Gespräch: Robert Misik, Wolfgang Zwander
FALTER: Nr. 47/2010
Erscheinungsdatum: 24.11.2010
Ich sehe unsere Demokratie jedenfalls gefährdet.
Eine Dimension der Bedrohung besteht offensichtlich darin, dass zentrale Probleme unserer Gesellschaft – etwa die große Frage der Krise der Arbeitsgesellschaft – überhaupt nicht angepackt werden. Deshalb sind viele Menschen enttäuscht von den demokratischen Prozeduren, sie verlieren ihr Vertrauen. Die Legitimation des demokratischen Verfahrens schwindet, viele Menschen liebäugeln mit rechten Parteien. Ein anderer Aspekt: Demokratische Partizipation wird abgebaut, was eine Folge der Dominanz des Neoliberalismus in den letzten 20 Jahren ist.
In den Schulen diktieren die Direktoren, in den Universitäten wird Mitbestimmung abgeschafft – und, und, und. Alles mit dem Hinweis auf Effizienz, indem man rein betriebswirtschaftliche Begründungen vorschiebt. Man tut so, als würden Organisationen effizienter funktionieren, wenn es weniger demokratische Mitbestimmung gibt. Das führt aber zu einer Ausklammerung der Demokratie aus der direkten Lebenswelt der Menschen. Und das spart nicht Kosten, das verschiebt nur Kosten. Was man möglicherweise durch Rationalisierung der Prozesse spart, das verursacht externalisierte Kosten. All das hat seinen Preis.
Mehr noch. Die Bürger legen sich dann quer. Man sieht das deutlich bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Es ist ja nicht so, dass es bei der Planung des neuen Durchgangsbahnhofes undemokratisch oder gar ungesetzlich zugegangen ist. Nein, bei den verwaltungstechnischen Verfahren ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Aber die Bürger akzeptieren nicht mehr, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, dass man sie überfährt.
Nun, die Sozialdemokraten etwa sind mit Blair und Schröder Modernisierungsparteien geworden, sie waren schon sehr angesteckt vom neoliberalen Konsens. Insofern gibt es da einen sehr engen Zusammenhang.
Selbstverständlich. Es gab seit dem Fall der Berliner Mauer einen immensen Legitimationszuwachs des kapitalistischen Systems. Und als Folge begann man, den Sozialstaat zu delegitimieren. Und der hat den Menschen die Angst, die Existenzangst genommen. Seine Erosion erhöht jetzt umgekehrt den Angstrohstoff in der Gesellschaft. Und der kann ganz verschieden verarbeitet werden.
Man kann das mit Händen greifen. In Österreich, in den Niederlanden, diese Anti-Islam-Stimmung, die faschistischen Bewegungen in Ungarn – sie alle treten ja mit einem Sicherheitsversprechen an. Von der Art: Wenn man uns wählt, werden wir die Gesellschaft von fremden Elementen säubern. Und demokratische Verfahren sind doch nicht so wichtig. Ich sehe eine Zweispaltung der Wirklichkeit: Auf der einen Seite funktionieren die demokratischen Institutionen, die die Politik verwaltet, es gibt nicht einmal endemische Korruption. Auf der anderen Seite, unterhalb dieser Realität, da brodelt es. Es gibt gewaltige Enttäuschung, und es gibt gewaltige Proteste.
Gewiss, man kann da im Sinne von Kant auch von einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ sprechen. Es gibt eine tiefe kulturelle Krise, die all diese Probleme nach sich zieht.
Oskar Negt
Nun, da könnte man jetzt hundert Dinge nennen und stundenlang reden. Ganz wichtig ist der offensive Ausbau von Mitbestimmungsrechten. In den Schulen, aber auch in den Kommunen, im Nahbereich der Lebenswelt der Bürger. Man muss die Menschen einbeziehen, man muss akzeptieren, dass manches einfach nicht mehr geht. Wir brauchen eine Öffentlichkeit der Beteiligungen, mehr Transparenz von Entscheidungsprozeduren. Die Demokratie muss täglich gelernt werden, sie erschöpft sich nicht in rationalen Regelsystemen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr beteiligt zu sein, dass ihre Stimme im Grunde nicht zählt, dann ist eine demokratische Gesellschaft bedroht.
Mich beeindruckt das ungeheure Interesse, das nicht nur in Deutschland an Europa erwacht ist. Andererseits gibt es auch die Albtraumseite, dass die Währungsfrage auf dem ganzen Kontinent neue Zerrissenheiten schafft. Die Billionen Euro, die in die Rettungsschirme gesteckt werden, einigen Europa nicht, sondern sie dividieren die Völker wieder auseinander und werfen sie auf ihre nationalen Traditionen zurück.
Ich halte das für eine gute Idee. Es ist aber auch eine Aufforderung, nämlich ein friedensfähiges Europa zu schaffen. Das sehe ich zurzeit immer weniger gegeben. Um es mit den Worten der Schriftstellerin Christa Wolf zu sagen: Wann Krieg beginnt, das wissen wir, aber wann der Vorkrieg beginnt, das wissen wir nicht.
