Interview

Oliver Nachtwey 

Und jetzt ein Ruck nach links

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 38/2021

Erscheinungsdatum: 21. September 2021

Portrait Oliver Nachtwey © Universität Basel
© Universität Basel
Zur Person

Der Soziologe Oliver Nachtwey, Jahrgang 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Sein Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ (2016) analysiert das Lebensgefühl der Generation X. In dem heuer von ihm mit herausgegebenen Buch wird das Schicksal der „verkannten Leistungsträgerinnen“ analysiert, die Betroffenen kommen dabei selbst zu Wort.

Ein Zoom-Call ins Büro Oliver Nachtweys an der Universität Basel, im Hintergrund wiegen sich Laubbäume. Der deutsche Soziologe ist dort seit vier Jahren Professor für Sozialstrukturanalysen. Was sperrig klingt, ist eines der spannend-sten Forschungsgebiete überhaupt. Nachtwey forscht zu unserer Gesellschaft und dazu, wie sie sich verändert.
FALTER Herr Professor Nachtwey, den Systemerhalterinnen und Systemerhaltern ist außer Applaus nichts geblieben. Waren die Hoffnungen, dass nach der Pandemie die Gesellschaft wieder sozialer wird, verfrüht?

Es gibt jetzt viel Druck von unten. Corona hat vielen Beschäftigten in wenig anerkannten, verkannten Berufen ein neues Selbstbewusstsein gegeben. Sie haben gesehen, dass sie eine gewisse gesellschaftliche Macht haben. Dazu kommt ein Arbeitsmarkt, der angezogen hat. Es gibt mehr Optionen für Beschäftigte.

Woran lässt sich dieses neue Selbstbewusstsein ablesen?

In Deutschland sehen wir gerade eine für deutsche Verhältnisse umfassende Streikbewegung. Das Krankenhauspersonal ist in Berlin im Streik, inklusive der Charité, des größten Krankenhauses Europas. Ebenfalls gestreikt wird im Vivantes-Konzern, also einem Produkt der Halbprivatisierung des Gesundheitswesens. Davor schon gab es Streiks bei dem Teigwarenhersteller Riesa, bei der Bahn, demnächst möglicherweise im öffentlichen Dienst. Dass jetzt gerade auch die Berufsgruppe der Pflegerinnen und Pfleger und der Ärzte und Ärztinnen aufbegehrt, ist erstaunlich, weil sie damit ja auch jene treffen, die sich kümmern. Sie begehren jetzt auf, weil sie unter den ökonomisierten Bedingungen ihre eigene Arbeitsethik nicht mehr vollziehen können.

Inwieweit könnte sich dieses neue Selbstbewusstsein bei den deutschen Wahlen am Sonntag niederschlagen?

Deutschland ist nicht viel anders als Österreich. Es ist gerade bei den Wahlen strukturell ein konservatives Land. Ärmere Bevölkerungsgruppen gehen in den letzten Jahrzehnten weniger zur Wahl als die Wohlhabenden, weil sie zu Recht vermuten, dass am Ende ohnehin die Politik gemacht wird, die der oberen Mittelschicht und der Oberklasse zugutekommt. Das ändert sich jetzt wieder ein wenig. Dieses Jahr wird zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit, auch vielleicht durch die AfD, die Wahlbeteiligung wieder größer werden. Spannend sind auch die Wahlmotive. 2017, bei der letzten Wahl, war es wenig überraschend die Frage der Migration. 2013 waren es sichere Arbeitsplätze, aber auch der Euro war relativ hoch bewertet. Dieses Mal steht Klima auf Platz zwei, vorneweg im Politbarometer ist die soziale Gerechtigkeit. Auch deswegen steht die SPD plötzlich stärker da, als viele vermutet haben. 

Ärmere Bevölkerungsgruppen gehen in den letzten Jahrzehnten weniger zur Wahl als die Wohlhabenden, weil sie zu Recht vermuten, dass am Ende ohnehin die Politik gemacht wird, die der oberen Mittelschicht und der Oberklasse zugutekommt.

Oliver Nachtwey

FALTER Spanien und Portugal sind links regiert, Skandinavien – nach dem Sieg der Sozialdemokraten in Norwegen – ebenfalls. Bringt uns die Pandemie ein Comeback einer sozialdemokratischen Phase?

