Gespräch: Armin Thurnher
FALTER: Nr. 46/2019
Erscheinungsdatum: 12. November 2019
Es gibt Bücher, die treffen den Nerv der Zeit. Es gibt Bücher, die werden später als Schlüssel zum Verständnis ihrer Epoche angesehen. Es gibt Bücher, die können den Ton einer globalen Debatte verändern. Es gibt Bücher, die machen Widerständigen gegen untragbare Entwicklungen Hoffnung. Shoshana Zuboff hat ein Buch geschrieben, das all das und noch mehr in sich vereint: „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus.“ „Eine der profiliertesten Analytikerinnen der digitalen Moderne“ nennt der Spiegel die 68-jährige US-amerikanische Ökonomin. Naomi Klein, Autorin des Bestsellers „No Logo“, populäre Kapitalismuskritikerin, schrieb, sie sei von der ersten Seite dieses Buchs an vom Gedanken überwältigt gewesen, dass einfach jeder dieses Buch lesen müsse, als einen Akt digitaler Selbstverteidigung. Eine weitere Zuschreibung hat ebenfalls Konjunktur, man liest sie vom linksliberalen englischen Guardian bis zum US-amerikanischen Internet-Recherchemagazin The Intercept: Zuboffs Buch sei so etwas wie Rachel Carsons „Silent Spring“ für die Ökologiebewegung. Dieses 1962 erschienene Buch der Biologin inspirierte die globale Umweltbewegung und führte schließlich zum Verbot von DDT. Wo wäre in der digitalen Welt das Gegenstück zur Ökologiebewegung? Denn es ist nicht der Energieverbrauch jener Server gemeint, aus denen die sogenannte Cloud besteht, oder der Energiekonsum von Smartphones und Tablets. Wenngleich gerade die Bezeichnung Wolke ein Licht auf das Thema wirft. Das Thema digitaler Kapitalismus ist nämlich von einem dichten Nebel umgeben, sodass „wolkig“ gar kein schlechter Begriff zu sein scheint. Zuboffs Buch ist ein ernsthafter Versuch, diesen Nebel zu zerstreuen.
Zuerst war die Wolke des Digitalen von rosiger Hoffnung gefärbt wie die Morgenröte. Längst macht sich Ernüchterung breit unter den Digital Natives. Eine Digital-Publizistin wie Ingrid Brodnig schwört in ihrem lesenswerten Buch „Übermacht im Netz“ ihrem Technooptimismus ab, andere, wie der Kritiker und Künstler James Bridle, sehen gar ein „Digital Dark Age“. Konservative Poseure wie Ulf Poschardt, der Chef der Welt-Gruppe, verabschieden sich lautstark von Twitter. Robert Habeck, Chef der deutschen Grünen, hatte es ihm schon vor ein paar Monaten vorgemacht. Lügen, Hass und Fake News schienen durch die digitale Welt dominanter denn je zu sein. Die rosa Wolke von gestern sieht tiefschwarz aus. „Es geht um die Verfinsterung des digitalen Traums und dessen rapide Mutation zu einem ganz und gar neuen, gefräßigen, kommerziell orientierten Projekt, dem ich den Namen Überwachungskapitalismus gegeben habe“, sagt Shoshana Zuboff. Datenschützer, Aktivisten und Politiker klagen Facebook und die Tech-Konzerne; es gibt Arbeitskämpfe gegen Amazon, das Unbehagen an einer Welt steigt, die als Erweiterung, Befreiung und neues Zeitalter begrüßt worden war. In den USA rufen vermehrt Politikerinnen des linken Demokratenflügels wie Elizabeth Warren und Alexandria Ocasio-Cortez nach Regulierung der Silicon-Valley-Konzerne. Einige Male musste Facebook-Chef Mark Zuckerberg dem amerikanischen Kongress Rede und Antwort stehen. In Europa sind wir weiter weg vom Schuss, zugleich aber weiter fortgeschritten in Ansätzen zur Regulierung und zur Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten. Überall beginnt sich nämlich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich die digitalen Konzerne das Recht anmaßen, im rechtsfreien Raum nach eigenem Gutdünken zu agieren oder diesen Raum selbst zu definieren. Die Frechheit dieser neuen Weltbeherrscher zeigt sich in einer frühen Äußerung des Google-Günders Larry Page. Er stellte die rhetorische Frage, wie Google überhaupt irgendein Gesetz befolgen könne, das erlassen wurde, ehe es das Internet gab. Die Tech-Konzerne als Gesetzlose, die sich dank künstlicher Intelligenz und Algorithmen selbst über das Gesetz stellen.
