Interview

Sebastian Dullien 

Der starke Staat ist schon zurück

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 16/2021

Erscheinungsdatum: 21. April 2021

Portrait Sebastian Dullien © Peter Himsel
© Peter Himsel
Zur Person

Sebastian Dullien, geboren 1975, ist seit 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Der Ökonom arbeitete für die Financial Times Deutschland und unterrichtet als Professor Allgemeine Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin.

Die Zeiten könnten kaum spannender sein, wenn man Ökonom und Experte ist wie Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Sie hat ihren Sitz in Düsseldorf und gehört dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Anders als in Österreich waren in Deutschland auch gewerkschaftsnahe Experten beim Corona-Krisenmanagement eingebunden. Dullien sieht den österreichischen Wiederaufbauplan skeptisch, Lob gibt es für die öffentliche Infrastrukturpolitik, etwa die Asfinag.

FALTER Herr Dullien, die österreichische Regierung setzt in ihrem sogenannten Comebackplan auf die Schwerpunkte Arbeit, Digitalisierung und Ökologisierung. Was wäre Ihr konkreter Rat, was jetzt zu tun ist?

Nach der Krise kommt es darauf an, einerseits die Wirtschaft von der Nachfrage her anzukurbeln, andererseits die Weichen richtig für den anstehenden Strukturwandel zu stellen. Da steht Österreich in Sachen Infrastruktur besser da als Deutschland, zumindest wenn man die Investitionsdaten betrachtet. Aber ganz wichtig wären größere Investitionen in Dekarbonisierung, Wasserstoffwirtschaft und in die Digitalisierung. 

Recovery, Comebackplan, Wiederaufbau: Wenn so umfassend umgestaltet werden soll, besteht dann nicht auch die Gefahr, dass eine Gesellschaft – gerade aus Sicht der Arbeitnehmerschaft – am Ende ungerechter wird?

Natürlich muss man darauf aufpassen, welche Verwerfungen es in der Krise gegeben hat und wie man die Folgen auffängt. Wer hat jetzt den Job verloren? Gerade wenn es bestimmte Gruppen mit niedrigem Qualifikationsniveau sind: Wie kann man es schaffen, dass sie schnell und gut wieder in den Arbeitsmarkt kommen? Die Dekarbonisierung wird Verlierer und Verliererbranchen schaffen. Das darf nicht dazu führen, dass wir eine weitere Polarisierung in der Gesellschaft bekommen. 

Für Österreich gibt es Berechnungen, dass die Hälfte der Hilfsgelder an Unternehmen geflossen sind und nur ein Drittel an Arbeitnehmer. Das ist wohl nicht gerecht?

Ich halte von dieser Art der Berechnung nicht so wahnsinnig viel. Das Kurzarbeitergeld in Deutschland fließt eigentlich an die Unternehmen, denen die Sozialabgaben, die Lohnkosten in der Krise erstattet werden, und die Arbeitnehmer müssen dafür bestimmte Einkommenseinbußen hinnehmen. Wie rechnen Sie das jetzt? Ist es ein Zuschuss an die Unternehmen? Oder ist das eine indirekte Zahlung an die Beschäftigten? Dieses platte Hingucken, wo ist Geld hingeflossen, halte ich nicht für zielführend. Tatsächlich muss man schauen, wie sich die verfügbaren Einkommen der Privathaushalte entwickelt haben und wie sich die der Unternehmen entwickelt haben, um vernünftig zu analysieren, wer von den Hilfsprogrammen besonders profitiert hat. 

Das Aufstocken von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe ist in der Krise
immer die erste Wahl für eine Stabilisierungspolitik. Das versteht sich von selbst.

Sebastian Dullien

FALTER Was zeigt sich da? 

Das ist nicht so einfach. In Deutschland sind die verfügbaren Einkünfte der Privathaushalte im vergangenen Jahr nicht gefallen. In der größten Krise sind die relativ stabil geblieben. Dagegen sind Unternehmensprofite ziemlich eingebrochen. Aber wenn ich mir die Daten im Detail anschaue, sehe ich, dass innerhalb der Privathaushalte die Schere weiter aufgegangen ist. Die Haushalte mit geringerem Einkommen mussten stärkere Einbußen hinnehmen als die mit Hocheinkommen. Vor allem Menschen in der Gastronomie, im Einzelhandel sowie Soloselbstständige im künstlerischen Bereich. Das sind oft die Haushalte, die vorher schon wenig hatten. Das heißt, wir haben innerhalb der Arbeiternehmerinnenhaushalte ein Auseinanderklaffen genauso wie innerhalb des Unternehmenssektors. Jemand, der ein Hotel in einer der Messestädte hat, hat massive Einkommenseinbußen hinnehmen müssen – bis hin zur Existenzgefährdung. Gleichzeitig haben andere wie Lebensmitteleinzelhändler massiv profitiert von der Krise. 

Stichwort Dekarbonisierung und soziale Frage: Da stoßen zwei emanzipatorische, progressive Bewegungen aufeinander. Gibt es genug Bewusstsein in der Generation Greta für die soziale Frage? 

