Interview

Oskar Negt

Der deutsche Soziologe über die Legitimitätskrise der Politik und die Ausgrenzungsfamilie namens Europa

Gespräch: Robert Misik, Wolfgang Zwander

FALTER:  Nr. 47/2010

Erscheinungsdatum: 24.11.2010

14. Wiener Stadtgespräch mit Oskar Negt © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Oskar Negt, Philosoph, galt als einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler Deutschlands. Er studierte bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und war Professor für Soziologie in Hannover. Seine zentralen Forschungsthemen waren Arbeit und menschliche Würde sowie Globalisierung. Mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge pflegte er eine langjährige Zusammenarbeit. Für das gemeinsame publizistische Werk erhielten sie 2008 den Bruno Kreisky Preis.

Seit den 1960er-Jahren ist Oskar Negt einer der Stichwortgeber der unorthodoxen Linken in Deutschland. In seinem Buch „Der politische Mensch“ versucht der Soziologe, die Quellen für die Frustration und die Indifferenz zu analysieren, die den westlichen Demokratien heute so zu schaffen machen. Sein Urteil: Die Demokratie ist gefährdet.
FALTER:  Herr Negt, ist unsere Demokratie innerlich ausgezehrt?

Ich sehe unsere Demokratie jedenfalls gefährdet.

Was bedroht denn die Demokratie? Der Verdruss und das Desinteresse der Bürger? Eine politische Klasse, die sich abkapselt?

Eine Dimension der Bedrohung besteht offensichtlich darin, dass zentrale Probleme unserer Gesellschaft – etwa die große Frage der Krise der Arbeitsgesellschaft – überhaupt nicht angepackt werden. Deshalb sind viele Menschen enttäuscht von den demokratischen Prozeduren, sie verlieren ihr Vertrauen. Die Legitimation des demokratischen Verfahrens schwindet, viele Menschen liebäugeln mit rechten Parteien. Ein anderer Aspekt: Demokratische Partizipation wird abgebaut, was eine Folge der Dominanz des Neoliberalismus in den letzten 20 Jahren ist.

Wo wird denn Partizipation abgebaut?

In den Schulen diktieren die Direktoren, in den Universitäten wird Mitbestimmung abgeschafft – und, und, und. Alles mit dem Hinweis auf Effizienz, indem man rein betriebswirtschaftliche Begründungen vorschiebt. Man tut so, als würden Organisationen effizienter funktionieren, wenn es weniger demokratische Mitbestimmung gibt. Das führt aber zu einer Ausklammerung der Demokratie aus der direkten Lebenswelt der Menschen. Und das spart nicht Kosten, das verschiebt nur Kosten. Was man möglicherweise durch Rationalisierung der Prozesse spart, das verursacht externalisierte Kosten. All das hat seinen Preis.

Der Preis dafür sind Frustrationen, schwindendes Engagement der Bürger?

Mehr noch. Die Bürger legen sich dann quer. Man sieht das deutlich bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Es ist ja nicht so, dass es bei der Planung des neuen Durchgangsbahnhofes undemokratisch oder gar ungesetzlich zugegangen ist. Nein, bei den verwaltungstechnischen Verfahren ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Aber die Bürger akzeptieren nicht mehr, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, dass man sie überfährt.

Aber man kann ja nicht sagen, dass der Neoliberalismus an all dem schuld ist. Dass die politischen Eliten sich abkoppeln und in ihr Politraumschiff zurückziehen, das hat ja viel tiefere Ursachen als nur den bösen Neoliberalismus.

Nun, die Sozialdemokraten etwa sind mit Blair und Schröder Modernisierungsparteien geworden, sie waren schon sehr angesteckt vom neoliberalen Konsens. Insofern gibt es da einen sehr engen Zusammenhang.

Aber man kann doch nur schwer behaupten, dass alles gut lief, etwa mit der Sozialdemokratie, bis Modernisierer à la Schröder und Blair kamen und alles kaputtgemacht haben. Der Schwenk, den die Sozialdemokraten in dieser Ära machten, war ja selbst schon eine Folge dessen, dass man spürte, dass die Dinge nicht mehr funktionieren und man etwas anders machen muss.

Selbstverständlich. Es gab seit dem Fall der Berliner Mauer einen immensen Legitimationszuwachs des kapitalistischen Systems. Und als Folge begann man, den Sozialstaat zu delegitimieren. Und der hat den Menschen die Angst, die Existenzangst genommen. Seine Erosion erhöht jetzt umgekehrt den Angstrohstoff in der Gesellschaft. Und der kann ganz verschieden verarbeitet werden.

Ein Symptom dafür wäre der Aufstieg des Rechtspopulismus?