Shoshana Zuboffs Antwort auf Pages Scheinfrage ist klar. Das sei keine Frage, das sei Propaganda. Sie hat die Fähigkeit, Tatbestände aufzuhellen, die im Nebel des neuen Fortschritts zu verschwinden drohen. Die neue Welt der Digitalisierung schuf ein Bewusstsein, das einer ganzen Generation die Idee eingab, das Urheberrecht sei eine reaktionäre Erfindung, Eigentumsrechte wären vom Ende des geistigen Eigentums her aufzubrechen und allseitige Vernetztheit und Verbundenheit würden zu einer Art höherer Existenzform führen, einer Art kosmischen Daseins light. Zuboff bleibt dem gegenüber nüchtern. Sie war eine der allerersten Beobachterinnen, Kommentatorinnen und Kritikerinnen dieser neuen Welt. In einem Beratungsjob nach ihrem Wirtschaftsstudium in den späten 1970er-Jahren an der Eliteuniversität Harvard war sie mit Computern in Berührung gekommen, bei einer Bank, bei einer Zeitung und bei einer Papierfabrik. Sie stellte fest, dass die neuen Geräte statt Effizienz Chaos ins Büro brachten, manche Mitarbeiter irritierten und von ihrer Arbeit entfremdeten. Diese Erlebnisse mit der neuen Technik faszinierten sie, säten aber auch den Keim des Misstrauens. Jedenfalls war hier ein Thema. Schließlich bestärkte bildende Kunst Zuboff darin, ihr Lebensthema zu erkennen. Wie sie erzählt, schuf der Anblick von Skulpturen des amerikanischen Künstlers David Smith, die Figuren der Voltri-Bolton-Serie, die sie in einer Washingtoner Galerie sah, bei ihr Klarheit. Bei ihrem Anblick erkannte sie, „dass der Computerisierungsprozess die nächste industrielle Revolution sein und alles verändern würde – einschließlich dessen, wie wir denken und fühlen und wie wir Bedeutung schaffen. Ich hatte ein Notizbuch dabei und fing an zu schreiben. Dies bestimmte seitdem die Agenda meines intellektuellen Lebens“, sagte sie dem Guardian. 1988 erschien ihr erstes Buch „In the Age of the Smart Machine: The Future of Work and Power“. Es trug ihr als einer der ersten und jüngsten Frauen eine Professur in Harvard ein. Schon damals schrieb Zuboff darüber, wie alles an unserer Existenz in Datenströme verwandelt würde und diese wiederum zur Überwachung und zur Profitmaximierung dienen würden. Allerdings sah sie das noch optimistisch. „Smart Machine versprach, dass fortschrittliche, ,informierende‘ Organisationen mithilfe von Technologie die Effektivität und das Engagement ihrer Mitarbeiter steigern und ihre Kritik und Erkenntnisse einfließen lassen, um die organisatorische Leistung und die Lebensqualität bei der Arbeit zu verbessern. Dies würde Unternehmen agiler machen und kreativer auf ihre Kunden eingehen lassen und sie letztendlich erfolgreicher machen“, wie ein Artikel im Wirtschaftsmagazin strategy + business hervorhebt. Aber Zuboffs Zweifel wuchsen. Ein Wendepunkt in ihrer Biografie kam 1994, als sie in der berühmten „Morning Show“ im Fernsehsender NBC mit einem Arbeitsmarktspezialisten diskutierte und bemerkte, dass sie zwar noch davon redete, dass „aufgeklärte“ Unternehmen die treibende Kraft für eine umfassende Verbesserung der Arbeit und des Outputs sein würden. „Ich hatte plötzlich diese Erfahrung, komplett neben mir zu stehen“, erinnerte sie sich im Interview mit der Wirtschaftszeitung. „Ich glaubte kein Wort von dem, was ich da sagte.“ Shoshana Zuboff konnte es sich leisten, biografische Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam mit ihrem Mann Jim Maxmin, einem erfolgreichen Unternehmer und Unternehmenssanierer, baute sie ein Holzhaus an einem See im Bundesstaat Maine, wo die beiden unter Hinzuziehung externer Lehrer ihre Kinder selbst unterrichteten. Zuboff, die schon als Jugendliche in Südamerika eine Herde Lamas gehütet hatte, hielt nun eine 200-köpfige Damwildherde, richtete in einem der Gästehäuser ihre Privatbibliothek ein und ward in Harvard immer seltener gesehen. Was sie öffentlich damit begründete, sie könne in Harvards betriebswirtschaftlichem Programm nicht mehr unterrichten, da sie einen Großteil des Lehrplans als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung betrachte.