Ich glaube, dass das Bewusstsein für die soziale Frage da zum Teil noch nicht ganz angekommen ist. Natürlich gibt es die planetaren Kipppunkte. Das ist so. Wir können auch nicht mit den Naturgesetzen verhandeln. Aber man darf nicht übersehen, dass es auch politische Kipppunkte gibt. Nur so lange, wie wir Mehrheiten haben für die Dekarbonisierung, wird die Dekarbonisierung auch voranschreiten. Diese Mehrheiten sind nur zu halten, wenn man eine breite Allianz schmiedet. Dafür brauchen wir den sozialen Ausgleich.

Tut sich da eine große Koalition leichter in so einer Ausnahmesituation als beispielsweise die türkis-grüne Koalition in Österreich? Machen große Koalitionen zu Krisenzeiten nicht doppelt Sinn?

Wenn die großen Koalitionen groß wären, vielleicht. Aber in ­Deutschland hat die schwarz-rote Koalition nach den ­Umfragen wenn überhaupt, dann nur eine sehr knappe Mehrheit, im Gegensatz zu Schwarz-Grün. Bei einer schwarz-grünen Koalition sehe ich grundsätzlich diesen sozialen Ausgleich schwieriger, weil es nicht in der DNA der beiden Parteien ist, auf die soziale Frage so zu achten. Eine rot-­grüne Koalition könnte besser auf solche Herausforderungen reagieren als eine schwarz-­grüne Koalition. 

Bringt uns die Post-Corona-Zeit den starken Staat zurück?

Der starke Staat ist schon zurück. Wir haben massive Verschiebungen gesehen, was der Staat darf und was akzeptabel ist. Alleine die Konjunkturpakete, die wir in den letzten 18 Monaten gesehen haben, wären vor 15 Jahren nicht denkbar gewesen – zumindest nicht in Deutschland. Interessanterweise wird das auch von den führenden deutschen Ökonominnen und Ökonomen getragen. Das EU-Next-Generation-Programm und der Recovery-Fonds haben bis ins konservative Lager relativ große Zustimmung. Auch Gabriel Felbermayr, der jetzt ja auch wieder nach Österreich zurückkommt, oder auch Michael Hüther haben sich sehr positiv geäußert. Österreich hat sich da deutlich anders positioniert, als Teil der „frugalen vier“.

Ist das eine Generationenfrage? Oder Umdenken angesichts der Krise? 

Ich glaube, beides. Die neue Generation ist auf der einen Seite pragmatischer. Auf der anderen Seite gab es ein Umdenken, weil vom Narrativ schnell akzeptiert war, dass Länder wie Italien und Spanien keine eigene Schuld dafür tragen, dass sie von der Pandemie so stark beeinträchtigt worden sind. Da sagte es sich einfacher: Wir üben europäische Solidarität mit den europäischen Wiederaufbauprogrammen. In der Euro-Krise fiel das viel schwerer, da ging es ja um vermeintliche Versäumnisse bei Reformen in den betroffenen Staaten wie Griechenland. 

Warum hat Österreich den anderen Weg eingeschlagen?

Vielleicht hängt es mit den ­handelnden Personen zusammen, auch in der zweiten und dritten Ebene. Das deutsche Finanzministerium ist heute ganz anders aufgestellt als unter Finanzminister Wolfgang Schäuble, was die Staatssekretäre, die Abteilungsleitungen, das Personal betrifft. Das ist eine andere Generation. Die denken anders, europäischer und eben auch pragmatischer. 

Starker Staat, was heißt das konkret? Staatsbeteiligungen wie einst?

Natürlich, Deutschland ist in der Finanzkrise schon gut mit einem Staatsbeteiligungs-Fonds gefahren. Mein Institut hat ein Konzept vorgelegt, wie man Staatsbeteiligung auch für die Dekarbonisierung einsetzen kann. Wir schlagen einen Transformationsfonds vor, der bewusst bei Großinvestitionen hilft, die den einzelnen Unternehmen zu riskant sind oder die für die Bilanz zu belastend sind. Etwa, wenn ich ein CO2-neutrales, wasserstoffbasiertes Stahlwerk bauen will. 

Ist Österreich da Vorbild? 

Das die Asfinag angeht, ja – auch, wenn es darum geht, trotz der EU-Schuldenregeln öffentliche Investitionen mit Krediten zu finanzieren. Anders als Österreich haben wir in Deutschland das Problem der langjährigen Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur. Das sieht man auch an den Brücken, den Schulen, den Schienen- und Wasserwegen. Vor eineinhalb Jahren hatten wir mit dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft zusammen vorgerechnet, dass wir über zehn Jahre etwa 460 Milliarden Euro an Investitionen brauchen, die man auch über Investitionsgesellschaften kreditfinanzieren sollte. Das findet sich jetzt im Wahlprogramm der SPD, die Grünen reden von einem 500-Milliarden-Programm. Da konnten wir mit unseren Ideen die Debatte beeinflussen. 

