Interview

Kerstin Jürgens 

Wo fängt die Arbeit an und wo hört das Vergnügen auf? Die deutsche Soziologin Kerstin Jürgens untersucht die Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit und erforscht neue Beschäftigungsarten.

Gespräch: Josef Redl

FALTER:  Nr. 10/2018

Erscheinungsdatum: 7. März 2018

43. Wiener Stadtgespräch mit Kerstin Jürgens © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Kerstin Jürgens, 1970 geboren, ist eine deutsche Soziologin und seit 2008 Professorin an der Universität Kassel. Sie forscht zu Fragen rund um den Wandel der Arbeitswelt; hierzu zählen die Digitalisierung, neue Arbeitsformen und Arbeitszeitgestaltung sowie die Gesunderhaltung im Arbeitsleben und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Jürgens war langjährige Vorsitzende der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und Mitglied des Beraterkreises des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) im Weißbuchprozess „Arbeiten 4.0“ (2015–2017)

FALTER:  Wir kommen aus einer Kultur der Normalarbeitszeit. Wie zeitgemäß ist das Konzept der 40-Stunden-Woche?

Die Normalarbeitszeit ist durch zwei Momente ins Wanken geraten. Zum einen hat das sehr stark damit zu tun, dass mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt sind. Frauen haben immer noch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu bewältigen, deswegen brauchen sie Teilzeitangebote. Zugleich aber hat eine Deregulierung am Arbeitsmarkt stattgefunden: Unternehmen bevorzugen flexible Arbeitskräfte, die sie in den Tagesrandzeiten beschäftigen oder auch leichter entlassen können.

Sollte die Politik hier stärker regulieren?

Das Normalarbeitsverhältnis ist eine soziale Errungenschaft. Es garantiert zum Beispiel existenzsicherndes Entgelt, soziale Absicherung, Urlaub und Planung fürs Leben. Heute entstehen mit der Digitalisierung neue Arbeitsformen wie etwa Crowdwork, wo man mobil und flexibel für mehrere Arbeitgeber arbeitet. Für solche Phänomene haben wir noch keine tragfähigen Regeln. Es gibt rege Diskussionen unter Juristen, aber es ist auffällig, dass die Politik dieses Regelungsfeld noch nicht in die Hand nimmt.

Warum?

Weil es kompliziert ist. Das Arbeitsrecht geht davon aus, dass sich der Arbeitnehmer in eine persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber begibt und der Arbeitgeber jemanden anstellt, für den er auch eine gewisse Verantwortung übernimmt. Das hat sich historisch bewährt. Unternehmen wie der Fahrdienstvermittler Uber definieren sich aber nicht als Arbeitgeber, sondern nur als Vermittler – und sie lehnen alle Pflichten und Verantwortungen ab, die ein Arbeitgeber hat. Auf die Gesellschaft können also immense Kosten zukommen, weil diese Erwerbstätigen keinen Anspruch auf Urlaub oder Weiterbildung haben und auch selten für die Rente vorsorgen.

Sollte hier ein neuer Typus von Arbeitsverhältnis definiert werden?

Genau. Wichtig dabei ist, dass Standards eingezogen werden, die sich als ökonomisch und gesellschaftlich vorteilhaft erwiesen haben. Das beginnt bei der Frage, ob das Entgelt gesichert ist. Wenn beispielsweise ein Uber-Fahrer auf seinen nächsten Auftrag wartet, dann wäre das in einem Beschäftigungsverhältnis Arbeitszeit. So aber bleibt es unbezahlte Bereitschaftszeit, ist aber eben keine Freizeit. Sicherzustellen wäre, dass Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Die neue Pluralität am Arbeitsmarkt verlangt also auch nach neuen Antworten.

Dieser Prozess scheint irreversibel.

Seit den 80er-Jahren sehen wir, dass Unternehmen flexible Modelle nachfragen, um sich an wechselnde Märkte, aber auch veränderte Konsumwünsche anzupassen. Viele wollen länger einkaufen und Dienstleistungen spontan in Anspruch nehmen können. Das Dilemma aber ist, dass dann irgendjemand diese Leistung auch flexibel anbieten muss, auch am Sonntag, zu Weihnachten, also zu sozial vielleicht nicht so verträglichen Zeiten. Das ist eben die Widersprüchlichkeit in einer Dienstleistungsgesellschaft.

Führt die zeitliche Flexibilisierung automatisch zu einem Anstieg der Selbstständigkeit?

