Interview

Silke Müller 

"Wir brauchen eine digitale Ethik"

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 41/2023

Erscheinungsdatum: 17. Oktober 2023

Portrait Silke Müller © privat
© privat
Zur Person

Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und wurde im Dezember 2021 zur 1. Niedersächsischen Botschafterin für Digitalisierung ernannt. Sie kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung – auch und vor allem in der digitalen Welt. Silke Müller ist (Stief-)Mutter zweier Töchter und lebt in Hatten im Landkreis Oldenburg. Seit 2018 gibt es an Silke Müllers Schule eine Social-Media-Sprechstunde. Die Erfahrungen sind erschütternd. Was läuft im Klassen-Chat – und nicht nur dort – schief?

Die Tür zu Silke Müllers Büro ist immer offen. „Guten Morgen, Frau Müller, haben Sie einen Moment?“, so harmlos fängt es meistens an. In der Tür: Jugendliche im Alter zwischen zehn und 15, die die Waldschule Hatten in Niedersachen besuchen, eine Mittelschule mit 850 Schülerinnen und Schülern. Seit 2015 ist Müller (36) Oberschuldirektorin, die Schule stattet alle Kids mit einem Tablet aus, seit 2018 gibt es hier auch eine „Social-Media-Sprechstunde“. Echtes Leben, digitales Leben: In der Waldschule sollen die Kinder mit allen Problemen kommen dürfen. Das tun sie auch.

Das Dick-Pic, das eine Zwölfjährige während des Mathematik-Unterrichts von einem erwachsenen Mann bekommt, zum Beispiel. Es war eine Challenge. Wie schnell bringt man ihn dazu, ein Foto seines Penis zu schicken? „Das machen doch alle“, erklärt ihr das Mädchen. Das Gräuelvideo einer Kastration, das im Schulbus geairdroppt wurde. Und immer wieder: Hitler-Memes, die sich in Klassenchats viral verbreiten.

Mit solchen Beispielen aus dem Schulalltag will Müller in ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder“ aufrütteln. Die richtige Antwort hat sie auch nicht parat. Aber zumindest eine deutliche Warnung: So, wie Kinder derzeit im Digitalen unterwegs sind, ist es grob fahrlässig.

FALTER Frau Müller, Zeitbegrenzungen und Verbote helfen nicht, wir müssen in die digitale Welt unserer Kinder mit rein, das ist Ihr Credo. Warum wollen das so wenige hören?

Ich nenne das „das Märchen vom heiligen Smartphoneverbot“. Als Elternteil oder auch als Pädagoge glauben wir offenbar, wenn wir die Bildschirmzeit einschränken, dann erzeugen wir Medienkompetenz im Sinne von: dann kann meinem Kind ja nichts passieren. Aber das ist in etwa so, wie wenn ich meinem Kind Knieschützer anziehe und einen Fahrradhelm aufsetze und es dann auf die Autobahn auffahren lasse. Es gibt immer das andere Kind im Sportverein, das ältere Geschwister oder den Klassenfreund, die einen freien Zugang zum Netz haben. So kommen die Kinder eben trotzdem in Berührung mit all diesen fürchterlichen Inhalten, von denen ich in meinem Buch ausführlich berichte. Ich schütze mein Kind also nicht durch Verbote, sondern ich brauche selber ein Bewusstsein dafür, was in dieser digitalen Welt los ist. Erst dann werde ich zu einem anderen Gesprächspartner für mein Kind.

Deshalb haben Sie an Ihrer Schule schon 2018 eine „Social-Media-Sprechstunde“ eingerichtet. Wie kann die helfen?

Die Sprechstunde ist im Lehrplan fest verankert, wir bewerben sie mit Plakaten und Buttons, auch mit der Aufforderung: Erzählt uns, was ihr gesehen habt. Wer ein Thema mit Mobbing im Klassenchat oder auf sozialen Plattformen hat oder wenn ein Kind mal Mist gemacht hat oder wirklich was Delikates hat, dann sagen die das natürlich nicht im Unterricht, sondern dann wissen sie, dass sie uns im Vertrauen schreiben können und es dann ein Gespräch gibt. Man braucht dafür nicht viel, man braucht nur jemanden, der bereit ist, das anzubieten und sich im Netz sehr gut auskennt. TikTok war übrigens der Kipppunkt. Seitdem haben sich die Kinder wirklich verändert, waren ständig online und berichteten von schockierenden Inhalten.

Wie zeigt sich das konkret?

Zum einen durch eine andere Aufmerksamkeitsspanne. Das merkt man im Unterricht. Sie können sich weniger lange auf Dinge konzentrieren, ohne dass sie abgelenkt sind, das Gefühl haben, ich muss mal parallel noch was anderes schauen. Man merkt es körperlich: Manche Kinder sind total lethargisch, ohne Körperspannung. Im Umgang miteinander, vor allem, wie sie sich schreiben – meistens auf Snapchat –, ist die Verrohung der Sprache unglaublich. Übrigens auch zwischen Mädchen. 