Shoshana Zuboff
Darin ging es um die Entwicklung vom Massenkonsum zum individualistischen Konsum und die Einsicht, dass Menschen, die in einer komplexen und stressigen Welt leben, nach mehr „Kontrolle über die Qualität ihres Lebens, nicht nur über die Quantität materieller Gegenstände“ streben. Sie wollen „psychologische Selbstbestimmung“, also die Macht zu definieren, was in ihrem Leben wertvoll ist und wie sie es schaffen. Es ging aber auch um neue Unternehmensstrategien. Traditionelle Top-down-Hierarchien seien neuen sozialen Bedürfnissen nicht angemessen (wenn sie denn je irgendetwas angemessen waren), schrieb Zuboff. Sie konstatierte einen Verfall des Vertrauens zwischen Publikum und Wirtschaft und plädierte für neue, nicht hierarchische Beziehungen innerhalb von Unternehmen und zwischen Unternehmen und Kunden, aber auch für alle Arten von Kooperation zwischen verschiedenen Firmen, kurz für eine „Support Economy“. Zuboffs Großvater war Automechaniker gewesen und hatte einen Mechanismus für Verkaufsmaschinen erfunden, mit dem er ein Vermögen machte. Er fuhr mit einem Golfcart durch seine Fabrik und kannte jeden, der dort arbeitete und auch deren Familien. Seine umgängliche Art beeindruckte die Enkelin stark. „Mein Großvater sah nie jemanden in einer hierarchischen Rolle. Diese Werte teilte ich mit ihm“, sagte sie später.
In Zuboffs Arbeit flossen stets ihre praktischen Erfahrungen und ihre Recherchen als Konsulentin mit ein. Ihre Bücher entstanden nicht nur aus theoretischer Arbeit, sondern auch aus hunderten Interviews mit Betroffenen, denen sie später, im Fall der Internetkonzerne, Anonymität zusicherte. In Harvard wechselte sie von der Betriebswirtschaft an das Berkman Klein Center for Internet & Society. 2009 schlug ein Blitz in das Anwesen der Familie in Maine ein, das Holzhaus brannte bis auf den Grund nieder, mit ihm Forschungsunterlagen, Papiere, Dokumente. Symbolischer Zufall: Allein das Notizbuch, in dem Zuboff ihre Eindrücke von der Kunstausstellung in Washington festgehalten hatte, wurde gerettet. In ihrem Buch beschreibt Zuboff diesen Brand als eine Art Auslöser, ihr Opus Magnum zu schreiben. Sie machte es sich dabei nicht leicht. „Ich habe über Jahre hinweg viel Zeit darauf verwendet, dieses Buch zu schreiben“, sagte sie dem Guardian. „Ich habe Zeit mit meinem Mann und meinen Kindern geopfert. Ich habe meine Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Alles, was ich hatte, gab ich, weil ich das Gefühl hatte, es war fünf vor zwölf, ich musste gegen eine soziale Amnesie ankämpfen. Die Leute schienen mir psychisch betäubt. Sie hatten die Fähigkeit verloren zu staunen.“ Nämlich darüber zu staunen, was mit ihnen geschah, als zum Beispiel 2004 Gmail eingeführt wurde und Google wie selbstverständlich bei der Korrespondenz der Welt mitschrieb. Oder als Autos durch die Straßen fuhren und Häuser und Menschen fotografierten. Oder als man ihnen Maschinen verkaufte, die auf das Kommando von Menschenstimmen Befehle ausführten, aber gleichzeitig die Konversationen dieser Menschen abhörte und aufzeichnete. „Wir glaubten, Google zu durchsuchen, aber Google durchsuchte uns“, bringt sie es auf den Punkt. Und immer diese soziale Amnesie, die all das zwar nicht