Interview

Ingrid Brodnig 

Ich war immer schon ein Geek

Gespräch: Anna Goldenberg

FALTER:  Nr. 20/21

Erscheinungsdatum: 18. Mai 2021

Ingrid Brodnig im Falter Interview © Heribert Corn
© Heribert Corn
Zur Person

Jahrgang 1984, Absolventin der FH Joanneum in Graz, war von 2007 bis 2015 Redakteurin des Falter, wo sie auch das Medien-Ressort leitete. Anschließend wechselte sie für zwei Jahre zum Nachrichtenmagazin profil, für das sie eine Kolumne schreibt. Brodnig ist Autorin von fünf Büchern. Für „Hass im Netz“ erhielt sie 2016 den Bruno-Kreisky-Sonderpreis für das politische Buch. Sie hält Workshops und Vorträge zu Themen der Digitalisierung.

Als „Mini-Medium“ beschreibt sie sich. Ingrid Brodnig, deren journalistische Anfänge beim Falter liegen, ist seit Jahren die Internet-Erklärerin der Nation. Die 36-Jährige hat mittlerweile fünf Bücher geschrieben über die großen Fragen, die Internetnutzer umtreiben: Wie umgehen mit Hass im Netz, wie mit Anonymität und wie mit Falschmeldungen? Auch mit der Macht der US-Digitalkonzerne hat sie sich bereits auseinandergesetzt. In „Einspruch!“, das im Jänner erschien, beschäftigt sie sich damit, wie man in Diskussionen Verschwörungstheorien entkräften kann – vor allem jene rund um Corona. Mit dem ­Falter sprach Brodnig über „Deplatforming“, den Idealismus des E-Mails und warum sie Verschwörungserzählungen rund um Bill Gates auch nachvollziehen kann.

FALTER Frau Brodnig, wann sind Sie das letzte Mal einer Falschmeldung aufgesessen?

Als die Satireseite Die Tagespresse sehr neu war, gab es einen Artikel über ein neues Maskottchen der römisch-katholischen Kirche. Das war Keuschi, das Känguruh, das für Keuschheit bei Jugendlichen plädiert. Ich habe es am Anfang für wahr gehalten. Man ist immer dann empfänglich, Falschmeldungen zu glauben, wenn sie die eigenen Vorurteile bestätigen. Und für mich war das, dass die Kirche einen seltsamen Umgang mit Sexualität und keinen wirklichen Zugang zur Jugendkultur hat. Ich geh übrigens auch davon aus, dass es Falschmeldungen gibt, die ich nach wie vor glaube, ohne zu wissen, dass es Falschmeldungen sind. 

Warum?

Man ortet das Problem der Irreführung bei anderen viel besser als bei sich selbst. Das nennt man den „Third-Person Effect“. Leute stufen die Chance, selbst auf etwas reinzufallen, niedriger ein als bei anderen. Rechnerisch geht sich das nicht aus. Peter Filzmaier hat in einer Umfrage gezeigt, dass nur vier von zehn Österreichern meinen, dass sie sich selbst schwertun, zwischen Fake und realen News zu unterscheiden. Aber acht von zehn Befragten meinen, dass andere sich schwertun. Entweder überschätzt man sich selbst oder man unterschätzt die anderen – oder beides.

Man ortet das Problem der Irreführung bei anderen viel besser als bei sich selbst.

Ingrid Brodnig

FALTER Welche Falschmeldungen und Verschwörungstheorien sind die erfolgreichsten?

Viele aktuelle Erzählungen sind in der Sache völlig unsinnig, aber sie funktionieren, weil dabei Bedürfnisse, Feindbilder oder Ängste mitschwingen, die Leute haben. Die Mythen rund um Bill Gates zeigen das. Gates fördert ja mit seiner Stiftung tatsächlich viel Forschung und Impfprogramme in Entwicklungsländern. Das macht ihn zum Feindbild von Impfgegnern. Aber manchmal können auch jene Menschen der Anti-Bill-Gates-Rhetorik etwas abgewinnen, die Sorge haben, dass Superreiche sehr stark beeinflussen, welche Forschung stattfindet oder welche medizinischen Programme ermöglicht werden. Es ist leicht, Verschwörungsmythen zu belächeln, aber beim Diskutieren sollte man genau hinhören, was eine Erzählung für jemanden attraktiv macht. Und dann beispielsweise sagen, ich kann deine Skepsis rund um superreiche Mäzene nachvollziehen, aber man sollte fair bleiben und Gates nur daran bewerten, was er getan hat. 

Nach den Ausschreitungen im US-Kapitol Anfang Jänner haben Facebook und Twitter die Accounts von Donald Trump gesperrt. Auch er hat Falschmeldungen verbreitet, etwa, dass die Wahl gefälscht worden sei. Ist es nicht gefährlich, wenn private Unternehmen so etwas entscheiden können?  

Das Oversight Board von ­Facebook, eine Art fachlicher Beirat der Plattform, kam in seiner Stellungnahme Anfang Mai zu dem Ergebnis, dass es gerechtfertigt war, Trump auszusperren, weil seine Postings das Risiko der Gewalt vergrößerten. Man könnte die Frage stellen, warum so lange gewartet wurde. Mein Eindruck ist, dass Social-Media-Plattformen oft erst spät reagieren, und dann, wenn es politisch opportun ist. Also zum Beispiel, wenn Trump tatsächlich die Wahl verloren hat und die Demokraten die Führung übernehmen. Ich finde aber auch, auf lange Sicht sollte es nicht die Entscheidung von wenigen Unternehmen sein, wer Zugang zu einem Milliardenpublikum bekommt. Man könnte überlegen, die gerichtlichen Zuständigkeiten auszudehnen oder eine Medienaufsicht in Europa einzuführen, die Leitlinien formuliert, wann es notfalls in Ordnung ist, einen relevanten Politiker auszusperren. 