Das klingt widersprüchlich.

Sie sind entweder sehr aufgedreht oder depressiv, und erste Studien zeigen: vor allem weniger resilient. Es gibt ganz viele Kinder, die sofort, wenn sie in eine Konfliktsituation geraten, anfangen zu weinen oder sehr aggressiv werden. Es kostet viel Kraft, sie in ein normales Gespräch zu bringen und sie aus diesem Konflikt heraus zu begleiten. Sie stehen ständig unter Anspannung, weil sie wissen, wenn jemand mitfilmt, wird das sofort im Netz ausgetragen. Die doppelten Demütigungen. 

Unterscheiden Kinder eigentlich noch zwischen digital und analog?

Nein, das ist alles in einem bei den Kindern. Die Jugend-Digital-Studie der Deutschen Postbank hat gemessen, dass Kinder im Alter von 16 Jahren 64 Stunden die Woche online sind. Da muss man sich schon eher fragen: Was ist denn ihr wirkliches Leben? Wir Erwachsene machen dann immer den Fehler, dass wir sagen: Na ja, jetzt konzentrier dich mal auf das echte Leben! Hör auf, am Handy zu hängen! Aber das ist längst das echte Leben, für uns alle. 

"Viele Eltern haben keine Ahnung, womit ihre Kinder im Netz konfrontiert sind" 

Silke Müller

Sie sind immer noch Pionierin in Deutschland. Wer verhindert das, die Schulbürokratie?

Also wir unterliegen in Deutschland natürlich auch dem Föderalismus, was gerade im Schulwesen eher behindernd ist, als dass es förderlich ist. Wir haben 16 unterschiedliche Schulgesetze und Rechtsprechungen. In Niedersachen haben wir das Prinzip der eigenverantwortlichen Schule. Das heißt, ich mache selber Budget, Verwaltung, Ressourcen, ich bekomme natürlich eine Stundenzahl und eine Stundentafel zugewiesen. Aber ich kann Projekte machen, und die Social-Media-Sprechstunde läuft darunter. Thomas Hillers, der Kollege, der sie macht, hat eben eine Unterrichtsstunde Social-Media-Sprechstunde in seiner Unterrichtsverpflichtung. Das haben wir nicht angemeldet, wir haben es einfach gemacht. Ich verstehe mich eben als Ermöglicherin und nicht als Verwalterin. Mittlerweile sieht das auch die Kultusministerkonferenz so und sagt: Macht doch einfach mal, liebe Schulleiter, probiert aus, berichtet von euren Erfahrungen! Aber in Bayern wäre das nicht so einfach möglich gewesen. 

Und Herr Hillers hat keine Zusatzausbildung?

Nein, er ist ein ganz normaler Lehrer, noch Junglehrer, er hat Haupt- und Realschulelehramt studiert und ist halt digitalaffin. Er hat selber einen Instagram-Account, kennt die Inhalte, hat die Erfahrung. Das Allerwichtigste ist, eine Gesprächskultur herzustellen: Sprich mit mir, wenn du ein Problem hast. Dafür braucht es auch keine Ausbildung. Wenn es dann um tiefenpsychologische Probleme geht, um eine Störung, ein Trauma, dann schalten wir natürlich um. Holen die Eltern ins Boot, die Sozialpädagogen, die Schulpsychologie. Da haben wir die gleichen Probleme wie in Österreich, weil es zu wenige gibt.

Gesprächskultur also, aber gleichzeitig fordern Sie doch auch Verbote. Zumindest sind Sie dafür, Smartphones erst ab 16 Jahren zu nutzen. Warum?

Manchmal sage ich auch: schon ab 14, und ich weiß, es klingt illusorisch. Aber Kinder bekommen schon in der Grundschule das Smartphone in die Hand gedrückt. Das Netz ist nach wie vor total unreglementiert. Am Ende des Tages kann jeder das ins Netz stellen, was er möchte. Es gibt unsagbar viel Gewalt und pornografische Darstellungen. 

Die man aber wegfiltern kann?

Im Zweifel greifen Filtertechnologien von Instagram – vielfach greifen sie aber auch nicht. Kinder sind rein biologisch erst nach der Pubertät in der Lage, Resilienz zu entwickeln. Dann, wenn der präfrontale Cortex voll ausgereift ist. Sie haben keine Abwehrmechanismen und Abwehrkräfte, sie können Ironie noch nicht verstehen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeitsbildung ist noch nicht stark genug. Wenn wir Eltern ihnen ein Smartphone in die Hand drücken, machen wir einen unfassbar fahrlässigen Fehler.

Ab wann können Jugendliche mit all dem umgehen?

Kurz bevor sie die Schule verlassen, also wenn sie 15 oder 16 sind. Deshalb fordere ich auch, dass bei den Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen darauf hingewiesen wird, dass Bildschirmzeit die Aufmerksamkeitsspanne und die Bindung, das Urvertrauen gefährden. Warum nicht ins Jugendschutzgesetz eine Richtlinie schreiben, dass Smartphones erst ab zwölf oder 14 Jahren empfehlenswert sind? 