Zeitliche Flexibilität kann genauso im Rahmen des klassischen Beschäftigungsverhältnisses geleistet werden, das hängt also eher von den Prinzipien ab, nach denen man Arbeit organisieren will.

Sie sagen, wir befinden uns in einer Reproduktionskrise. Warum?

Die erste industrielle Revolution ging nicht nur mit einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitsweise, sondern auch der Lebensweise der Menschen einher. Die Arbeit wurde weitestgehend von den Lebensbereichen der Menschen getrennt, fand in Fabriken statt. Die Menschen haben ihre Arbeitskraft rund um die Uhr verausgabt. Die negative Begleiterscheinung waren eine hohe Kindersterblichkeit und die Verelendung der Bevölkerung. Arbeitskraft wurde also exzessiv verschlissen. Darauf musste der Staat im eigenen Interesse reagieren und hat sich für eine Sozialpolitik entschieden. Er hat also auf die Reproduktionskrise innovativ geantwortet. Meine These ist, dass wir uns erneut in einer Reproduktionskrise befinden. Die Gesunderhaltung der Arbeitskräfte gelingt nicht ideal. Wir haben dramatische Zahlen insbesondere zu psychischer Erschöpfung. Und der Geburtenrückgang zieht natürlich negative Effekte für die sozialen Sicherungssysteme nach sich.

Also auch eine familienpolitische Aufgabe.

Auffälligerweise wird Familienpolitik kaum in Bezug auf den Arbeitsplatz diskutiert. Es ist heute vielfach nicht der fehlende Kindergartenplatz, der dazu führt, dass sich Menschen gegen eine Familiengründung entscheiden, sondern die Unsicherheit in der Beschäftigung oder der Leistungs- und Konkurrenzdruck. Nach wie vor nehmen in erster Linie Frauen bei der Geburt eines Kindes Freistellungen und Elternzeit in Anspruch.

Viele Frauen kehren nach der Familiengründung nicht mehr oder lange nicht in die Vollzeitbeschäftigung zurück.

Bei Frauen ist die Frage, wie sehr sich auch der Partner um die Kinder kümmert, sehr entscheidend. Wenn beide Teile sich um Erwerb und Familie kümmern, ist die Chance auch deutlich größer, dass sich ein Paar für mehr als ein Kind entscheidet. Erlebt die Frau, dass der Mann seine Arbeitszeit nicht reduziert und sich in die klassische Ernährerrolle verabschiedet, dann beeinflusst das auch die Haltung zur Familienerweiterung. Die Frage der Zeitsouveränität, also wie sich Paare ihre Arbeitszeit einteilen können, ist also ganz wichtig.

Sie verwenden den Begriff der „Entgrenzung“ zwischen Arbeit und Freizeit. Ist das etwas Negatives?

Das kann etwas sehr Positives sein, wenn ich selbstbestimmt entscheiden kann, wann ich zu arbeiten anfange oder aufhöre. Negativ wird es dann, wenn die flexible Gestaltung der Arbeitszeit rein von Dritten bestimmt wird. Das können Vorgesetzte, Kunden oder auch Teamkollegen sein, die Druck ausüben. Dann arbeite ich unfreiwillig entgrenzt. Die Folge können lange Arbeitszeiten oder auch die ständige Erreichbarkeit am Abend oder an den Wochenenden sein.

Das lässt sich schwer verhindern.

In einer vernetzten und digitalisierten Welt ist das kaum vorstellbar. Wir sehen allerdings bei Befragungen von Beschäftigten, dass sie diese Verfügbarkeit an Wochenenden und am Abend als Störung empfinden. Wichtig wäre also, sich innerhalb eines Unternehmens darüber zu verständigen, wie man mit Kommunikation umgehen will. Ein härteres und damit aber auch belastbares Instrument wären Betriebsvereinbarungen oder Gesetze, in denen man ein Recht auf Nichterreichbarkeit definiert. Dort, wo der Arbeitsaufwand weniger planbar ist, also zum Beispiel in Krankenhäusern oder bei der Feuerwehr, gibt es Bereitschaftsdienste. Problematisch wird es immer dann, wenn die Personaldecke eines Unternehmens so dünn ist, dass keine verlässliche Planung gewährleistet ist. Dann bleibt es am einzelnen Arbeitnehmer hängen, auf Ausgleich zu achten.

Es gibt Prognosen, die gerne mit einer gewissen Angstlust zitiert werden, dass im Laufe der Digitalisierung bis zu 50 Prozent aller Jobs verloren gehen könnten. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es ist zu früh, um seriöse Prognosen treffen zu können. Ich glaube aber, dass solche Prognosen dazu führen, dass wir alarmiert sind. Das ist vielleicht ganz gut.

