Interview

Gregor Gysi 

Der linke deutsche Politiker über Finanzmärkte, Flüchtlingskrise und einen Schuldenschnitt für ganz Europa

Gespräch: Josef Redl

FALTER:  Nr. 42/2015

Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2015

Gregor Gysi im Gespräch mit Peter Huemer © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Gregor Gysi, 1948 in Berlin geboren, wuchs im Ost-Berlin der Nachkriegsjahre auf. Sein Vater Klaus Gysi war von 1966 bis 1973 DDR-Kulturminister. Gregor Gysi war ab den 1970er-Jahren als Rechtsanwalt tätig. Im Dezember 1989 wurde er zum Vorsitzenden der SED (später PDS) gewählt. Von 1990 bis 2002 saß er für die PDS im Bundestag. Gemeinsam mit dem Ex-SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine war er einer der Gründerväter der Linkspartei Die Linke, für die er bis heute ein Bundestagsmandat bekleidet

Am Donnerstag, den 15. Oktober 2015, absolviert der deutsche Bundestag ein ambitioniertes Programm. Eine Änderung des Batteriegesetzes steht ebenso auf der Tagesordnung wie ein Steuerabkommen mit Irland und ein Antrag der Grünen „für eine Bekämpfung von Rechtsextremismus im Sport und gegen eine Stigmatisierung von Fußballfans“. Lange davor steht ein Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke vom 29. September 2015 mit dem Titel „Alle Flüchtlinge willkommen heißen – Gegen eine Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung“ zur Debatte. Es dürfte einer der letzten Anträge sein, die mit „Dr. Gregor Gysi und Fraktion“ gezeichnet sind.

Gregor Gysi, eine der wesentlichen politischen Figuren des wiedervereinigten Deutschlands, rückt bei der Partei, die er mit aufgebaut hat, ins zweite Glied und gibt den Fraktionsvorsitz ab. Der Berliner Rechtsanwalt war ab 1989 Vorsitzender der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der Nachfolgeorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Sein Bundestagsmandat behält der für seine prononcierten Reden bekannte Politiker bei. Und auch sonst ist davon auszugehen, dass der sendungsbewusste Gysi für sein Wechselspiel zwischen Entertainment und Ideologie auch in absehbarer Zukunft eine Bühne finden wird. 

FALTER Herr Gysi, am 13. Oktober, einen Tag vor Erscheinen dieses Interviews, endet Ihr Vorsitz als Fraktionsvorsitzender der Linken. Wehmütig? 

Nein, war ich auch nie. Ich habe diese Entscheidung schon im Mai 2013 gefällt und seitdem gab es keinen Tag, an dem ich an dieser Entscheidung gezweifelt habe. Ich habe mir auch angesehen, wie das bei anderen deutschen Politikern ist. Die gehen immer erst, wenn sie tief im Keller sind, und nicht, wenn ihr Ansehen auf dem Zenit ist. Ich habe mir gedacht, das mache ich umgekehrt. 

Sie haben bei Ihrer letzten Parteitagsrede gesagt, die Partei hat einen Akzeptanzschub genommen. Das gilt auch für andere Linksparteien in Europa. Ein Resultat der Wirtschaftskrise? 

Es gibt leider in Europa auch einen Schub ganz nach rechts. Wenn ich mir die Entwicklung in Ungarn und Frankreich ansehe. In Griechenland hat glücklicherweise Syriza gewonnen, gleichzeitig hat die faschistische Partei Goldene Morgenröte zugelegt. Das ist eine sehr komplizierte Situation in der Europäischen Union. Aber auch die Linke, die durch den Zusammenbruch des gescheiterten Staatssozialismus insgesamt geschwächt war, erfährt wieder eine Stärkung. 

Sie haben eine Schuldenkonferenz für die gesamte Eurozone vorgeschlagen. Was soll dabei rauskommen? 

