Gespräch: Josef Redl
FALTER: Nr. 42/2015
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2015
Am Donnerstag, den 15. Oktober 2015, absolviert der deutsche Bundestag ein ambitioniertes Programm. Eine Änderung des Batteriegesetzes steht ebenso auf der Tagesordnung wie ein Steuerabkommen mit Irland und ein Antrag der Grünen „für eine Bekämpfung von Rechtsextremismus im Sport und gegen eine Stigmatisierung von Fußballfans“. Lange davor steht ein Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke vom 29. September 2015 mit dem Titel „Alle Flüchtlinge willkommen heißen – Gegen eine Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung“ zur Debatte. Es dürfte einer der letzten Anträge sein, die mit „Dr. Gregor Gysi und Fraktion“ gezeichnet sind.
Gregor Gysi, eine der wesentlichen politischen Figuren des wiedervereinigten Deutschlands, rückt bei der Partei, die er mit aufgebaut hat, ins zweite Glied und gibt den Fraktionsvorsitz ab. Der Berliner Rechtsanwalt war ab 1989 Vorsitzender der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der Nachfolgeorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Sein Bundestagsmandat behält der für seine prononcierten Reden bekannte Politiker bei. Und auch sonst ist davon auszugehen, dass der sendungsbewusste Gysi für sein Wechselspiel zwischen Entertainment und Ideologie auch in absehbarer Zukunft eine Bühne finden wird.
Nein, war ich auch nie. Ich habe diese Entscheidung schon im Mai 2013 gefällt und seitdem gab es keinen Tag, an dem ich an dieser Entscheidung gezweifelt habe. Ich habe mir auch angesehen, wie das bei anderen deutschen Politikern ist. Die gehen immer erst, wenn sie tief im Keller sind, und nicht, wenn ihr Ansehen auf dem Zenit ist. Ich habe mir gedacht, das mache ich umgekehrt.
Es gibt leider in Europa auch einen Schub ganz nach rechts. Wenn ich mir die Entwicklung in Ungarn und Frankreich ansehe. In Griechenland hat glücklicherweise Syriza gewonnen, gleichzeitig hat die faschistische Partei Goldene Morgenröte zugelegt. Das ist eine sehr komplizierte Situation in der Europäischen Union. Aber auch die Linke, die durch den Zusammenbruch des gescheiterten Staatssozialismus insgesamt geschwächt war, erfährt wieder eine Stärkung.
Ich habe nichts dagegen, dass man Griechenland entgegenkommt. Aber so einseitig geht das letztlich nicht. Wir müssen einmal die Gesamtschulden aller Eurostaaten besprechen und ein paar Fragen beantworten: Lassen wir alles, wie es ist, oder machen wir insgesamt einen Schuldenschnitt? Zu wessen Lasten würde ein Schuldenschnitt gehen – und kann man das ausgleichen? Und dann muss man sich fragen, ob wir eine gemeinsame Währung haben wollen, ohne dafür gemeinsam zu haften. Wenn wir dafür haften – was wir faktisch schon tun –, welche demokratisch legitimierte Institution ist dafür zuständig? Diese Fragen hätten alle vor der Euroeinführung geklärt werden sollen. Ich habe das schon 1998 gesagt: Wenn man eine gemeinsame Währung für so unterschiedliche Wirtschaftsräume wie Deutschland und Portugal einführt – ohne abgesprochene Standards bei Sozialleistungen und Steuern –, dann kann man all die Krisen vorhersehen, die leider auch wirklich eingetreten sind. Es hätte erst eine politische Union und dann eine Währungsunion gebraucht. Aber alle anderen waren damals klüger.
Wenn wir die Weltwirtschaft insgesamt sehen, wird es Wachstum geben. Da denke ich an Afrika, Asien und Lateinamerika. Bei uns wird es eher technologischen Fortschritt geben. Diese Fortschritte müssen sich dann auf die Arbeitszeit auswirken. Wichtiger sind aber die Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind Kriege wieder so etwas von üblich geworden – es ist unerträglich. Gleichzeitig hat die globale Digitalisierung dazu geführt, dass man auch in Afrika weiß, wie wir in Europa leben. Nun kommen alle Weltprobleme in Form von Flüchtlingen nach Europa. Das sind die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Meine Regierung wirkt unvorbereitet und überfordert. Die anderen auch.
Die Deregulierung des Finanzmarktes hatte katastrophale Folgen. Wir haben kein Primat der Politik über die Finanzwelt, sondern ein Primat der Finanzwelt über die Politik. Alleine schon weil wir Demokratie nur in der Politik und nicht in der Finanzwelt haben, müssen wir dieses Primat wiederherstellen. Das ist gegenwärtig aber sehr schwierig, weil wir keine funktionierende Weltpolitik haben. Das liegt daran, dass man nach dem Kalten Krieg Reformen verabsäumt hat. Die Uno hat im Kalten Krieg funktioniert, aber danach hätte sie reformiert werden müssen. Das ist partiell auch in der EU ausgeblieben. Wir haben zwar neue Mitglieder aufgenommen, aber die Strukturen nicht verändert. Ich bin Zweckoptimist und glaube daher an die Vernunft des Menschen. Sie kommt meistens jedoch nur zum Vorschein, wenn der Druck groß genug wird.