weiß, aber spürt, dass etwas nicht stimmt, und doch lächelnd darüber hinweggeht. Sie empört Zuboff weniger als die Dreistigkeit derer, die mit ihrer Frechheit durchkommen. Was ist geschehen? Wir wurden kolonisiert, aber auf sanfte Art. Dennoch vergleicht uns Zuboff mit jenen Bewohnern Mittel- und Südamerikas, die vor 500 Jahren ihre spanischen Kolonisatoren und Eroberer nur als Götter betrachten konnten. Kolonisation funktionierte zuerst einmal durch schiere Behauptung. Kolumbus behauptete, wohin er seinen Fuß setze, dort regiere Spanien. Die Kolonisierten verstanden das nicht, wurden aber durch die neue Art der Herrschaft überwältigt. Was wäre das neue, zu kolonisierende Gebiet? Als nichts mehr zu erobern übrig war, sagt Zuboff, „als nichts mehr in Ware verwandelt werden konnte, war das letzte jungfräuliche Territorium die menschliche Erfahrung“. 1986 war ein Prozent aller Informationen auf der Welt digitalisiert. 2013 waren es schon 98 Prozent. Sie begrüße zwar „den neuen kritischen Geist gegenüber Facebook, Google und anderen, glaube aber nicht, „dass wir als Gesellschaft schon viel weiter sind als damals die Indianer am Strand“, sagte sie dem Spiegel.
Im Überwachungskapitalismus ist unsere Kommunikation nicht das Produkt, sondern der Rohstoff, den die Kommunikationskonzerne ausbeuten. Kommunikation ist keine Sache mehr, bei der auf Augenhöhe und freiwillig Informationen ausgetauscht werden, wie das die Diskursethik eines Jürgen Habermas voraussetzte. Im Gegenteil: Kommunikation ist ein Prozess, der einem Einwegspiegel gleicht. Der eine sieht alles, der andere nichts. Die neuen Kommunikationsverhältnisse laufen auf eine „kollektive Ordnung auf Basis totaler Gewissheit“ hinaus, „auf die Enteignung kritischer Menschenrechte, die am besten als Putsch von oben zu verstehen ist – als Sturz der Volkssouveränität“, meint Zuboff in ihrem Buch. „Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. Ein Teil dieser Daten dient der Verbesserung von Produkten und Diensten, den Rest erklärt man zu proprietärem, also einem Unternehmen gehörigem Verhaltensüberschuss, aus dem man mit Hilfe künstlicher Intelligenz Vorhersageprodukte fertigt, die erahnen, was Sie jetzt, in Kürze oder irgendwann tun.“ An unserer Kommunikation interessieren die Konzerne vor allem die Daten, die sie da-raus extrahieren. Ohne dass wir es wollen, werden sie gesammelt, gehortet, geordnet und anderen Firmen verkauft, um aus der Analyse unseres bisherigen Verhaltens unser zukünftiges vorherzusagen. Um damit Profit zu machen, selbstverständlich. Unsere Kolonisatoren foltern uns weder, noch tragen sie unsere Goldschätze davon, geschweige denn, dass sie uns den Kopf abschlagen. Sie brauchen diesen Kopf, damit er ihnen weiterhin Rohstoff liefert. Es bedarf keiner Soldaten in Rüstung, um uns zu überzeugen, unseren Datenreichtum abzugeben und damit unermesslichen Reichtum zu schaffen. Im Gegenteil: Wir selbst helfen mit, indem wir andere, die vielleicht noch abseits stehen, drängen, sich ebenfalls zu digitalisieren und an der „gesellschaftlichen Kommunikation“ teilzunehmen. Wer kann schon ohne Online-Einkauf, Social Media oder gar ohne Smartphone auskommen? Das wären Sonderlinge, Einzelgänger, sozial isolierte Gestalten.