Rechtlich sind Handyverbote an Schulen heikel. Sie haben an Ihrer Schule eines, aber wie setzen Sie es auch wirklich durch?

Wir dürfen das Handy nicht verbieten, aber wir können in unseren Schulregeln Nutzungsvereinbarungen treffen, und das haben wir gemacht. Das heißt, die Kinder haben zwar ihre Geräte mit, wissen aber, sie dürfen sie am Vormittag nicht nutzen. Außer der Lehrer ordnet es an, für eine Recherche. Das kommt aber selten vor, weil es an unserer Schule für jedes Kind ein Tablet gibt. Oder ein Kind kommt zu uns, weil es Mutter oder Vater erreichen muss. Das darf es natürlich auch.

Und in den Pausen?

Kein Handy. Dann erleben sie, wie sie mit analoger Zeit umgehen. Mit Langeweile. Dann unterhalten sie sich, gehen in ein Gespräch, spielen Fußball – und das ist ein sehr erfrischender Anblick. Es ist zumindest ein heilsamer Vormittag. Ein wichtiger Tropfen auf einen heißen Stein. Unsere Grundüberzeugung ist, dass wir die letzte Generation sind, die diese Anreize, sich einfach mal so zu sozialisieren, noch weitergeben kann.

Sind Tablets in Schulklassen das Ende der Kulturtechnik des Schreibens, wie es oft heißt?

Unser Problem ist vor allem die Lesekompetenz. Wenn wir die Kinder in der fünften Klasse mit zehn Jahren bekommen, stellen wir fest: Die Lesefähigkeit, die Rechtschreibfähigkeit, das Rechtschreibbild, alles ist eine Katastrophe geworden. 

Aber dafür kann man doch nicht nur die Digitalisierung verantwortlich machen?

Das hängt mit Sicherheit auch mit der Nutzung sozialer Netzwerke bzw. digitaler Instrumente zusammen. Aber nicht nur. Es geht um soziale Aspekte, um die Frage, haben Familien einen Bildungshintergrund, sind sie migrantisch. Die Gesellschaft ist viel heterogener geworden. Es ist ja nicht so, dass wir auf unseren Tablets nicht lesen würden. Wir müssen übrigens sehr, sehr kritisch lesen in Zeiten von KI und Fake News. Was wir vor allem brauchen, ist digitale Ethik.

Also nicht das Gerät ist das Problem, sondern unsere Moral?

Die Kritik, dass die Kulturtechniken verloren gehen, ist ein bisschen verstaubt. Ob wir wollen oder nicht, müssen Kinder natürlich mit digitalen Instrumenten und Werkzeugen umgehen können. Was es braucht, ist ein Wissen darüber, was eigentlich die menschlichen Konventionen miteinander im Netz sind. Normen, Werte und Ethik in Verbindung mit digitalen Kulturtechniken, das ist das, was Schule heute eigentlich lehren müsste. 

Wie regeln Sie es mit ChatGPT?

Bei der ersten Dienstbesprechung Anfang des Jahres hieß es natürlich: Ja, aber zumindest für den Deutschunterricht können wir es hier an der Schule doch verbieten, oder? Super, dass wir eine Weiterentwicklung verbieten wollen. Das ist so typisch Lehrer. Viele von uns verstehen immer noch nicht, dass wir nicht Leistungen vergleichbar machen müssen, sondern Persönlichkeiten bilden. Talente ausbilden, das Ich stärken. Ich glaube, dass wir künstliche Intelligenz als Mitglied unserer Gesellschaft verstehen müssen, dass wir kennenlernen müssen, wortwörtlich den Feind umarmen müssen.

Nutzen Sie sie?

Ja, wenn es darum geht, einen ­Elternbrief in einfacher Schreibe zu verfassen etwa. Wir haben viele Eltern mit anderem Bildungs- und Migrationshintergrund. Oder letztens hat ein Lehrer eine Klassenfahrt nach Heidelberg damit organisiert. Die war in zehn Minuten geplant. Aber KI macht Fehler. Und deswegen ist die wichtigste Frage: Stimmt es? Und da sind wir bei dem entscheidenden Moment. Da habe ich Angst, dass uns das misslingen wird. 

Warum?

Was sind die sogenannten 4K, die vier Kompetenzen der Zukunft? Kommunikation, kreativ sein, kollaborativ sein und kritisches Denken. Wir müssen das kritische Denken in den Fokus von allem stellen. Wir haben noch nicht mal ansatzweise verstanden, dass uns das komplett auf links drehen wird. Eigentlich müssten jetzt schon KI-Experten oder mindestens ein IT-Experte zwei-, dreimal in der Woche an die Schule kommen und die Kinder unterrichten. Weil wir es nicht können. Wir Lehrkräfte sind erstmals in der Geschichte der Schule nicht mehr gut genug ausgebildet, die Kinder stark und resilient für die Zukunft zu machen.

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