Gregor Gysi
Schon. Die Leute haben auch gestaunt, wie den Banken Milliarden zur Verfügung gestellt wurden, während für sie nichts da ist. Das hat vielleicht ein Unmutsgefühl hinterlassen. Aber die Flüchtlinge, die sind jetzt richtig konkret. Die sind in jeder Stadt. Plötzlich wird auch meine Regierung auf eine Art und Weise mit den Weltproblemen konfrontiert, dass sie beginnt zu erkennen, dass man wieder eine funktionierende Weltpolitik benötigt.Die Uno hat vor 45 Jahren beschlossen, dass die Industriestaaten 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe ausgeben sollen. Heute liegt sie in Deutschland bei 0,4 Prozent. Und was sagt Frau Merkel in New York: dass wir jetzt endlich diese 0,7 Prozent umsetzen müssen. Warum kommt sie wohl jetzt zu dieser Erkenntnis? Wegen des Drucks durch die Flüchtlinge.
Ich bin sehr erstaunt, wie viel Hilfsbereitschaft und ehrenamtliche Tätigkeit es hier gibt. Vor 20 Jahren gab es das nicht. Da ist etwas Neues entstanden. Das hat auch die Wissenschaft noch nicht ergründet, woher diese sehr zu würdigende Bereitschaft kommt. Aber auf der anderen Seite werden die abstrakten Ängste geschürt. Ich stelle immer wieder fest: Wo Menschen muslimischen Glaubens leben, werden die Rechtsextremen nicht gewählt. Dort, wo sie nicht leben, wo die Angst eine abstrakte ist, da hat der Rechtspopulismus Erfolg.
Ja. Wenn der Bund nicht eingreift und das übernimmt, kann – und da haben Sie recht – die Stimmung kippen. Eine Weile lang machen die Menschen das: Sie helfen. Aber wenn sich der Staat daran gewöhnt, seine Aufgaben von anderen erledigen zu lassen, wird das nicht gutgehen. Wir werden auch große Anstrengungen unternehmen müssen, die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Außerdem müssen wir so schnell wie möglich den Spracherwerb bei Flüchtlingen fördern und dürfen dabei den armen Teil unserer Bevölkerung nicht vergessen.
Da hat Ihr Finanzminister Illusionen, er sollte sich mal die realen Zahlen ansehen. Nur ein ganz geringer Teil wird wirklich auf dem Arbeitsmarkt integriert. Das wurde bei uns ja damals unter dem Titel „Fördern und Fordern“ verkauft. Aus dem Fördern ist nichts geworden, aus dem Fordern schon. Die prekäre Beschäftigung, insbesondere die Leiharbeit, die laufend befristeten Arbeitsverträge – das hat ja einen sagenhaften Umfang erreicht. Wir haben viel weniger Arbeitslosigkeit in Deutschland, aber auch viel weniger Vollbeschäftigung. Eines der großen Probleme bei Hartz IV ist es, dass die Jobcenter viel zu wenig Mittel haben, um die Arbeitslosen so zu fördern, dass sie wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Ihre Sätze waren humanistisch geprägt, das liegt vielen in der Union nicht. Die wollen einen härteren Kurs. Die rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ erfährt laut Umfragen in Ostdeutschland und in Bayern besonders viel Zustimmung. Wenn der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer glaubt, mit seiner Linie bekommt er die Stimmen der AfD-Sympathisanten, irrt er sich. Er macht nur die Politik der AfD salonfähig. Wählen werden die Leute dann aber gleich das Original und nicht die CSU.
Anführer rechtsextremer Strukturen kommen aus dem Westen Deutschlands, Zuspruch finden sie in Bayern und im Osten Deutschlands. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, die kein internationales Leben führte. Soziale Verwerfung schürt Ängste. Der Rechtsextremismus bietet Menschen Selbstwertgefühle zum Null-Tarif, ohne dass sie dafür eine Leistung erbringen müssten. Man muss sich Gedanken machen, wie man einer bestimmten Schicht der Bevölkerung zu einem Selbstwertgefühl verhilft, ohne dass der Rechtsextremismus damit Erfolg hat.
Es geht darum, eine Sprache zu finden, die verständlich ist. Es geht darum zu übersetzen – aus der juristischen Sprache und in der Politik. Gysi versucht, diesbezüglich populär zu sein. Sein Lieblingsbeispiel einer Übersetzung ist jenes der Veräußerungserlös-Gewinnsteuer.
Die Linke muss lernen, ein Bündnis mit dem Mittelstand einzugehen, um die Macht der Konzerne und der Banken zu beschränken. Dieses Bündnis darf kein Zweckbündnis sein.