Artikel

Diébédo Francis Kéré

Der Architekt spricht über Bauten aus Lehm und das Operndorf des Regisseurs Christoph Schlingensief

Gespräch: Matthias Dusini

FALTER:  Nr. 21/2014

Erscheinungsdatum: 20. Mai 2014

28. Wiener Stadtgespräch Diébédo Francis Kéré © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Diébédo Francis Kéré, 1965 in Burkina Faso geboren, wurde bekannt durch seine ökologisch nachhaltige, den Natur- und Lebensverhältnissen angepasste Architektur. Er entwarf das Operndorf des Regisseurs Christoph Schlingensief, das auch nach dessen Tod weitergebaut wird. Das Architekturmuseum der TUM widmete seinem Schaffen in Afrika, China und Europa die Ausstellung „Radically Simple“ (2016/2017).

Mit der Nacht kommen die Gespenster.

So beschreibt der Berliner Architekt Francis Kéré, 49, seine Kindheit in einem afrikanischen Dorf. In dem in der Sahelzone gelegenen Ort Gando gab es keinen Strom, sodass sich die Familie am Abend versammelte, um den Geschichten der Großeltern zu lauschen. Manche Märchenfiguren ließen Francis erschaudern. „Wenn es gruselig wird, spürst du: Die Gemeinschaft ist dein Halt.“

Das Atelier von Francis Kéré, der zum Studium nach Deutschland kam, befindet sich in einer ehemaligen Manufaktur im Stadtteil Kreuzberg. Im Besprechungsraum stehen Schachteln mit Materialproben, Steinen und Hölzern, die der Architekt für Schulen, Waisenhäuser und sein bekanntestes Projekt, das Opernhaus des Künstlers Christoph Schlingensief, verwendet. Für ihn als kleinen Buben war alles selbstverständlich: die aus der Sahara heranwehenden Sandstürme, der Rauch in der Hütte, der nicht abzieht.

Erst später begriff Kéré, warum der Hütteneingang immer in der windgeschützten südlichen Richtung liegt und dass der Rauch die Termiten aus dem Strohdach vertreibt. Irgendwann dämmerte ihm auch, wie Menschen Architektur schaffen, ohne einen Ziegel in die Hand zu nehmen: „Durch das Atmen und die Stimme entsteht ein Raum.“

In Berlin planend, in Afrika bauend und an der US-amerikanischen Harvard-Universität lehrend, gehört Kéré zu einer global vernetzten Bewegung, die dafür eintritt, lokale Materialien und tradiertes handwerkliches Wissen zu nutzen. Energiesparendes Bauen und die Beteiligung von Nutzern galten einmal als Hirngespinste von Idealisten. Heute sind sie die Hoffnung der Stadtplanung.

Während die erste Welle moderner Architekten in der Nachkriegszeit nach Afrika kam, um dort die Segnungen der Zivilisation, Beton und Glas, zu propagieren, geht die Reise nun in die entgegengesetzte Richtung: Der Norden hat begonnen, vom Süden zu lernen. Studierende aus New York, Wien oder Berlin besuchen südafrikanische Townships oder die Sahelzone, um das Bauen wieder von seinen Anfängen her zu denken. Sie suchen das, womit Kéré aufgewachsen ist, das Urhüttenfeeling.

Auch Francis Kéré ging noch auf die Universität, als er Post aus seinem Dorf bekam. Die alte Schule sei einsturzgefährdet, und der Sohn des Häuptlings solle nun zeigen, was er im fernen Europa gelernt habe.

Zuerst durchstreifte der TU-Student das Umland von Berlin, um in alten Betrieben die Möglichkeit einfacher Ziegelherstellung zu studieren. In Gando konstruierte er dann aus billigen Bewehrungseisen ein Dachtragwerk. Da kein Geld für Beton da war, wurde der Fußboden aus gestampftem Lehm gemacht. Der Architekt kam mit 25.000 Euro und einer Lehmpresse in Gando an und blieb bis zur Fertigstellung des Gebäudes.

Kéré stellt einen Ziegel auf den Tisch, eine Mischung aus Zement und rötlicher Erde. Man lässt die gepressten Blöcke trocknen und gewinnt so ein leicht zu bearbeitendes Baumaterial, das die Hitze absorbiert und den Raum kühl hält. Dann zeigt der Architekt einen Bund von Eukalyptushölzern, den er zusammen mit den Dorfbewohnern entwickelt hat. „Wir achten darauf, dass schon die Kinder Holz schneiden und im Dreck wühlen“, erklärt Kéré. Erst wenn eine persönliche Beziehung entsteht, wird das Bauwerk angenommen. „Wir wollen die Menschen mitnehmen.“

Das klingt vielleicht etwas naiv, ist aber Ausdruck eines neuen Denkens, das ein ganzes Berufsbild infrage stellt. Kéré & Co bilden die Opposition zu jenen Spektakelarchitekten, die in China oder den Ölstaaten Megaprojekte aus dem Boden stampfen und dabei die Zwangsumsiedlung von Bewohnern und das Elend der Bauarbeiter in Kauf nehmen. Die Hütte revoltiert gegen den Palast.