Die Frage ist: Was sind sozialdemokratische Phasen? Wir sehen eine Erholung auf einem ziemlich niedrigen Niveau, die Parteien haben weder programmatische Substanz noch Mitglieder hinzugewonnen. Es gibt nur vereinzelt soziale Bewegungen, die sie tragen. Trotzdem verschiebt sich gerade etwas. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass der Neoliberalismus zu Ende ist. Aber die Corona-Pandemie hat innerhalb der Ökonomen, der politischen Eliten und damit auch innerhalb der Sozialdemokratien vieles verändert. Olaf Scholz, ein ehemaliger Vertreter der schwarzen Null, ein Vertreter der klassischen Austerität, hat diesen Ansatz fallengelassen und die sogenannte „Bazooka“ herausgeholt. Denkerinnen wie Maria Mazzucato haben sehr viel Einfluss gewonnen. Es bildet sich gerade die Idee eines neuen investiven Staates her­­aus. Er scheint mir das neue, postneoliberale Modell zu sein. Ich finde den Blick in die USA noch interessanter. 

Weil von dort stärkere Impulse kommen?  

Olaf Scholz ist vor allem ein Pragmatiker, er verspricht, was er glaubt am Ende auch halten zu können. Zwölf Euro Mindestlohn, die Einführung einer Vermögenssteuer, eine stärkere Steuerprogression, mehr Partizipation für Arbeitnehmer in Betrieben. Alles Sachen, die man nur begrüßen kann, aber keine großen Würfe. Joe Biden hingegen baut einen neuen investiven Nachhaltigkeitsstaat auf. Mit Climate-Jobs und einer grünen Infrastruktur, um die große Ungleichheit im Land zu verringern. Das sind nachhaltige Veränderungen.

Mit welchen politischen Partnern ließe sich ein solcher investiver Nachhaltigkeitsstaat am ehesten in Deutschland umsetzen? 

Es ist recht klar, dass Scholz persönlich am liebsten Rot-Grün hätte. Dafür wird es aber nicht reichen. Scholz setzt relativ stark auf eine Ampelkoalition, also Rot, Grün und die Liberalen, in Deutschland mit der Parteifarbe Gelb. In dieser Koalition würde er seine steuerpolitischen Vorhaben oder eine Aufweichung der Schuldenbremse nicht umsetzen können. In einer Linkskoalition wäre der Konsens für einen sozial investiven, grünen Staat natürlich am einfachsten. Aber bei einem Linksbündnis würde es sehr, sehr großen Widerstand geben. Das gäbe einen Kulturkampf. Aber die sozial-ökologische Transformation ist schlicht notwendig. In dieser Hinsicht haben wir keine Alternative. Ich habe mich mein Leben lang gegen die Politik des „There is no alternative“ gewehrt, aber beim Klima gibt es keine Alternative.

Stichwort Kulturkampf: Sie haben die Motive der Querdenker-Bewegung erforscht, Sie sehen sie als „Lebensreformbewegung“, fast empathisch. Was ist das Reformerische an ihnen? 

Natürlich bin ich mit dieser Bewegung persönlich nicht einverstanden.  Aber es macht auch keinen Sinn, sie einfach nur als allgemein verrückt oder gefährlich zu etikettieren. Ich war auf der letzten größeren Demonstration in Berlin. Das war eher das alte Anti-AKW-Milieu aus Deutschland. Sehr viele freundliche ältere Ehepaare mit ihren Kindern in Funktionskleidung, die gegen diese staatlichen Zumutungen demonstriert haben. Auch wenn es uns nicht passt, was die da betreiben, handelt es sich um eine Form der Gesellschaftskritik, die die Realität anders deutet. Sie stellen staatliches Handeln infrage, was eigentlich die Aufgabe der Linken gewesen wäre. Die macht das nicht mehr. Die haben sich ja bei Merkel eingereiht. Ich ehrlicherweise auch: Ich war froh über die harten Pandemiemaßnahmen, ich hatte Sympathien für Zero Covid. Deswegen sehe ich diese Bewegung als einen Vorgeschmack auf die kommenden Klimakonflikte.

Zwischenfrage: Warum hatten Sie Sympathien für Zero Covid?

