Interview

André Heller

Der Wiener Künstler über seine kulturelle Prägung, das Jahr 1968 und den Sinn des Lebens

Gespräch: Gerhard Stöger, Thomas Miessgang

FALTER:  Nr. 11/2012

Erscheinungsdatum: 02.10.2008

8. Wiener Stadtgespräch mit André Heller © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

André Heller ist ein österreichischer Künstler, der sich auf kein künstlerisches Genre festlegen lässt. Er war Liedermacher und schreibt Bücher, dreht Filme und erfand den Zirkus und das Varieté neu. Daneben entwirft er Gesamtkunstwerke wie Swarovski Kristallwelten und Gartenanlagen und kreiert kulturelle Großveranstaltungen. Für seine vielfältige künstlerische Arbeit wurde er unter anderem mit dem Bambi und dem Amadeus Austrian Music Award ausgezeichnet.

André Hellers Begrüßung ist eine Entschuldigung. Er habe einen Arzttermin, daher blieben für das Gespräch nur zwei Stunden, bedauert er. Zwei Stunden, das klingt üppig. Aber bei André Heller ist das wenig. Denn Heller ist keiner, der kurze, präzise Antworten gibt. Er ist ein Geschichtenerzähler, der weiß, dass die Abschweifung mindestens so interessant sein kann wie der eigentliche Kern.
FALTER: Herr Heller, Sie waren 1967 als DJ Andreas der erste Moderator der legendären „Musicbox“ auf Ö3. Wie sind Sie ohne jede Radioerfahrung zu diesem Job gekommen?

Ich war für konventionelle Schulen jeglicher Form ungeeignet und süchtig nach selbstbestimmtem Lernen durch Literatur, Musik, bildende Kunst, Filme und anregende Gespräche mit Wissenden. Wegen renitenten Verhaltens bin ich aus der Schauspielschule geflogen, bevor ich zur ersten Prüfung antreten konnte; genauso wie zuvor aus der letzten meiner vier Mittelschulen. Meine Mutter hat mich dann in ihrer verständlichen Verzweiflung in ein skurriles Fahrschulinternat in St. Johann im Pongau geschickt, damit ich wenigstens Chauffeur werden könnte. Das habe ich zwar letztlich aus brennendem Desinteresse auch nicht geschafft, aber mich dort mit einem Mitschüler namens Hermann Hirner angefreundet – ohne zu wissen, was er beruflich macht. Eines Tages hat er mich angerufen, und da realisierte ich, dass er der Zentralbetriebsratsobmann des ORF war. „Es kommt jetzt der Gerd Bacher und will einen Sender für junges Publikum gründen“, hat er gesagt. „Schau doch einmal vorbei, wir brauchen dringend Leute, die Programme machen können. Und du hast doch einen guten Schmäh!“

Die „Musicbox“ ist also zufällig passiert?

In manchen Liedern von Van Morrison werden Nachterinnerungen beschworen, wo er durch den Äther Musiken von exotischen Radiostationen empfängt, Radio Hilversum zum Beispiel – derlei in etwa schwebte Gerd Bacher mit der Gründung von Ö3 vor. Ich durfte mir eine Sendezeit aussuchen, und da ich am Vormittag immer geschlafen hab, weil ich wie alle Eulen nachtaktiv war, sagte ich: „Ab drei Uhr nachmittags könnte ich etwas machen.“ Das ganze einigermaßen revolutionäre und amüsante Universum der Popmusik strukturierte sich gerade erstmals und durch die „Musicbox“ war Wien für die Pop-Außerirdischen ein begehrter Landeplatz, denn wir hatten als Einzige im deutschen Sprachraum das Ohr hunderttausender junger Leute. Also kamen alle her. Von Jimi Hendrix bis zu den Supremes, von Frank Zappa bis zu den Rolling Stones.

Und diese Weltstars waren alle in der „Musicbox“ zu Gast?

Ja, entweder live oder durch aufgezeichnete Interviews. Aber sie haben sich nicht wie heutige Weltstars geriert. Sie waren etwa so alt wie wir selbst und kamen ohne Privatflugzeug und Leibwächter und PR-Entourage. Wir sprachen miteinander auf Augenhöhe, und wenn ich nach London fuhr, zeigte mir Manfred Mann seine Clubs, so wie ich ihm in Wien den Atrium-Club oder die Camera gezeigt hatte. Wir Musicboxer standen also nicht unter dem Eindruck, weniger fulminant als unsere Gäste zu sein – ich auf keinen Fall, das war ja der Beginn meiner hochmütigsten Zeit.

Wie war das mit John Lennon und Yoko Ono bei ihrem Wien-Besuch 1969?

Auch die hatten keinen Tross um sich. Ich bin mit John Lennon vor seiner Abreise noch auf den Zentralfriedhof gepilgert, um das Grab von Franz Schubert zu besuchen. Statt Blumen legte er dort einen Schnürsenkel auf das Grab.