Google verkauft an seine Werbekunden „Derivate von Verhaltensüberschuss“. Google Maps und Google Glass waren die losgelassenen „Hunde der Dreistigkeit“. Facebook hat „durch Irreführung und Verschleierung“ seines Tuns erreicht, dass wir uns daran gewöhnt haben, an der Nase herumgeführt zu werden. „Sie haben viele Strategien, um sich vor dem Gesetz zu schützen: Lobbying, politische Kaperung, andere Methoden, die wir von Kartellbildungen kennen.“ Dazu gehört, die Ideologie in die Welt zu setzen, das Internet sei eine neue Welt, die neuer, eigener Regeln bedürfe. Kurz, der Überwachungskapitalismus regiert. Zuboff hat das Phänomen umfassend und in unerreichter Schärfe und Dichte analysiert. Überwachungskapitalismus trägt ausdrücklich das Digitale nicht im Namen. Will sagen, nicht das Digitale ist das Problem. Man könne sich eine digitale Welt ganz leicht ohne Überwachungskapitalismus vorstellen. Der Überwachungskapitalismus ist nicht nur überragend kapitalisiert – die fünf kapitalstärksten Unternehmen der Welt sind die Silicon-Valley-Giganten –, er benutzt sein Kapital auch dazu, uns unwissend zu halten. Mit diesem Zustand der Unwissenheit und damit, wie geschickt sie uns darin wiegen, brüsteten sich Experten der Silicon-Valley-Konzerne auf verschiedene Weise. Urtypisch bleibt die Antwort des Facebook-Bosses Mark Zuckerberg auf die verwunderte Frage, warum die ersten 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an „The Facebook“ ihm einfach so ihre intimen Daten auslieferten: „They just gave it to me. Dumb fucks.“ Neuestes Beispiel ist das Projekt Nightingale, bei dem Google mit einer Gesundheitsorganisation hinter dem Rücken von Millionen Patienten deren Daten sammelt. Shoshana Zuboff im Original: „Der Überwachungskapitalismus hatte Erfolg durch seine aggressive Deklaration. (…) Diese Konquistadoren des 21. Jahrhunderts bitten nicht um Erlaubnis. Sie schreiten voran und tapezieren die verbrannte Erde mit falschen Legitimationspraktiken. Anstelle von zynisch vermittelten monarchischen Edikten bieten sie zynisch vermittelte Dienstleistungsvereinbarungen an, deren Bestimmungen ebenso undeutlich und unverständlich sind.“
Die spanischen Eroberer lasen vor ihren Schandtaten jeweils die Erlässe ihrer Herrscher vor, manchmal aber murmelten sie sie nur verschämt in ihren Bart, denn ihre Zuhörer verstanden sie sowieso nicht, erzählt Zuboff. Ähnlich wir, die wir uns nicht damit aufhalten, Verträge zu lesen, die wir hastig unterzeichnen, um die neue Software-Version herunterzuladen, die uns noch effizienter ausspioniert und unser Verhalten noch gründlicher aussaugt. Verhaltensüberschuss, das ist in Zuboffs Terminologie jene Menge an Informationen, die das Unternehmen nicht benötigen würde, um seine Dienstleistungen anzubieten (Orientierung, Information etc.). Der Überschuss wird an Dritte verkauft, aber auch dazu benützt, unser Verhalten vorherzusagen. Alles schön gewaltlos, nicht einmal repressiv. „Faktisch zwingt heute die Wettbewerbsdynamik die Überwachungskapitalisten zum Erwerb immer aussagekräftigerer Quellen für Verhaltensüberschuss, wie sie etwa unsere Stimmen, Persönlichkeiten und Emotionen darstellen. Und schließlich sind sie dahintergekommen, dass man die aussagekräftigsten Verhaltensdaten überhaupt durch den aktiven Eingriff in den Stand der Dinge bekommt, mit anderen Worten, indem man Verhalten anstößt, herauskitzelt, tunt und in der Herde in Richtung profitabler Ergebnisse treibt.