Ich habe nichts dagegen, dass man Griechenland entgegenkommt. Aber so einseitig geht das letztlich nicht. Wir müssen einmal die Gesamtschulden aller Eurostaaten besprechen und ein paar Fragen beantworten: Lassen wir alles, wie es ist, oder machen wir insgesamt einen Schuldenschnitt? Zu wessen Lasten würde ein Schuldenschnitt gehen – und kann man das ausgleichen? Und dann muss man sich fragen, ob wir eine gemeinsame Währung haben wollen, ohne dafür gemeinsam zu haften. Wenn wir dafür haften – was wir faktisch schon tun –, welche demokratisch legitimierte Institution ist dafür zuständig? Diese Fragen hätten alle vor der Euroeinführung geklärt werden sollen. Ich habe das schon 1998 gesagt: Wenn man eine gemeinsame Währung für so unterschiedliche Wirtschaftsräume wie Deutschland und Portugal einführt – ohne abgesprochene Standards bei Sozialleistungen und Steuern –, dann kann man all die Krisen vorhersehen, die leider auch wirklich eingetreten sind. Es hätte erst eine politische Union und dann eine Währungsunion gebraucht. Aber alle anderen waren damals klüger. 

Abgesehen von den Staatsschulden wird es in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich auch andere große Änderungen in der Weltwirtschaft geben. Glauben Sie, dass es in Zukunft wie bisher eine Ökonomie gibt, die auf Wachstum basiert? 

Wenn wir die Weltwirtschaft insgesamt sehen, wird es Wachstum geben. Da denke ich an Afrika, Asien und Lateinamerika. Bei uns wird es eher technologischen Fortschritt geben. Diese Fortschritte müssen sich dann auf die Arbeitszeit auswirken. Wichtiger sind aber die Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind Kriege wieder so etwas von üblich geworden – es ist unerträglich. Gleichzeitig hat die globale Digitalisierung dazu geführt, dass man auch in Afrika weiß, wie wir in Europa leben. Nun kommen alle Weltprobleme in Form von Flüchtlingen nach Europa. Das sind die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Meine Regierung wirkt unvorbereitet und überfordert. Die anderen auch. 

In den vergangenen Jahren hat man allerdings recht wenig globale Lösungskompetenz gesehen. Da ist es nach der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 100 Jahren ja nicht einmal gelungen, eine einhellig geforderte Regulierung des Finanzmarktes durchzusetzen. 

Die Deregulierung des Finanzmarktes hatte katastrophale Folgen. Wir haben kein Primat der Politik über die Finanzwelt, sondern ein Primat der Finanzwelt über die Politik. Alleine schon weil wir Demokratie nur in der Politik und nicht in der Finanzwelt haben, müssen wir dieses Primat wiederherstellen. Das ist gegenwärtig aber sehr schwierig, weil wir keine funktionierende Weltpolitik haben. Das liegt daran, dass man nach dem Kalten Krieg Reformen verabsäumt hat. Die Uno hat im Kalten Krieg funktioniert, aber danach hätte sie reformiert werden müssen. Das ist partiell auch in der EU ausgeblieben. Wir haben zwar neue Mitglieder aufgenommen, aber die Strukturen nicht verändert. Ich bin Zweckoptimist und glaube daher an die Vernunft des Menschen. Sie kommt meistens jedoch nur zum Vorschein, wenn der Druck groß genug wird. 

"Ich bin Zweckoptimist und glaube daher an die Vernunft im Menschen, auch wenn sie erst zum Vorschein kommt, wenn der Druck groß genug wird"

Gregor Gysi

FALTER Der Druck wäre auch in der Finanzkrise groß genug gewesen. 

Schon. Die Leute haben auch gestaunt, wie den Banken Milliarden zur Verfügung gestellt wurden, während für sie nichts da ist. Das hat vielleicht ein Unmutsgefühl hinterlassen. Aber die Flüchtlinge, die sind jetzt richtig konkret. Die sind in jeder Stadt. Plötzlich wird auch meine Regierung auf eine Art und Weise mit den Weltproblemen konfrontiert, dass sie beginnt zu erkennen, dass man wieder eine funktionierende Weltpolitik benötigt.Die Uno hat vor 45 Jahren beschlossen, dass die Industriestaaten 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe ausgeben sollen. Heute liegt sie in Deutschland bei 0,4 Prozent. Und was sagt Frau Merkel in New York: dass wir jetzt endlich diese 0,7 Prozent umsetzen müssen. Warum kommt sie wohl jetzt zu dieser Erkenntnis? Wegen des Drucks durch die Flüchtlinge. 

Druck führt aber nicht immer zu Vernunft, er kann auch in die andere Richtung entweichen. In Deutschland brennen Asylantenheime. Kippt hier die Stimmung? 