Zuvor hatten John und Yoko im Hotel Sacher ihre legendäre „Bagism“-Pressekonferenz gegeben.

Ich war als Reporter dort und führte das Gespräch mit ihm, weil ich am nächsten an den beiden, die nackt unter einem Leintuch kuschelten, dranstand. Da fiel auf meine Frage, was er von der Queen halte, Lennons berühmte Äußerung, dass die englische Königin weniger für den Frieden geleistet habe als er. Danach kam der Manager und sagte: „John haben deine Fragen gefallen. Mach morgen eine eigene Sendung mit den beiden.“ Darauf sind der Alfred Treiber und ich am nächsten Vormittag verabredungsgemäß in die Suite. Die Tür war seltsamerweise unversperrt. John hat im blau-weiß gestreiften Pyjama geschlafen, Yoko in einem T-Shirt. Wir haben sie durch lautes Absingen der österreichischen Bundeshymne aufgeweckt und, nachdem wir gefrühstückt hatten, eine lange happeningartige Sendung aufgenommen. Das war alles ganz unprätentiös. Einmal kam Brian Jones von den Rolling Stones in die „Musicbox“. Zwei Dinge waren an ihm bemerkenswert: die Petit-Point-bestickten Schuhe, die er sich in Wien gekauft hatte, und seine Geliebte, Anita Pallenberg, die eine Klarsichtbluse trug. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Ich redete eine Stunde lang mit Jones, und nach und nach versuchten beinah alle Angestellten des Hörfunks zumindest für Augenblicke in diesen kleinen Tonmeisterraum zu kommen, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass da eine nach österreichischen Standards Wahnsinnige sitzt, mit nackten Brüsten. In dieser Sendung sagte Brian Jones übrigens, er sei so müde, weil er die ganze Nacht in London im Studio verbracht habe. Wenn ich wolle, könne er mir seine neueste Produktion als Rohmischung zum Anhören geben. Wir spielten das Tonband sofort live auf Sendung, und drauf war, als Welturaufführung, „With a Little Help from My Friends“ von Joe Cocker.

Auf die Gründung von Ö3 folgte das Jahr 1968. Gab es in Wien Schnittstellen zwischen Popkultur und Politik?

Mein 68er-Erlebnis war schon 1965. Nämlich die große, interessanterweise vom blutjungen Ossi Bronner durch einen Beitrag in der Fernsehsendung „Zeitventil“ seines Vaters Gerhard ausgelöste Demonstration gegen den aggressiven Antisemiten und Hardcore-Nazi Professor ­Borodajkewycz von der WU. Auch der Student Ferdinand Lacina und der Jungpolitiker Heinz Fischer haben sich wesentliche Verdienste um dieses bis dahin in Österreich beispiellose polithygienische Sich-nicht-Fügen Zehntausender erworben. Ich bin mit all meinen Freunden mitmarschiert. Mörderischerweise wurde damals der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem Burschenschafter namens Günther Kümel niedergeschlagen, er starb kurz darauf an den Folgen dieses Gewaltakts.

Wie haben Sie dann 1968 erlebt?

Daran habe ich eher skurrile Erinnerungen. Wir, der Arnulf Rainer, Hubert Aratym und andere Künstler und Studenten, wollten einmal das Burgtheater stürmen, um eine kulturpolitische Proklamation zu verlesen. Nachdem wir dies bei der Uni verkündeten, montierte die Polizei sofort an alle Eingänge Schlösser. Die Pluhar hatte uns genaue Pläne für die Wege durch den Schauspielereingang auf die Bühne gezeichnet, aber auch dort standen bei den Türen Polizisten und sagten höhnisch: „Hamgehn, Herrschaften! Wirbel abgesagt!“ Einmal besuchte, glaub ich, Fritz Teufel die Ossi-Wiener-Partie im Café Savoy hinterm Ronacher. Viel dürfte dabei auch nicht herausgekommen sein. Die Sendungen der Jugendredaktion jedenfalls nahmen die Nöte und Aufbrüche der jungen Leute ernst. So wurde eine lokale Jugendkultur beflügelt: Diskussionsrunden fanden statt, alternative Konzerte und Kurzfilmfestivals, und wir fragten auch in Sendungen kritisch bei Politikern nach. Derlei hatte jahrzehntelang nicht die geringste Tradition gehabt.

Wie haben Sie die Anfänge des Austropop erlebt?