Weil die Maßnahmen auf dem Rücken der Unterklassen ausgetragen wurden. Die höchsten Infektionsraten hatten wir in den Stadtteilen, wo die niederen sozialen Klassen waren. Weil die Leute in die Fabrik oder in den Detailhandel gehen mussten, um weiterzuarbeiten. Die Idee, alles stillzulegen, solidarisch und bei vollem Gehalt, das hatte etwas. 

Und was genau hat die Corona-Maßnahmen-Kritiker-Bewegung mit den kommenden Klimakonflikten zu tun?

Egal wie Klimapolitik politisch ausgerichtet ist – eher liberal, konservativ oder progressiv –, auch sie wird individuelle Freiheitsumstrukturierung bedeuten. Sei es ein persönliches CO₂-Konto, mit dem wir haushalten müssen. Sei es, dass Inlandsflüge komplett verboten werden. Oder Autofahren unattraktiver gemacht wird. Die konsumierende Freiheit des spätmodernen Individuums wird es nicht mehr in dieser Form geben. Sie ist auch sehr gesellschaftsvergessen. Man sieht sich als modernes Subjekt, mit dem Recht auf Konsum, mit dem Recht auf Reisen. Der Staat soll sich möglichst her­aushalten. Das wurzelt stark in der New-Age-Bewegung der 1970er-Jahren, die sehr stark auf die ausschließliche Optimierung oder Verwirklichung des Selbst fokussiert war. Deswegen gibt es auch so viele Künstler und Selbstständige in diesen Corona-Maßnahmen-Kritiker-Bewegungen. Die Vorstellung, dass es eine Gesellschaftsabhängigkeit gibt und damit auch notwendigerweise Solidarität, dass mein Handeln immer verwoben ist mit den anderen, war wenig vorhanden. Anders als in der Arbeiterbewegung oder in katholischen Milieus.

Radikalisiert sich die Corona-Maßnahmen-Kritiker-Bewegung nicht gerade in eine ganz andere, problematische Richtung?

 Ja, sie ist stark nach rechts gerückt, in den radikalisierten Teilen sogar gewaltschwanger. Im Sommer habe ich noch kurz gedacht, jetzt, da die Impfung da ist und alles wieder relativ geöffnet ist, wird die Kritikerbewegung versacken. Denn das Ziel der Leute ist ja auch, zu konsumieren und das Leben einigermaßen hedonistisch und barrierefrei zu leben. Aber das mit dem Impfen schreitet nicht so voran, hier in der Schweiz noch weniger als in Österreich oder Deutschland. Davon waren wir alle überrascht. Es gibt weitere staatliche Eingriffe mit 2G, was de facto einer indirekten Impfpflicht gleichkommt. Jetzt haben die rechtspopulistischen Parteien die Querdenker als neues Wählerreservoir entdeckt. Das Virus wird rassistisch kodiert. „Wir halten uns daran, und die ganzen Jugoslawen und Albaner machen das nicht und bringen das Virus von ihren Reisen wieder mit in unser Land.“

Hätte man diesen Ruck nach rechts verhindern können? Anders gefragt: Hätten andere Parteien die Corona-Maßnahmen-Kritiker auch ansprechen sollen?

Lassen Sie es mich so formulieren: Ich finde, dass eine demokratische Herrschaftskritik wichtig ist, dass Regierungshandeln immer herausgefordert werden muss. Davon lebt eine Demokratie. Das macht die Linke halt nicht mehr. Ich würde mir eine Linke wünschen, die wieder die Herrschaftskritik betreibt, damit die Menschen sich in der unübersichtlichen Gegenwart nicht so atomisiert fühlen und dann plötzlich an Verschwörungstheorien glauben. Denn das ist nämlich die Folge davon. Wenn die Leute keine vernünftigen Erklärungen bekommen, fangen sie an, selbst im Internet nach diesen Erklärungen zu suchen. Und dann sagt man: Oh, vielleicht steckt doch ein großer Plan dahinter.

„Das Virus kommt mit dem Auto“ oder „Migranten sind schuld, dass die Impfquote nicht steigt“: Das sind Aussagen, die viele in Österreich unterschreiben würden, obwohl sie nicht stimmen. Warum setzen sich solche Erzählungen trotzdem durch?