Ich bin sehr erstaunt, wie viel Hilfsbereitschaft und ehrenamtliche Tätigkeit es hier gibt. Vor 20 Jahren gab es das nicht. Da ist etwas Neues entstanden. Das hat auch die Wissenschaft noch nicht ergründet, woher diese sehr zu würdigende Bereitschaft kommt. Aber auf der anderen Seite werden die abstrakten Ängste geschürt. Ich stelle immer wieder fest: Wo Menschen muslimischen Glaubens leben, werden die Rechtsextremen nicht gewählt. Dort, wo sie nicht leben, wo die Angst eine abstrakte ist, da hat der Rechtspopulismus Erfolg. 

Die freiwilligen Helfer übernehmen ja eigentlich Aufgaben des Staates. Ist das nicht ein Totalversagen im staatlichen Management?

Ja. Wenn der Bund nicht eingreift und das übernimmt, kann – und da haben Sie recht – die Stimmung kippen. Eine Weile lang machen die Menschen das: Sie helfen. Aber wenn sich der Staat daran gewöhnt, seine Aufgaben von anderen erledigen zu lassen, wird das nicht gutgehen. Wir werden auch große Anstrengungen unternehmen müssen, die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Außerdem müssen wir so schnell wie möglich den Spracherwerb bei Flüchtlingen fördern und dürfen dabei den armen Teil unserer Bevölkerung nicht vergessen. 

Apropos Arbeitsmarkt: Der österreichische Finanzminister Hans Jörg Schelling hat kürzlich Hartz IV als Anreizmodell gelobt, damit die Leute wieder in den Arbeitsmarkt kommen. Ich nehme an, Sie teilen diese Ansicht nicht. 

Da hat Ihr Finanzminister Illusionen, er sollte sich mal die realen Zahlen ansehen. Nur ein ganz geringer Teil wird wirklich auf dem Arbeitsmarkt integriert. Das wurde bei uns ja damals unter dem Titel „Fördern und Fordern“ verkauft. Aus dem Fördern ist nichts geworden, aus dem Fordern schon. Die prekäre Beschäftigung, insbesondere die Leiharbeit, die laufend befristeten Arbeitsverträge – das hat ja einen sagenhaften Umfang erreicht. Wir haben viel weniger Arbeitslosigkeit in Deutschland, aber auch viel weniger Vollbeschäftigung. Eines der großen Probleme bei Hartz IV ist es, dass die Jobcenter viel zu wenig Mittel haben, um die Arbeitslosen so zu fördern, dass sie wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. 

Angela Merkel ist zuletzt von ihrem Kurs, die Grenzen zu öffnen, öffentlich wieder ein wenig abgewichen. Warum? 

Ihre Sätze waren humanistisch geprägt, das liegt vielen in der Union nicht. Die wollen einen härteren Kurs. Die rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ erfährt laut Umfragen in Ostdeutschland und in Bayern besonders viel Zustimmung. Wenn der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer glaubt, mit seiner Linie bekommt er die Stimmen der AfD-Sympathisanten, irrt er sich. Er macht nur die Politik der AfD salonfähig. Wählen werden die Leute dann aber gleich das Original und nicht die CSU.

Die Thesen

Punkt 1

Menschen Selbstwertgefühl vermitteln

Anführer rechtsextremer Strukturen kommen aus dem Westen Deutschlands, Zuspruch finden sie in Bayern und im Osten Deutschlands. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, die kein internationales Leben führte. Soziale Verwerfung schürt Ängste. Der Rechtsextremismus bietet Menschen Selbstwertgefühle zum Null-Tarif, ohne dass sie dafür eine Leistung erbringen müssten. Man muss sich Gedanken machen, wie man einer bestimmten Schicht der Bevölkerung zu einem Selbstwertgefühl verhilft, ohne dass der Rechtsextremismus damit Erfolg hat.

Punkt 2

Einfache Sprache anwenden

Es geht darum, eine Sprache zu finden, die verständlich ist. Es geht darum zu übersetzen – aus der juristischen Sprache und in der Politik. Gysi versucht, diesbezüglich populär zu sein. Sein Lieblingsbeispiel einer Übersetzung ist jenes der Veräußerungserlös-Gewinnsteuer.

Punkt 3

Die Linke und der Mittelstand

Die Linke muss lernen, ein Bündnis mit dem Mittelstand einzugehen, um die Macht der Konzerne und der Banken zu beschränken. Dieses Bündnis darf kein Zweckbündnis sein.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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