Die sozialdarwinistischen Überlebensstrategien, die in der Eurokrise wieder überhandnehmen, sind eine Art Vorkrieg. Es gibt kein Modell mehr einer solidarischen Ökonomie, die einzige Solidarität gilt den maroden Banken. Der griechische Kioskbesitzer hat ja nichts von dem deutschen Geld. Im Gegenteil: Er macht Deutschland sogar für sein Elend verantwortlich. Europa hat sich von einer Integrationsfamilie zu einer Ausgrenzungsfamilie gewandelt.
Die Regierungen, also vor allem die deutsch-französische Achse, scheren sich nicht darum, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt. Ihre fast ausschließliche Sorge gilt den Ratingagenturen, die ohne jede demokratische Legitimation die Interessen einer verschwindend geringen Minderheit vertreten. Ich vergleiche diese Erscheinung mit der Epoche vor der Französischen Revolution, in der sich die Grundbesitzer und die Kirche den ganzen Reichtum der Gesellschaft angeeignet hatten. Sollen größere Unruhen verhindert werden, bräuchten wir eine Art Marshallplan für Europa.
Es ist ja auch genug Geld da, um Rettungsschirme zu spannen. Im Endeffekt handelt es sich dabei um Wertschöpfungsgeld, das die einfachen Menschen erarbeitet haben. Die Banken haben es jedenfalls nicht erwirtschaftet.
Ja, aber anders eingesetzt würde dieses Geld ermöglichen, Griechenland wieder aufzubauen. Die aktuellen Transferleistungen in Richtung Banken kommen der Produktivität überhaupt nicht zugute. Was wäre, wenn man diese Milliarden und Billionen in das Gemeinwesen stecken würde. In Schulen und Vereine, Spitäler und Heime, kurz: in die Gesellschaft. Es gibt drei Säulen einer einigermaßen friedfertigen Entwicklung in Europa: Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie. Wenn eine der Säulen bricht, werden alle anderen mitgerissen. Zurzeit ist der Sozialstaat massiv bedroht: egal, ob auf dem Land oder in der Stadt, der Bedarf an einem funktionierenden Gemeinwesen, was letztlich nur ein anderes Wort für Sozialstaat ist, steigt – und er wird nicht befriedigt.
Ein friedensfähiges Europa werden wir nur dann erreichen, wenn die Menschen wieder die Angst vor dem sozialen Kollaps verlieren und das Bedürfnis nach sicheren sozialen Beziehungen wieder gestillt wird. Es ist ganz einfach: Je stärker der Markt verlangt, dass das soziale Umfeld der Menschen zerstört wird, desto größer wird das Bedürfnis nach Sicherheit. Das führt dann dazu, dass das Angebot von rechtsradikalen Kameradschaften, die mit dem Bild einer heilen Gemeinschaft spielen, immer verführerischer wird.
Im Grunde ist Aufklärung und politische Bildung die einzige Chance, die wir haben. Wir leben in einer historischen Zwischenphase. Alte Werte gelten nicht mehr, neue sind noch nicht da. Wir erleben eine kulturelle Suchbewegung, und noch ist unklar, wohin uns diese Reise führen wird. Die Frage lautet: Werden wir Zuflucht beim Autoritären suchen oder bringen wir den Mut zu einer neuen Utopie auf? Die aktuelle Finanzkatastrophe haben uns jedenfalls die Realpolitiker eingebrockt, nicht die Utopisten. Mit dem Modell des Tatsachenmenschen kommen wir heute nicht mehr weiter, stattdessen müssen wir Robert Musils Worten folgen: Wenn es einen Realitätssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.
Europa muss neu begründet, vielleicht sogar neu gegründet werden. Die Richtung, die es jetzt genommen hat, ist falsch. Ein Vereinigungsprozess, der auf das kalte Medium Geld aufgebaut ist, kann nicht funktionieren. Europa müsste sich stattdessen seiner eigenen Geschichte und Traditionen bewusster werden. Unvorstellbar, dass nun mit Griechenland ausgerechnet der Teil des Kontinents abgekoppelt werden soll, von wo wir die Fundamente der europäischen Identität erhalten haben: Bildung, Demokratie, logisches Denken. Europa braucht einen Neuanfang.
Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg über den Sozialstaat fundiert. Die Angstreduktion durch den Sozialstaat, damit der sozialdarwinistische Überlebenskampf vermieden wird, ist ein wesentliches Merkmal der positiven Anerkennung von demokratischen, umständlichen Prozeduren gewesen. Mit der Plünderung des Sozialstaates setzt man die Axt an den Baum der Demokratie an.
Die Zivilisierung des Kapitalismus bedeutet: Die Marktwirtschaft muss wieder ihre begrenzten Funktionen annehmen. Sie kann nicht dazu dienen, innerhalb des Systems der internationalen Finanzmärkte Volkswirtschaften zu ruinieren. Es hat immer Bewegungen gegeben, die den Kapitalismus domestizierten. Aber heute brechen die alle zusammen. Das ist sehr gefährlich.
Es gibt eine Entpolitisierung der professionellen Politiker. Sie handeln nicht politisch, sondern verfolgen das Prinzip von betriebswirtschaftlicher Rationalisierung. Diese betriebswirtschaftliche Denkweise hat unsere Köpfe so ergriffen, dass man nur von einer pestartigen Kontamination sprechen kann. Die Gesamtideologie ist: Die Summe der rationalisierten Einzelbetriebe sei das Gemeinwohl. Das ist ein grundlegender Irrtum.