Bei den Arbeiten für die Stadien der Fußball-WM 2022 in Katar kamen hunderte indische und nepalesische Arbeiter ums Leben. Die Londoner Architektin Zaha Hadid, die das Stadion in al-Wakra plante, wies unwirsch jede Verantwortung von sich: „Damit habe ich als Architektin nichts zu tun. Darum muss sich die Regierung kümmern“, meinte sie unlängst in einem Interview mit dem Guardian.

Auf der letzten Architektur-Biennale in Venedig gewann ein Beitrag über Slumsiedlungen in Venezuela den Goldenen Löwen. Der von Toyo Ito kuratierte Japan-Pavillon beschäftigte sich mit alternativen Siedlungskonzepten nach dem Erdbeben von 2011 und wurde ebenfalls ausgezeichnet, was von den erfolgsgewöhnten Marktführern nicht ohne Widerspruch hingenommen wurde.

„Stoppt die Political Correctness in der Architektur!“, schrieb Zaha Hadids Büropartner Patrik Schumacher in einem Aufruf im vergangenen März. Das Moralisieren der sozial engagierten Architekten sei lähmend, denn es setze einen greifbaren Nutzen voraus. „Architekten sind für die Form der gebauten Umwelt verantwortlich, nicht für deren Inhalt“, findet Schumacher.

Die einen halten es für Neokolonialismus, wenn wohlhabende Westler für einige Wochen in ein Katastrophengebiet fliegen, um sich dort den Kick des wirklichen Lebens zu holen. Andere sehen in den Lehmhütten nur eine Neuauflage jener Hundertwasser-Ästhetik, die bereits vor Jahrzehnten den drohenden Weltuntergang behübschte. Was ist eine ethisch korrekt gebaute Schule im Vergleich zu Millionen von Hungernden und Vertriebenen?

„Ach, wissen Sie, es gibt keine Kritik, die ich nicht schon gehört hätte“, sagt Francis Kéré. Was sei verwerflich daran, dass junge Architekten auf eigene Kosten in Krisengebiete fahren und dort die Chance bekommen, Berufserfahrungen zu sammeln? „Ich habe selbst davon profitiert: Vorher wusste ich nicht, wie man baut.“

Und was sei falsch daran, den Menschen vor Ort eine Säge und ein Schweißgerät in die Hand zu drücken und sie zu Maurern und Ziegelmachern auszubilden? Inzwischen gebe es in Burkina Faso 60 Arbeiter, die von Kérés Projekten leben können.

Dann erzählt Kéré, wie er als Kind ausgewählt worden sei, mit einem Freund in die nächstgrößere Ortschaft zur Schule zu gehen – drei Stunden zu Fuß und am Abend wieder zurück. Die Sonne brannte, der Wind blies den Sand in die Augen. Daher beschlossen die beiden Jungs bereits am zweiten Tag, sich in den Schatten eines Baumes zu legen und ihre Erdnussvorräte aufzuessen. Nach einer Woche flog der Schwindel auf, und die Schulschwänzer kamen zu Gastfamilien. Seither weiß Kéré, dass Schüler und auch Lehrer nicht zu weit von der Schule entfernt leben sollen. Deshalb baute er in Gando neben der Schule einen Komplex von Lehrerwohnhäusern.

Und noch eines weiß er von zu Hause: dass bei Planungen auch die Religion eine Rolle spielt. So musste er bei der Projektierung des Gymnasiums in Dano, Burkina Faso, darauf achten, dass das Ensemble keinen geschlossenen Eindruck machte. Die Bewohner befürchteten nämlich, dass die Geister des angrenzenden Friedhofs nicht in die Schule gelangen könnten.

„Man braucht sooo viel Zeit, um die Menschen zu erreichen“, sagt der Architekt und zeichnet eine lange Gerade aufs Papier. Wer keine Geduld hat und denkt, er könne sein Ziel durch eine Abkürzung erreichen, habe schon verloren. Auch in Burkina Faso stehen viele gebaute Manifestationen des vermeintlichen Fortschritts heute als Ruinen da, weil sie auf die Bedürfnisse der Benutzer keine Rücksicht nahmen und sie keiner haben wollte.