Man kann das mit Händen greifen. In Österreich, in den Niederlanden, diese Anti-Islam-Stimmung, die faschistischen Bewegungen in Ungarn – sie alle treten ja mit einem Sicherheitsversprechen an. Von der Art: Wenn man uns wählt, werden wir die Gesellschaft von fremden Elementen säubern. Und demokratische Verfahren sind doch nicht so wichtig. Ich sehe eine Zweispaltung der Wirklichkeit: Auf der einen Seite funktionieren die demokratischen Institutionen, die die Politik verwaltet, es gibt nicht einmal endemische Korruption. Auf der anderen Seite, unterhalb dieser Realität, da brodelt es. Es gibt gewaltige Enttäuschung, und es gibt gewaltige Proteste.

Sind die enttäuschten Bürger nicht selber schuld? Statt zu demonstrieren könnten Sie sich ja in den Parteien engagieren, dann würden die Parteien auch anders aussehen.

Gewiss, man kann da im Sinne von Kant auch von einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ sprechen. Es gibt eine tiefe kulturelle Krise, die all diese Probleme nach sich zieht.

"Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr beteiligt zu sein, dass ihre Stimme im Grunde nicht zählt, dann ist eine demokratische Gesellschaft bedroht" 

Oskar Negt

FALTER:  Was müsste nun getan werden, um diese Krise zu überwinden?

Nun, da könnte man jetzt hundert Dinge nennen und stundenlang reden. Ganz wichtig ist der offensive Ausbau von Mitbestimmungsrechten. In den Schulen, aber auch in den Kommunen, im Nahbereich der Lebenswelt der Bürger. Man muss die Menschen einbeziehen, man muss akzeptieren, dass manches einfach nicht mehr geht. Wir brauchen eine Öffentlichkeit der Beteiligungen, mehr Transparenz von Entscheidungsprozeduren. Die Demokratie muss täglich gelernt werden, sie erschöpft sich nicht in rationalen Regelsystemen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr beteiligt zu sein, dass ihre Stimme im Grunde nicht zählt, dann ist eine demokratische Gesellschaft bedroht.

Damit kommen wir zur nächsten Krise, der Eurokrise. Was kommt Ihnen heute in den Sinn, wenn Sie an Europa denken?

Mich beeindruckt das ungeheure Interesse, das nicht nur in Deutschland an Europa erwacht ist. Andererseits gibt es auch die Albtraumseite, dass die Währungsfrage auf dem ganzen Kontinent neue Zerrissenheiten schafft. Die Billionen Euro, die in die Rettungsschirme gesteckt werden, einigen Europa nicht, sondern sie dividieren die Völker wieder auseinander und werfen sie auf ihre nationalen Traditionen zurück.

Dieses zerrissene Europa hat nun den Friedensnobelpreis erhalten. Zu Recht?

Ich halte das für eine gute Idee. Es ist aber auch eine Aufforderung, nämlich ein friedensfähiges Europa zu schaffen. Das sehe ich zurzeit immer weniger gegeben. Um es mit den Worten der Schriftstellerin Christa Wolf zu sagen: Wann Krieg beginnt, das wissen wir, aber wann der Vorkrieg beginnt, das wissen wir nicht.

Sie meinen, wir erleben zurzeit die Phase eines Vorkrieges?

Die sozialdarwinistischen Überlebensstrategien, die in der Eurokrise wieder überhandnehmen, sind eine Art Vorkrieg. Es gibt kein Modell mehr einer solidarischen Ökonomie, die einzige Solidarität gilt den maroden Banken. Der griechische Kioskbesitzer hat ja nichts von dem deutschen Geld. Im Gegenteil: Er macht Deutschland sogar für sein Elend verantwortlich. Europa hat sich von einer Integrationsfamilie zu einer Ausgrenzungsfamilie gewandelt.

Was verstehen Sie unter Ausgrenzungsfamilie?

Die Regierungen, also vor allem die deutsch-französische Achse, scheren sich nicht darum, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt. Ihre fast ausschließliche Sorge gilt den Ratingagenturen, die ohne jede demokratische Legitimation die Interessen einer verschwindend geringen Minderheit vertreten. Ich vergleiche diese Erscheinung mit der Epoche vor der Französischen Revolution, in der sich die Grundbesitzer und die Kirche den ganzen Reichtum der Gesellschaft angeeignet hatten. Sollen größere Unruhen verhindert werden, bräuchten wir eine Art Marshallplan für Europa.

Die Schuldenberge wachsen. Woher soll das Geld für einen EU-Marshallplan kommen?

Es ist ja auch genug Geld da, um Rettungsschirme zu spannen. Im Endeffekt handelt es sich dabei um Wertschöpfungsgeld, das die einfachen Menschen erarbeitet haben. Die Banken haben es jedenfalls nicht erwirtschaftet.

