oder den demonstrativen Unwillen, etwas anderes als das Hier und Jetzt zu sehen.
Teile der Debatte gingen sicher sehr stark in die Richtung. Ich vermute, dass jeder, der das Kölner Beschneidungsurteil kritisiert hat, die Aggressionen, in vielen Fällen sogar die handfesten Drohungen der Beschneidungsgegner zu spüren bekommen hat. Im Übrigen sind Rituale und symbolische Praktiken nicht schon per se archaisch.
Klar. Jedenfalls bin ich intellektuell durch und durch mit Adorno sozialisiert worden, sei es mit der "Dialektik der Aufklärung", sei es mit der "Ästhetischen Theorie", sei es mit den "Minima Moralia". Wenn es einen Autor gibt, der in meiner Studienzeit prägend für mich war, ist er es. So altmodisch das heute klingt.
Der arabische Frühling ist eine historische Zäsur. Menschen haben aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe ihr Leben in die Hand genommen und in einem psychologischen Sinne mit ihren Vätern gebrochen. Man hat es geschafft, gegen Autoritäten zu rebellieren. Diese Zäsur kann man nicht rückgängig machen.
Den Koran gibt es ebenso wenig wie den Islam. Der Koran ist kein geschriebener Text, er ist ein mündlicher Vortrag. Es ist keine inspirierte Rede über Gott, sondern Gott spricht den Koran in der ersten Person. Nur wenn er rezitiert wird, ist Gott im Raum. Der Koran wurde vom ersten Augenblick an interpretiert. Mohammed war sein erster Interpret, er hat den Text zu verschiedenen Anlässen verschieden interpretiert. Laut islamischer Tradition wird darauf beharrt, dass der Koran interpretiert wird. Der Koran wurde niemals wörtlich verstanden. Der geschriebene Text wurde erst lange nach dem Tod des Propheten zusammengebracht und aufgeschrieben, und selbst dann gab es noch viele Varianten des Textes.
Die Aggressiven, intoleranten Bedroher sind immer die anderen. Der Islam sei böse sagen die einen, der Westen sei böse, sagen die anderen. Man kann beides bejahen, man findet immer Gründe, um das eine oder das andere zu untermauern. Aber es gibt keinen Islam, es gibt nicht den Westen, es gibt nicht das Wien oder das Österreich. Die Realität ist viel komplexer, jeder Mensch ist voller Widersprüche. Literatur hat die Aufgabe, so weit es geht die Komplexität der Wirklichkeit zu zeigen. Literatur ist dazu da, unsere Denkmuster aufzulösen. In diesem Sinne glaube ich an die Kraft der Literatur.