Vorwurf der kulturellen Ausbeutung

Der Vorwurf der kulturellen Ausbeutung traf schließlich auch Kérés bekanntestes Projekt, das Operndorf in Laongo. Ein Festspielhaus in einer der ärmsten Gegenden der Welt? Ein deutscher Regisseur wolle in Afrika ein Opernhaus bauen, sagte 2008 ein Bekannter zu Kéré. Drei Monate ließ sich der Architekt Zeit mit dem Anruf bei Christoph Schlingensief. Es sollte Kérés bisher erfolgreichstes und anstrengendstes Projekt werden. Der Architekt reiste mit dem bereits an Lungenkrebs erkrankten Künstler nach Burkina Faso und marschierte mit diesem bei sengender Hitze durch die Gegend.

Nach wochenlanger Suche entschied sich Schlingensief für einen Standort unweit der Hauptstadt Ouagadougou. „Wir standen da im Nirgendwo, und Christoph strahlte“, erinnert sich Kéré. Das Operndorf Remdoogo sollte eine Siedlung, Schulen, eine Krankenstation und einen großen Festsaal umfassen.

"Anstrengend? Ja. Aber wenn Sie die Chance haben, eines Tages einen Menschen wie Christoph Schlingensief zu treffen, sagen Sie nicht Nein"

Diébédo Francis Kéré

Der Begriff Oper wurde dabei nicht so eng gefasst: „Christoph hat einmal gesagt: ,Ein Babyschrei ist auch eine Oper.‘“ Die lokale Politprominenz und der internationale Kunstjetset reisten an, um die Baustelle zu besuchen. War die Zusammenarbeit mit dem als obsessiv bekannten Schlingensief nicht auch anstrengend?

„Anstrengend ist milde ausgedrückt“, meint Kéré schmunzelnd. Mit dem Projekt wuchsen auch die Unstimmigkeiten. Doch: „Wenn Sie die Chance haben, eines Tages so einen Menschen zu treffen, dann sagen Sie nicht Nein.“

Nach dem Tod Schlingensiefs im August 2010 übernahm dessen Witwe, die Bühnenbildnerin Aino Laberenz, die Leitung des Projekts. Eine Schule und eine Krankenstation gibt es schon. Laberenz sammelt Spenden für den Festsaal, dem Schlingensief die Form eines Schneckenhauses geben wollte. Von Oper ist jetzt kaum noch die Rede, eher von Tonstudio und Filmschule.

„Das Operndorf hat mir viele Türen geöffnet“, sagt Kéré, der seine Rolle als Schlingensiefs Kumpel nicht überbewerten will. Lachend erzählt er von jener Museumsdirektorin, die Kéré auf der Baustelle nicht erkannte, weil sie ihn für einen einheimischen Arbeiter hielt. Viel wichtiger sei es, wenn ihn die Betroffenen spüren lassen: Dieser Gast kommt mit Lösungen. Dort, wo der Träumer und sein Baumeister das Gebäude errichten wollten, ist heute lediglich eine Baugrube zu sehen, gewissermaßen das Denkmal für eine bessere Welt. „Wir wollten sie ausheben, solange Christoph noch lebte.“

Die Thesen

Punkt 1

Den Planungsprozess demokratisieren

Eine Schlüsselfrage ist, inwieweit ein Planungsprozess demokratisierbar ist. Partizipation ist das Schwierigste. Wichtig ist, dass die Menschen wissen, dass es ihr Projekt ist. Die Rolle des Architekten in Gando, Burkina Faso, ist ganz anders als dessen Rolle im Westen. Kéré betrachtet sich manchmal nicht als Architekt, er sieht sich als Mittler zwischen den Kulturen, zwischen einer modernen und wissenschaftlichen Welt und einer traditionellen Welt, einer, in der die Menschen Wert darauf legen, dass sie den Besucher erriechen, bevor sie zu arbeiten beginnen.

Punkt 2

Partizipation in Europa leben

Die westliche Bevölkerung ist zunehmend kritischer geworden und will mitreden, auch, weil Kosten für Bauten explodieren. Was in Gando gemacht wurde aus reiner Notwendigkeit, kann nicht 1:1 nach Europa transportiert werden. Dennoch: Die Bürgergruppen, die sich interessieren, kann man richtig informieren, man kann im Vorfeld viel diskutieren und kommunizieren. Man kann mehr öffentliche Räume schaffen.

Punkt 3

Afrika muss sich eigenständig entwickeln

Ein kleines Land wie Burkina Faso hat Vertretungen in vielen Ländern. Zwergstaaten sind gezwungen, wie der Westen aufzutreten, das befördert die Korruption. Deshalb muss man eine eigenständige afrikanische Entwicklung vor Augen haben und nicht dem Westen nachstreben.

Das dazugehörige Stadtgespräch
Weitere Interviews & Artikel