Aber die Rettungsschirme sind doch das Produkt horrender Schulden.

Ja, aber anders eingesetzt würde dieses Geld ermöglichen, Griechenland wieder aufzubauen. Die aktuellen Transferleistungen in Richtung Banken kommen der Produktivität überhaupt nicht zugute. Was wäre, wenn man diese Milliarden und Billionen in das Gemeinwesen stecken würde. In Schulen und Vereine, Spitäler und Heime, kurz: in die Gesellschaft. Es gibt drei Säulen einer einigermaßen friedfertigen Entwicklung in Europa: Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie. Wenn eine der Säulen bricht, werden alle anderen mitgerissen. Zurzeit ist der Sozialstaat massiv bedroht: egal, ob auf dem Land oder in der Stadt, der Bedarf an einem funktionierenden Gemeinwesen, was letztlich nur ein anderes Wort für Sozialstaat ist, steigt – und er wird nicht befriedigt.

Die Frage lautet also: Sozialstaat oder Krieg?

Ein friedensfähiges Europa werden wir nur dann erreichen, wenn die Menschen wieder die Angst vor dem sozialen Kollaps verlieren und das Bedürfnis nach sicheren sozialen Beziehungen wieder gestillt wird. Es ist ganz einfach: Je stärker der Markt verlangt, dass das soziale Umfeld der Menschen zerstört wird, desto größer wird das Bedürfnis nach Sicherheit. Das führt dann dazu, dass das Angebot von rechtsradikalen Kameradschaften, die mit dem Bild einer heilen Gemeinschaft spielen, immer verführerischer wird.

Was lässt sich unternehmen, um die sozialstaatliche Tradition Europas zu retten?

Im Grunde ist Aufklärung und politische Bildung die einzige Chance, die wir haben. Wir leben in einer historischen Zwischenphase. Alte Werte gelten nicht mehr, neue sind noch nicht da. Wir erleben eine kulturelle Suchbewegung, und noch ist unklar, wohin uns diese Reise führen wird. Die Frage lautet: Werden wir Zuflucht beim Autoritären suchen oder bringen wir den Mut zu einer neuen Utopie auf? Die aktuelle Finanzkatastrophe haben uns jedenfalls die Realpolitiker eingebrockt, nicht die Utopisten. Mit dem Modell des Tatsachenmenschen kommen wir heute nicht mehr weiter, stattdessen müssen wir Robert Musils Worten folgen: Wenn es einen Realitätssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.

Was bedeutet das für die EU?

Europa muss neu begründet, vielleicht sogar neu gegründet werden. Die Richtung, die es jetzt genommen hat, ist falsch. Ein Vereinigungsprozess, der auf das kalte Medium Geld aufgebaut ist, kann nicht funktionieren. Europa müsste sich stattdessen seiner eigenen Geschichte und Traditionen bewusster werden. Unvorstellbar, dass nun mit Griechenland ausgerechnet der Teil des Kontinents abgekoppelt werden soll, von wo wir die Fundamente der europäischen Identität erhalten haben: Bildung, Demokratie, logisches Denken. Europa braucht einen Neuanfang. 

Die Thesen

Punkt 1

Die Axt am Baum der Demokratie

Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg über den Sozialstaat fundiert. Die Angstreduktion durch den Sozialstaat, damit der sozialdarwinistische Überlebenskampf vermieden wird, ist ein wesentliches Merkmal der positiven Anerkennung von demokratischen, umständlichen Prozeduren gewesen. Mit der Plünderung des Sozialstaates setzt man die Axt an den Baum der Demokratie an.

Punkt 1

Kapitalismus ohne Gegenwehr

Die Zivilisierung des Kapitalismus bedeutet: Die Marktwirtschaft muss wieder ihre begrenzten Funktionen annehmen. Sie kann nicht dazu dienen, innerhalb des Systems der internationalen Finanzmärkte Volkswirtschaften zu ruinieren. Es hat immer Bewegungen gegeben, die den Kapitalismus domestizierten. Aber heute brechen die alle zusammen. Das ist sehr gefährlich.

Punkt 3

Entpolitisierung der Politiker

Es gibt eine Entpolitisierung der professionellen Politiker. Sie handeln nicht politisch, sondern verfolgen das Prinzip von betriebswirtschaftlicher Rationalisierung. Diese betriebswirtschaftliche Denkweise hat unsere Köpfe so ergriffen, dass man nur von einer pestartigen Kontamination sprechen kann. Die Gesamtideologie ist: Die Summe der rationalisierten Einzelbetriebe sei das Gemeinwohl. Das ist ein grundlegender Irrtum.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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