Interview

Gerald Knaus

Wir brauchen Partnerschaften

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 11/2021

Erscheinungsdatum: 17. März 2021

Gerald Knaus im Falter Interview © Christiant Jorgensen
© Christiant Jorgensen
Zur Person

Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Er ist ein international bekannter Experte und berät Regierungen und Institutionen in Europa bei den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte.

Er gilt als Architekt des EU-Türkei-Migrationsabkommens, sein aktuelles Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ ist das Standardwerk zum Thema europäische Flüchtlingspolitik. Gerald Knaus, in Salzburg geboren, studierte Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna, gründete die Denkfabrik „European Stability Initiative“ und berät Regierungen und Institutionen in Europa zu den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte. Kommende Woche ist er Gast beim Wiener Stadtgespräch.

FALTER  Herr Knaus, in Österreich sorgte die Abschiebung gut integrierter Schulkinder nach Georgien für Aufsehen, Dänemark schickt Asylwerber nach Syrien zurück. Ist das die Vorhut für eine neue, schärfere Asylpolitik aus der Mitte Europas? 

Dänen und Österreicher reagieren hier beide mit einer sehr ähnlichen Strategie auf das Fehlen einer glaubwürdigen europäischen Politik. Sie senden das Signal an Asylsuchende: Geht lieber nach Deutschland oder Frankreich, kommt nicht zu uns! 

Also Abschreckung vor Abschiebung? 

Die gesamte Debatte um Abschiebungen in Europa wird unehrlich geführt. Keine Regierung ist in der Lage, Ausreisepflichtige in größerer Zahl abzuschieben. Es gab noch nie so wenige Abschiebungen aus der EU in Länder außerhalb Europas wie in den letzten zwei Jahren. So wird einmal hier ein Lehrling nach Afghanistan, dort eine Familie nach Georgien abgeschoben. Letzteres ist das Einfachste, weil Georgien kooperiert. Was sinnvoll wäre, wären schnelle faire Verfahren und dann wenige strategische Abschiebungen, die zukünftige irreguläre Migration reduzieren.  

Die gesamte Debatte um Abschiebungen in Europa wird unehrlich geführt. Keine Regierung ist in der Lage, Ausreisepflichtige in größerer Zahl abzuschieben.

Gerald Knaus

FALTER Dänemark und Österreich sind Länder, in denen rechtspopulistische Parteien die Politik in den letzten zwei Jahrzehnten extrem geprägt und den Konsens nach rechts verrückt haben. Ist das nicht eine Gefahr für Europa?

In der Frage der Grenz- und Asylpolitik sehe ich eine Entwicklung, die mittlerweile relativ wenig mit Rechtspopulisten zu tun hat. Alle Volksparteien sagen, überall: Wir brauchen eine Politik der Kontrolle. Die große Frage ist eine andere: Gibt es diese Kontrolle nur unter Aufgabe der Menschenwürde, der Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention? Oder gibt es Wege, Kontrolle herzustellen, ohne diese ­Fundamente der europäischen Werteordnung zu opfern? Da gibt es verschiedene Lager, und so ist die EU gespalten, jedes Land geht eigene Wege.

Warum ist Deutschland anders?

Seit 2015 gibt es in Deutschland eine große Minderheit von 30 bis 40 Prozent, die weniger Flüchtlinge aufnehmen will. Und es gibt auch heute eine knappe Mehrheit, die sagt: Wir kommen zurecht. Was für eine Politik wäre hier nachhaltig? Eine, die verspricht, die Zahl irregulärer Migranten, die keinen Schutz brauchen, zu reduzieren, aber Flüchtlingen zu helfen. Und das, ohne Menschen schlecht zu behandeln und ihre Würde infrage zu stellen. Das ist die Debatte in Berlin.

Hat das auch mit Deutschlands Bewusstsein, seiner historischen Schuld, der NS-Zeit, zu tun?

Es war nicht so, dass Deutschland als Lehre aus dem Dritten Reich begonnen hat, Flüchtlingen weltweit zu helfen. Doch eines haben Politiker verinnerlicht und erinnern daran bei jeder Rede: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und dafür gibt es parteiübergreifend Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. So finanziert die evangelische Kirche Deutschlands ein Seenotrettungsschiff mit. Vertriebenenverbände setzten sich 2015 für Flüchtlinge ein. Und letztlich haben die Deutschen von allen großen Industrieländern weltweit in den letzten zehn Jahren am allermeisten Flüchtlingen Schutz gegeben, und Rechtspopulisten sind trotzdem schwächer geblieben als in allen Nachbarländern. Ein Grund ist auch, dass viele Deutsche, die sich 2015 und danach engagiert haben, einen persönlichen Bezug zu Flüchtlingen haben. Ich erlebe das ständig, wenn ich mit Flüchtlingshelfern spreche. Das sind große Netzwerke, in Dörfern wie Städten, aus der Mitte der Gesellschaft. Das sind nicht nur linke, urbane Anhänger offener Grenzen. 

Ist da eine Art neue soziale Bewegung entstanden?

Ja, absolut. Eine soziale Bewegung, die dazu führt, dass etwa die CSU, als sie 2018 in Bayern einen Wahlkampf mit Signalen an AfD-Wähler führen wollte, schnell bemerkte: So verliert sie viele traditionelle Wähler an die Grünen. Bürgerliche Wählerinnen und Wähler, die sich engagieren und die jetzt nicht hören wollen, ihre Menschenliebe sei ein Irrtum gewesen. Die schockiert sind von dem, was auf den griechischen Inseln passiert. Daher plädiere ich für Flüchtlingspatenschaften wie in Kanada. Der persönliche Bezug zu Flüchtlingen ist die beste Erziehung zu Offenheit, besser als jede Predigt. Empathie lässt sich lernen. 

Das wäre Best Practice in einem Land. Was wäre auf EU-Ebene Best Practice? 

Für die EU ist dieses Thema ex­trem undankbar. Mit welcher Autorität kann die EU auftreten, wenn sie weiß, ein Drittel oder mehr ihrer Mitgliedsländer hat gar kein Problem mit Push-backs im Mittelmeer? Wir erleben gerade den Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit an den Außengrenzen. Das ungarische Asylgesetz ist illegal, der EuGH stellt das nach viereinhalb Jahren fest – und Orbán ignoriert das. Das ist Gift für Europa. Eine Lösung wird nicht auf der Ebene der 27 gefunden werden, sondern indem Deutschland, Frankreich und andere – hoffentlich auch Österreich – auf Griechenland, Malta, Italien und Spanien zugehen.

Mit welchem Vorschlag?

Eine praktische Vision mit vier Säulen. Schnelle und faire Verfahren: Das ist angesichts der niedrigen Zahlen Ankommender möglich. Schnelle Rückführung jener, die keinen Schutz in der EU brauchen. Verteilung und Aufnahme derjenigen, die dort Schutz bekommen. Und größere Unterstützung für Erstaufnahmeländer wie die Türkei, den Libanon, Bangladesch und Uganda.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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