Und wenn jemand wie Martin Sellner von Youtube gesperrt wird, der zwar extremistische Ideologien verbreitet, aber vom Einfluss nicht mit einem US-Präsidenten zu vergleichen ist?

Es gibt Untersuchungen, die zeigten, dass rechtsextreme Akteure, die von großen Plattformen verbannt werden, auf kleineren Plattformen weniger Reichweite erzielen. In Österreich, in Europa kann ich klagen, wenn ich entfernt werde; auch Sellner hat das getan und ist abgeblitzt. Auf lange Sicht werden wir mehr Gerichtsverfahren rund um solche Fragen haben. Und so wenig Sympathie ich für Martin Sellner habe, halte ich es für notwendig, Sperren transparent zu machen, weil wir erst dann darüber vernünftig diskutieren können. Vergangenes Jahr ist Facebook beispielsweise strenger gegen einige rechtsextreme Milieus vorgegangen. Es sind aber auch antirassistische Skinheads gesperrt worden. Facebook hat später eingeräumt, dass das ein Fehler war, und sie wieder zugelassen. Wir wissen aber nicht, ob ein Fehler passierte, weil ein Algorithmus irrte oder ein menschlicher Moderator falsch lag. Das ist ein Problem.

Ist das Oversight Board von Facebook, das seit Oktober 2020 arbeitet, ein Schritt in die richtige Richtung?

Darin sitzen namhafte Expertinnen und Experten, die es ernst nehmen, wie der frühere Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger. Aber am Ende ist es nur ein beratendes Gremium für Facebook. Das ist besser, als es vorher war. Aber man darf es nicht mit einem Höchstgericht vergleichen. Als Mark Zuckerberg es 2018 ankündigte, beschrieb er es „fast wie ein Höchstgericht“. Aber es gibt das Board nur, weil Facebook es finanziert. Wenn Facebook die Entscheidungen ignoriert, passiert auch nichts. 

Der Digital Services Act der EU-Kommission will den großen Platt­formen mehr Transparenz auferlegen. So sollen mehr Daten an die Forschung weitergegeben werden dürfen, um wirklich zu verstehen, wie sehr der Algorithmus das menschliche Ver­halten beeinflusst. Wird das gelingen?

Ich bin zuversichtlich, dass die EU-Kommission es ernst meint, den großen Digitalkonzernen auf die Füße zu steigen. Viele Politiker wurden zudem bereits Opfer von Hasskommentaren und Falschmeldungen. Das erhöht die Chance, dass sie es ernst nehmen. Meine Erfahrung mit europäischen Verhandlungsprozessen ist, dass es im Finish ein extremes Tauziehen gibt, die Frage bleibt, ob sich gewisse Wirtschaftsinteressen oder zivilgesellschaftliche Anliegen durchsetzen. Die Datenschutzgrundverordnung wurde auch deshalb so streng, weil gerade die NSA-Affäre aufflog. Damals wurde klar, unsere Daten und unsere Privatsphäre sind gefährdet. 

Hat denn da die EU realistischerweise überhaupt diese Macht?

Jeder, der mir ein Produkt in meinem Wirtschaftsraum verkauft, muss meine Regeln befolgen. Wieso soll das Digitale die erste Wirtschaftssparte sein, die nicht reguliert werden kann? Wenn die EU strengere Regeln hat, gehe ich davon aus, dass die von Facebook, Youtube und Co befolgt werden. Für Facebook sind die USA der größte Markt für Werbeeinnahmen. An zweiter Stelle kommt schon Europa. Kein Digitalkonzern kann den eigenen Aktionären erklären, warum er auf diesen Markt verzichtet. 

Sie gehören zu der Generation, die als Teenager erstmals mit dem Internet in Kontakt kamen. Wie hat sich das damals angefühlt?

Einer unserer Informatiklehrer hieß Url. An den Schulcomputern waren viele Websiten gesperrt, es stand immer „URL is not allowed“. Ich habe mir immer gedacht, es ist so gemein vom Professor Url, dass er alles sperrt ... Die ersten Gehversuche im Netz gaben mir das Gefühl: Dieses Ding wird alles verändern. Das ist der Grund, warum ich mich als Journalistin darauf spezialisiert habe. Ich war immer ein Geek. Und ich kann bis heute der Annahme, dass das Internet eine Chance für eine sachlichere, respektvollere, bessere Debatte bietet, etwas abgewinnen. Der Fehlschluss war damals allerdings, dass sich diese gute Seite nicht automatisch zeigt. Außerdem gab es in den Nullerjahren diese Entwicklung, dass aus einer Vielzahl der digitalen Angebote eine Monokultur von wenigen dominanten Plattformen wurde. Hätten wir an den Idealvorstellungen festgehalten, hätten wir heute ein besseres Internet. Ein Beispiel: Von einer Gmail-Adresse kann ich E-Mails an Leute mit einer Hotmail-Adresse schicken. Das erlaubt die Interoperabilität von E-Mails. Aber eine Nachricht auf Facebook kann ich nicht an jemanden auf Signal schicken. Da wurde die Interoperabilität gezielt eingeschränkt, damit die Plattformen die Leute im eigenen Reich behalten.

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