“ Von fern winkt Herbert Marcuse. Dieser Philosoph der 1968er prägte den schönen Begriff der „repressiven Toleranz“. Alles ganz harmlos, alles zu unserem Besten. Niemand kommt, um uns zu holen oder in den Gulag zu stecken. Niemand will uns töten. Die Internetkonzerne „wollen uns nur in die Richtung ihrer Vorhersagen bewegen und unsere Daten haben“, sagt Zuboff. Obwohl in China durchaus Tendenzen sichtbar würden, diese Techniken mit dem repressiven Staat zu verknüpfen. Und was ist mit der berühmten Freiwilligkeit? Mark Zuckerberg hat immer wieder behauptet, Privatheit sei nicht länger eine soziale Norm (abgesehen von seinem gut geschützten eigenen Anwesen natürlich). Und der langjährige Google-Chef Eric Schmidt brachte gern den Allgemeinplatz vor, wer etwas zu verbergen habe, sollte lieber unterlassen, dunkle Dinge zu tun als sich über deren Aufdeckung aufzuregen. Zuboff findet das skandalös: „Ich sage den Leuten, wenn ihr nichts zu verstecken habt, seid ihr nichts.“ Geheimnisse haben zu dürfen gehöre zum historischen Prozess der Individuumswerdung und gehe Hand in Hand mit Demokratie und politischer Freiheit.
Es habe auch nichts zu tun mit dem Liberalismus des neoklassischen Ökonomen Friedrich Hayek. Dessen Neoliberalismus deckt Zuboff ebenso als grundlegende Ideologie des Überwachungskapitalismus auf wie den Behaviorismus des Psychologen B. F. Skinner, der gleichzeitig mit ihr in Harvard lehrte. Sie meint, dass die Utopie der kompletten psychologischen Verhaltenssteuerung des Menschen gut zur neoklassischen Idee des Homo oeconomicus passt, der angeblich alles rational entscheidet. Die beiden Konzepte vereinen sich im Algorithmus, der den Menschen rational vorausberechnet und ökonomisch perfekt ausbeutet. Bizarr: Der Geist, in dem die Protagonisten der Internetkonzerne handeln, ist gewiss ein revolutionärer, ein Aufbruchsgeist, ein Geist, der die Gesellschaft umgestalten und ihre Fundamente wegfegen will. Die Frische der Kapitalistenklasse, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ beschrieben, die Gewalt, mit der diese Klasse alle überkommenen Verhältnisse umwälzt und niederreißt, kehrt nun in der digitalen Disruption wieder. Und selbstverständlich ist Disruption auch ein Werkzeug jüngerer Generationen im Machtkampf gegen ältere. Klarerweise ist jeder Widerstand gegen solche Innovationen mit dem Makel des Konservativismus behaftet. Autoren wie Jonathan Franzen, die sich von der digitalen Sphäre fernhalten, erscheinen skurril wie Vogelbeobachter und Naturschützer, die sie ja auch sind, die ein Kraftwerk verhindern wollen, möglicherweise auch etwas so Progressives wie ein Windrad. Auch Zuboff ist übrigens Naturliebhaberin und unterbricht gern einmal ihre dringlichen Botschaften, um ihre Gesprächspartner auf ein besonders schönes Exemplar einer Elster aufmerksam zu machen.