Anders als in Österreich scheint die deutsche Regierung auf Vorschläge aus der Wissenschaft zu reagieren.

Wir haben mit einer Reihe von jüngeren, pragmatischen Ökonomen, darunter Felbermayr und Hüther, relativ früh, im März 2020, konkrete Vorschläge gemacht, was zu tun ist: Steuerstundung, Kurzarbeitergeldausweitung. Und die Sachen sind weitgehend umgesetzt worden. Das war sehr schön zu sehen.

Wie stehen die Chancen, dass Ihr Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung auch umgesetzt wird?

Das wäre quasi eine Grundversicherung gewesen, die beitragsfinanziert wäre und einen Ausgleich schaffen soll, wenn einzelne Länder in die Krise kommen, aber auch verhindern soll, dass in einer breiteren Krise das Sicherungsniveau in einzelnen Ländern gekürzt wird. Da gab es lange Diskussionen und jede Menge EU-rechtliche Hürden, als Ergebnis debattieren wir jetzt eine Arbeitslosenrückversicherung. Also ein gemeinsamer Topf, aus dem nationale Arbeitslosenversicherungen im Krisenfall eine Unterstützung kriegen. Diese Idee ist also alles andere als tot. Ich hoffe, dass das eine Keimzelle für eine größere, europaweite Grundabsicherung für Arbeitslosigkeit wird.

Die ganzen Wiederaufbaupläne werden viel Geld kosten. Wie soll man das bezahlen? 

Die Zinsen sind derzeit niedriger als das Wirtschaftswachstum. Wenn ich heute einen Kredit aufnehme und ihn in 30 Jahren zurückzahlen würde, würde ich kaufkraftbereinigt etwa zwei Drittel zurückzahlen. Meine Empfehlung für all die Zukunftsausgaben ist daher, das kreditzufinanzieren und über das Wirtschaftswachstum rauszuwachsen. Das ist überhaupt kein Problem.

Also ein echtes „Koste, was es wolle“ ohne Sorgen vor Steuererhöhungen oder einem „Corona-Zuschlag“?

Nein, es braucht keinen Zuschlag, um die Corona-Schulden zu bedienen oder abzuzahlen. Da ist einfach die Lösung am besten: Man wartet ab und wächst da raus. Wir haben Simulationen gemacht. In Deutschland ist die Schuldenquote jetzt knapp über 70 Prozent gestiegen, wir waren über 80 Prozent nach der Finanzkrise. Wir haben von 2012 bis 2019 es geschafft, von über 80 Prozent auf unter 60 Prozent zu kommen, ohne irgendwelche Sonderzuschläge, massive Tilgungen oder Ähnliches. Sondern nur über die normale Inflation, das normale Wirtschaftswachstum. Ich sehe keinen Grund, warum das jetzt von einer niedrigeren Schuldenquote bei niedrigen Zinsen nicht genauso gut wieder funktionieren würde. 

Aber wir haben eine Schuldenbremse und einen EU-Fiskalpakt, der uns daran hindert?

Ja, dummerweise, vor allem, weil wir von Investitionen in die Zukunft sprechen. Denken wir nur an unsere Schulen. Eine der wichtigen Fragen ist: Wie gleiche ich die Bildungsverluste aus, die durch Corona entstanden sind? Die gesamtwirtschaftlichen Renditen sind so hoch, das verspricht so viel Wachstum in der Zukunft, Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit, dass man das sehr gut kreditfinanzieren kann. 

Wie lässt sich der Konsum am besten ankurbeln?

Die Mehrwertsteuersenkung, die Deutschland eingesetzt hat, hat nicht so gut funktioniert. Direktzahlungen sind sinnvoller. Man kann natürlich auch über Gutscheine für den Tourismus nachdenken. Aber mein Verdacht wäre, dass der Tourismus, sobald die Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden, ohnehin relativ gut läuft. Denn in Deutschland haben die Privathaushalte im vergangenen Jahr wahnsinnig viel Geld nicht ausgegeben. Die Sparquote ist enorm gestiegen. Da haben sich hundert Milliarden Euro auf den Konten angesammelt. Das sind Haushalte, bei denen man davon ausgehen würde, dass, wenn man wieder Tourismus machen darf, das auch wieder funktioniert. 

Österreichs Arbeitslosengeld liegt bei 55 Prozent des letzten Nettoeinkommens, eine Erhöhung wird ausgeschlossen. Stattdessen debattiert die Regierung über weitere Kürzungen und Verschärfungen für „Arbeitsunwillige“. 

Konjunkturpolitisch sinnvoll ist in einer Krise das Gegenteil, nämlich dass man Lohnersatzzahlungen aufstockt oder verlängert. Das geht direkt in den Konsum, und es ist einfach schwierig, neue Jobs zu finden. Das ist zunehmend internationaler Konsens, sogar die USA haben das gemacht. Das versteht sich von selbst. Das Aufstocken von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Kurzarbeitsgeld ist in der Krise immer die erste Wahl für eine Stabilisierungs­politik.

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