Interview

Klaus Dörre

Arbeiter empfinden Grüne als Bedrohung

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 40/2022

Erscheinungsdatum: 5. Oktober 2022

Warum wählen Facharbeiter rechts? Soziologe Klaus Dörre über notwendige Allianzen zwischen Gewerkschaft und Fridays. Wer wissen will, wie die Arbeiterschaft denkt, der klopft bei Klaus Dörre an. Der deutsche Politologe forscht zur Arbeitswelt unter Druck, vor allem in den Bundesländern der ehemaligen DDR.
Klaus Dörre © Angelika Osthues
© Angelika Osthues
Zur Person
Klaus Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich- Schiller-Universität Jena, war von 2011-2021 einer der Direktoren des DFG-Kollegs Postwachstumsgesellschaften, ist gemeinsam mit Prof. Heike Kraußlach verantwortlich für das Zentrum Digitale Transformation Thüringen (ZeTT) und Mitherausgeber des Berliner Journal für Soziologie und des Global Dialogue. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismustheorie, Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen, soziale Folgen der Digitalisierung sowie Rechtspopulismus.
FALTER Bei den Landtagswahlen in Tirol hat sich einmal mehr gezeigt, dass die junge Arbeiterschaft rechts wählt. Kann man sie zurückgewinnen?

Klaus Dörre: Ja, zumindest teilweise.

Wie?

Es handelt sich um Gruppen, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben und ihren Status verteidigen wollen. Ein Beispiel: Opel Eisenach in Thüringen, 1200 Beschäftigte. Dort forschen wir gerade. Selbst viele aus der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft dort empfinden die Grünen und Fridays for Future als Bedrohung. Das sind extrem hart arbeitende Menschen, im Schichtbetrieb. Sie verdienen für einen Produktionsarbeiter auch gut. Viele kennen ihre Kolleginnen und Kollegen seit 30 Jahren. Das ist wie eine Familie, das schätzen sie. Sie sind stolz auf ihr Sozialeigentum. Sie haben einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat. All das verteidigen sie mit Zähnen und Klauen.

Gegen die Grünen?

Genau. Denn in dieser sehr stark fremdbestimmten Arbeit halten Sie es nur aus, wenn Sie in Ihrer Freizeit frei sind. Wenn Sie tun und lassen können, was Sie wollen, und sich nicht von anderen dreinreden lassen. Im Extremfall bedeutet das: Ich tune mein Auto auf 280 Sachen und jage einen Tesla auf der Autobahn auf der linken Spur, bis der mit überhitztem Motor rechts ranfahren muss.

Die Rechten sprechen diesen gekränkten Arbeiterstolz besser an?

Sie instrumentalisieren diese mehrfache Abwertung: als Arbeiter, als Mann, als Ostdeutscher an der Peripherie. In Österreich funktioniert das ganz ähnlich.

Entscheidend ist die Haltung anerkannter Gewerkschafterinnen und Betriebsräte vor Ort. Wieder ein Beispiel: VW Baunatal in Kassel, 16.000 Beschäftigte. Im Zuge der Umstellung auf E-Mobilität gehen dort 8000 Arbeitsplätze verloren. Sie haben einen Betriebsratsvorsitzenden, Carsten Bätzold, der offen ausspricht, dass das Geschäftsmodell der Automobilindustrie nicht mehr funktioniert, auch nicht mit E-Mobilität. Und seine Liste bekommt trotzdem 92 Prozent der Stimmen.

Die Gewerkschaften als Dinosaurier des Industriezeitalters, das Argument gibt es schon lange. Ein maximaler Irrtum

Klaus Dörre





FALTER Wie geht das?

Erstens kämpft er für Sozialverträglichkeit. Zweitens ist er als Person absolut glaubwürdig. Drittens befürwortet er die Sozialproteste auf der Straße: Wenn alle immer weniger im Portemonnaie haben, weil die Energie- und Nahrungsmittelpreise explodieren, können wir nicht zuwarten, bis der Deutsche Gewerkschaftsbund etwas beschließt. Wir dürfen der radikalen Rechten nicht die Straße überlassen. Diese Mischung führt dazu, dass seine Sicht auf die Transformation in der Belegschaft zumindest diskussionsfähig ist.

Die Gewerkschaften in Österreich fordern einen Mindestlohn von 2000 Euro brutto. Ausreichend?

 Nein. Schon der Mittelwert der Nettolöhne liegt in Deutschland derzeit bei 2500 Euro. Das Minimum, was man derzeit zum Leben braucht – da sind die Mieten und andere fixe Kosten aber schon weggerechnet –, sind 1500 Euro netto.

In Österreich sind die Gewerkschaften noch wesentlich besser organisiert als in Deutschland, aber trotzdem hören sie: „Die Geschichte hat euch längst überholt.“

Die Gewerkschaften als Dinosaurier des Industriezeitalters, das Argument gibt es schon lange. Das ist ein maximaler Irrtum, weil wir in allen Bereichen der sich neu strukturierenden Arbeitswelt erleben, dass ohne Gewerkschaften gar nichts geht. Denken Sie nur an die Streiks und Arbeitskämpfe im Sozialsektor, also im Gesundheitswesen, in der Pflege, der Kinderbetreuung. Damit hätten wir vor 15 Jahren nie gerechnet. Wir haben gerade einen Neun-Wochen-Streik in den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen gehabt, dabei wurde ein Tarifvertrag durchgesetzt, der erstmals auch auf die Personalbemessung Einfluss nimmt.

Aber der gewerkschaftliche Nachwuchs fehlt trotzdem.

Das liegt am Grundproblem aller Gewerkschaften: Die politisch überzeugte Generation der Nach-68er tritt ab. Für sie waren Gewerkschaften mehr als ein Versicherungsbetrieb; sie wollten die Gesellschaft zum Besseren verändern. Aber jetzt kommen wieder ganz junge Leute nach, beispielsweise aus Fridays for Future heraus.

Eine Allianz zwischen Fridays for Future und Gewerkschaften, wie geht das?

Es ist teilweise sehr verhärtet, aber am linken Flügel der Klimabewegung gibt es ein klares Zugehen auf die Gewerkschaften und in Teilen der Gewerkschaften ebenso. Am weitesten sind die Dienstleistungsgewerkschaften. Seit 2020 haben sich in 30 deutschen Städten Solidaritätskomitees der Fridays for Future mit der für den öffentlichen Nahverkehr zuständigen Gewerkschaft Ver.di gegründet. Ihr gemeinsames Ziel: möglichst günstige, für bestimmte Gruppen auch kostenlose Öffis, bei fairen Arbeitsbedingungen für die Belegschaft.

In Deutschland gab es ein Neun-Euro-Ticket, mit dem man einen Monat lang alle Öffis benutzen konnte. Ist das die perfekte Antwort auf die Teuerungs- und Klimakrise?

Absolut, Mobilität als öffentliches Gut, preisgünstig für alle ist der richtige Ansatz. Und zwar finanziert aus den Übergewinnen der Krisengewinnler. Mir hat ein Verkäufer einer Obdachlosenzeitung in Leipzig erzählt, dass er mit dem Neun-Euro-Ticket zum ersten Mal aus der Stadt raus war und am Meer. Ist das nicht schön?

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