Es ist wichtig, soziale Konflikte nicht als ethnische Konflikt zu diskutieren. Das ist genau der Kulturkampf, den die Rechten wollen. Stattdessen sollten wir in der Kategorie von Klasse und Klassenkampf denken. Nehmen wir die Pandemie her. Sie wurde am Anfang fälschlicherweise als die große Gleichmacherin angesehen. Jetzt können wir sehen, dass sich Vermögen weiter gesteigert haben, während sich Unsicherheiten und Gesundheitsrisiken bei den unteren Klassen kumulieren. Natürlich leben wir nicht mehr in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, viel hat sich modernisiert und verbessert. In den 1990er-Jahren und danach bis in die Nullerjahre hatte man den Eindruck, wir leben in einer Gesellschaft aus lauter potenziellen Gewinnern. Leistungsträger wurden umdefiniert, das war ein großer diskursiver Erfolg.

Jeder kann alles werden. Wenn du es nicht schaffst, bist du selbst schuld? 

Genau. In der Corona-Krise haben wir gesehen, dass wir auf die typischen Gewinner der 1990er-Jahre, die Berater, Manager, Strategen auch ein paar Monate einmal verzichten können. Auf die Krankenschwester, den Lagerarbeiter und die Supermarktkassiererin aber nicht. Wer hält denn den Laden am Laufen? Vor allem das Mittelschichtsleben? Das ist in der Regel die Arbeiterinnenklasse. Die migrantische Arbeiterinnenklasse. Die Hemden werden gebügelt, die Wohnung geputzt, die Kinder erzogen, die Alten gepflegt, das Essen gekocht – all das braucht die erfolgreiche Mittelklassenfamilie. Wir haben 20 Jahre lang versucht, das ins Dunkle zu verdrängen. Bei der Corona-Pandemie ist da jetzt kurz einmal das Licht angegangen.

Ein investiver nachhaltiger Staat, das klingt gut. Aber wie erklärt man einem Arbeiter, dessen ganzer Stolz der SUV in seiner Garage ist, dass er aufs Autofahren verzichten soll?

Darauf muss man eine Antwort finden, weil man sonst die Arbeiterinnen nach rechts verlieren wird. Die Lösung ist gar nicht so weit entfernt. Ich mache das zum Beispiel: Es gibt sehr gute Carsharing­angebote, wo man wirklich tolle Autos fahren kann, die man vorher nicht fahren konnte. Im ländlichen Raum Deutschlands ist die AfD genau dort stark, wo die In­frastruktur kaputtgegangen ist. Das heißt, es braucht einen öffentlichen Nahverkehr, der gar nicht einmal umsonst sein muss, aber der den Menschen eine andere Option gibt. Es ist ja längst kein Freiheitsvergnügen mehr, in Deutschland auf der Autobahn zu fahren. Die Leute müssen das machen, weil sie sich – und deswegen hängt alles zusammen – die Miete in der Stadt nicht mehr leisten können und an die Peripherie ziehen müssen. Diese Kreisläufe müsste man durchbrechen.

Ist eine Grundsicherung oder ein Grundeinkommen die richtige Antwort auf die Gesellschaft der Zukunft?

Ach, das Grundeinkommen. Das kommt jetzt immer. Ich halte das tatsächlich für eine Lösung, die am Ende wahrscheinlich kommen wird. Vor allem dort, wo Gewerkschaften schwach sind. Sie hat aber eine große Schwachstelle: Bei einer Grundsicherung oder einem Grundeinkommen entscheidet immer der Staat über die Höhe. Zentral, und nicht dezen­tral Gewerkschaften und Unternehmen. Das ist eine tendenzielle Entdemokratisierung. Die Gefahr, dass das Grundeinkommen in Krisenmomenten auch einmal heruntergesetzt wird, ist groß. Mir wäre eine Kombination aus einem guten Mindestlohn und starken Gewerkschaften lieber. Dieses Modell halte ich immer noch für das beste, weil es Arbeitnehmer in die Lage versetzt und auch zwingt, für ihre Interessen, allen voran eine gute sozialpolitische Absicherung, selbst einzutreten. Mein Lieblingsmodell ist deshalb eine rebellierende Demokratie

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