Warum?

Wenn durch den technologischen Fortschritt schwerwiegende Veränderungen am Arbeitsmarkt auf uns zukommen, ist es gut, wenn wir alarmiert sind. Es gibt ja auch Prognosen, die meinen, Auf- und Abbau von Jobs könnten sich die Waage halten. Das sollte uns nicht beruhigen, denn für die einzelnen Betroffenen und mitunter ganze Branchen kann es zu Umwälzungen kommen. Wir haben das schon in der Logistik gesehen, und es wird auch höher qualifizierte Tätigkeiten treffen.

In diesem Fall ist also ein Alarmismus positiv?

Die Digitalisierung ist erst mit diesen dramatischen Arbeitsmarktzahlen in die Aufmerksamkeit der Medien und der Politik gerückt, weil plötzlich Zahlen kursierten, bei denen klar ist, dass sie jede Stabilität sprengen.

"Statt eines
Grundeinkommens könnten wir ebenso gut überlegen, weniger zu arbeiten."

Kerstin Jürgens

FALTER: In diesem Zusammenhang wird diskutiert, ob Einkommen in Zukunft überhaupt an Arbeit gebunden sein muss.

Ich glaube, dass das eine verfrühte Debatte ist, weil wir in einer Situation sind, wo wir noch keine sonderlichen Produktivitätssteigerungen durch die Digitalisierung sehen. Für die Finanzierung eines Grundeinkommens wäre das aber bedeutsam. Statt eines Grundeinkommens könnten wir ebenso gut auch überlegen, weniger zu arbeiten. Wir arbeiten vernetzter, wir können besser und leichter kooperieren, also könnten wir die Arbeitszeit verringern.

Ich habe mir Vorträge von Ihnen auf Youtube angesehen und Arbeiten aus dem Internet heruntergeladen. Das hat mir wunderbar viel Zeit gespart. Finden Sie, ich sollte dafür noch einen zusätzlichen Artikel schreiben oder lieber einmal ein Buch lesen?  

Wir sind alle sehr verfangen, immer mehr und das immer schneller zu leisten. Diese Steigerungslogik ist typisch für westliche Industrienationen, bringt uns aber auch an Grenzen.

Was glauben Sie, wie das mein Arbeitgeber sieht: noch ein Artikel oder ein Buch lesen?

Im Wissenschaftsbetrieb gab es auch lange den Trend zu immer mehr Aufsätzen. Inzwischen setzt man wieder auf Qualität. Bei manchen Bewerbungsverfahren für Forschungsgelder darf man nur vier oder fünf Publikationen angeben. Die gute Idee ist entscheidend.

Die Thesen

Punkt 1

Wohlstand muss neu gedacht werden

Wir brauchen ein neues Verständnis von Produktion, das soziale Dienstleistungen einschließt. Und wir müssen unser Verständnis von Wohlstand neu denken. Ein Jahreswohlstandsbericht könnte entwickelt werden, der nicht nur die bisherigen Produktivitätskennziffern verbucht, sondern auch Umweltschutz, Zufriedenheit und Sich-kümmern-Können um Pflegebedürftige berücksichtigt. Es ist eine Machtfrage – zwischen den Geschlechtern und zwischen Bereichen, in denen sich bestimmte Einkommensniveaus etabliert haben.


Punkt 2

Die Debatte um flexible Arbeitszeiten ist nicht neu

Die Debatte um die Flexibilisierung der Arbeitszeit läuft seit den 1990er-Jahren. Flexibilität wird so gestaltet, dass sie mit den betrieblichen Belangen am besten kompatibel ist, das spießt sich mit Flexibilität als Souveränität der Beschäftigten. Digitalisierung ist nur ein Vorwand, um die Debatte wieder aufzugreifen. 60 Prozent der Deutschen haben ortsgebundene Arbeiten. Home-Office-Arbeit fördert Selbstausbeutung. Wenn die Arbeitsmenge nicht solide kalkuliert wird, führt digitales Arbeiten dazu, dass man permanent arbeitet.

 

Punkt 3

Schlaf ist unüberwindbar

Wir können den Schlaf noch nicht überwinden, trotz Forschung. Der Mensch braucht sieben Stunden Schlaf, zuvor eine Stunde, um einzuschlafen, und Zeit, munter zu werden. Also ein Minimum von neun Stunden Erholung.


Das dazugehörige Stadtgespräch
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