Erfrischend an Zuboffs Buch ist, dass trotz mancher Längen und des imponierenden Umfangs von mehr als 700 Seiten die Autorin sich die Frische ihrer Empörung bewahrt hat. In ihrem Opus Magnum streut sie auch immer wieder Passagen aus den „Sonnets from China“ des Dichters W. H. Auden ein, poetisch formulierte Einsprüche gegen Krieg und Gewalt, sozusagen das literarische Aufblitzen einer anderen Welt. Zuboff spricht von einem faustischen Pakt, den wir alle schließen: Es ist uns unmöglich, uns dem Internet zu entziehen, obwohl wir wissen, dass es unser Leben für immer verändert. Denn: „Das Internet ist völlig vom Kommerz bestimmt, der wiede-rum dem Überwachungskapitalismus untergeordnet ist.“ Da wir diesem Zustand nicht entkommen, machen wir uns blind für ihn und fügen uns, sagt Zuboff. Andererseits war Faust vom Erkenntnisinteresse getrieben und vom Willen, die Triebkräfte der Welt kennenzulernen. Was uns hingegen antreibt, ist eine Mischung aus Narzissmus, Neugier, Bequemlichkeit und Verführbarkeit. Zuboff will uns nicht belehren oder bekehren. Was sie schon will, ist, uns ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem wir den Tatsachen ins Auge sehen können. Der Preis des Industriekapitalismus und all der Wohlstandsgewinne, die er mit sich brachte, war und ist der Tribut der äußeren Natur, der Erde. Er beutet den Planeten aus und zerstört ihn. Der Überwachungskapitalismus aber beutet den Menschen selbst aus. Da ist sie wieder, die neue digitale Ökologie. Erst wenn wir das Ausmaß des Problems erkennen, das mit ein bisschen Persönlichkeitsrechten und Datenschutz nicht repariert werden kann, sagt Zuboff, können wir von kolonisierten Opfern zu aufgeklärten Handelnden werden. Opfer? Ja, sie treffe auf ihren Vortragsreisen überall Leute, die den Eindruck haben, „dass sie während dieser rasenden Veränderungen die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Dass sie ihren Kindern nicht mehr dieselbe Welt zeigen und erlebbar machen können, in der sie selbst aufgewachsen sind, dass sie ihnen den Weg in die Zukunft nicht mehr weisen können. Solche Aussagen hat man in den USA immer wieder von Anhängern der Tea-Party-Bewegung oder von Trump-Wählern gehört. Aus dem Unbehagen wird bei vielen Bitterkeit und Wut.“
Was hilft? Die Zerschlagung der Konzerne? Regulierung, sagt Zuboff. Ihre Regulierung fürchten die Tech-Konzerne am meisten. Mit menschlichen Daten Termingeschäfte zu machen, müsse ebenso illegal gemacht werden wie einst der Sklavenhandel in den Demokratien. Das werde Jahrzehnte dauern und vieler Empörung, Kritik und politischer Arbeit bedürfen. Andererseits sei der Überwachungskapitalismus erst 20 Jahre alt. Eine bessere digitale Welt ist möglich, aber geschenkt wird sie uns nicht
Wenn der Planet unser Haus ist, wie Greta Thunberg es mit „Our house is on fire“ formuliert, dann ist die Gesellschaft unser Zuhause und das steht in Brand. Überwachungskapitalisten haben eine Achillesferse: Sie fürchten das Gesetz und Bürger demokratischer Länder, die auf einen neuen Weg bestehen.
Überwachungskapitalisten haben eine noch nie dagewesene Macht. Sie agieren nicht unbedingt gegen das Gesetz, vielmehr gibt es noch keine Gesetze zu ihrem Vorgehen. Ein Beispiel: Eine Passantin wird aufgenommen, ohne es mitzubekommen, und die Aufnahme wird verwendet, um Gesichtserkennungssysteme zu testen, die wiederum ans chinesische Militär verkauft werden, wodurch die Passantin – ohne Schutz und ohne davon Kenntnis zu haben – wiederum dieses System stützt.
Der Überwachungskapitalismus besitzt und betreibt das Internet: Wir sind mit einem monolithischen System konfrontiert, das man als eine „Dictatorship of no alternatives“ bezeichnen kann. Zentral sind Demokratie und Gesetzgebung: Es ist ein unerträglicher Zustand, dass es Konzerngiganten gibt, die eine Asymmetrie an Wissen und Macht erzeugt haben. „Google will deinen Körper, dein Auto, dein Zuhause und deine Stadt besitzen.“