Der Gerhard Bronner hat ein Biotop für Leute geschaffen, die sich für Musik, politische Diskussionen oder auch für die viel erlebt habenden, gelegentlich reaktionären Altspatzen interessiert haben, etwa Friedrich Torberg. Es gab das Torberg-Stüberl hinten in Bronners Lokal Fledermaus, wo ich oft mit dem Qualtinger war, der immer Hawelka-kritisch gesagt hat: „Geh dorthin, wo interessante Leute sind, lass dich auf unterschiedliche Zirkel ein, nicht immer in derselben Suppe köcheln, auch Gegenstandpunkte studieren.“ Er, als besonders liebevoller und auf Ermutigung spezialisierter Freund, hat mich vielen wichtigen Durchreisenden vorgestellt, die ihn schätzten. Herren wie Marcel Marceau, Peter Zadek, Ulli Becher, der unter anderem den „Bockerer“ schrieb, Bernhard Wicki und wie sie alle hießen. Im Torberg-Stüberl saßen auch Leute wie der Dramatiker Hochwälder oder der leibhaftige Karl Farkas – ich bin sehr dankbar, dass ich mit denen noch Gespräche führen konnte. Letztere galten damals als hoffnungslos old-fashioned. Dass sie in der Emigration waren, dass sie einmal innovative und immer noch hochprofessionelle Könner waren, galt im Hawelka als nicht zugelassenes Argument. Im Torberg-Stüberl gab es auch ein Klavier, das zum Arbeiten einlud. Ich hab dort mindestens 20 Lieder mit dem Bronner und manchmal auch Peter Wehle geschrieben, die dann in Fernseh- und Radiosendungen aufgetaucht sind. Als das Musical „Hair“ mit der völlig unbekannten Donna Summer triumphal in der Stadthalle gastierte, entstanden Bronners Dialektversion vom Song „Aquarius“ und in weiterer Folge seine „Glock’n“. Das waren, in der Interpretation von Marianne Mendt, die ersten Austropop-Megaerfolge.

"Leben heißt für mich, diese Figur, die als Entwurf in einem angelegt ist, klug zu fördern und präzise herauszuarbeiten, Tag für Tag, Stunde für Stunde" 

André Heller

FALTER:  Sänger, Schauspieler, Moderator, Künstler, Autor – Sie haben eine bunte Karriere. Sind Sie mittlerweile der André Heller, der Sie sein wollten?

Leben heißt für mich, diese Figur, die als Entwurf in einem angelegt ist, klug zu fördern und präzise herauszuarbeiten, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Es ist auch interessant, wie viel Erfolg man haben kann, ohne selber dran zu glauben. Man denkt dann auch: Gott sei Dank ist mir bei manchem keiner draufgekommen, wie sehr noch die Kluft zwischen Erkenntnis und daraus resultierender Konsequenz unüberbrückt ist.

André Hellers Karriere – eine Hochstapelei à la Felix Krull?

Man sollte gerecht sein. Die Verwandlungen dauern ihre Zeit und eben oft sehr lange. Heute ist natürlich die wirkliche Figur André Heller schon sehr viel genauer erkennbar, aber von meinem Ideal bin ich immer noch ziemlich entfernt. Man kann die Entwicklung allerdings beschleunigen, wenn man vom terroristischen Ego heruntersteigt und wenn man den Segen von umfassender Dankbarkeit erkennt.

Eine letzte Frage: Worum geht es im Leben?

Nach jahrzehntelangem Reflektieren und unzähligen Bemühungen, mir selbst und der Welt auf den Grund zu gehen, glaube ich, es geht darum, dass unsere unsterbliche Seele in einem sterblichen Körper auf einem Planeten, dessen Spezialität die Polarität ist, menschliche Abenteuer erfährt. Es ist ein intensives, häufig beunruhigendes und angstbeladenes Studium, das wir nicht schwänzen sollten. Nach jahrzehntelangem Reflektieren und unzähligen Bemühungen, mir selbst und der Welt auf den Grund zu gehen, glaube ich, es geht darum, dass unsere unsterbliche Seele in einem sterblichen Körper auf einem Planeten, dessen Spezialität die Polarität ist, menschliche Abenteuer erfährt. Es ist ein intensives, häufig beunruhigendes und angstbeladenes Studium, das wir nicht schwänzen sollten. 

Die Thesen

Punkt 1

Massenkultur hat ihre Berechtigung

Für viele junge Künstler ist es schwer, sich der Massenkultur zuzuwenden, weil sie sehr viel Missachtung aus ihrem Künstlerkreis erfahren. Aber Charlie Chaplin und Bob Dylan sind auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. Das Kleine und das Große – beides hat seine Berechtigung.

Punkt 1

Die Heimat der Missgunst

Am besten kann man durch Freude lernen, aber das hat sich bei uns noch nicht herumgesprochen. Die Intellektuellen und Künstler in Wien verherrlichen den Kult der schlechten Laune, weil sie glauben, wenn man in der Selbstaggression, Missgunst und Wut auf andere zu Hause sei, dann sei man am richtigen Platz. Aber man ist am richtigen Platz, wenn man sich darüber freut, wenn einem anderen etwas gelingt und wenn man selbst Ermutigung bekommt.

Punkt 3

Rezept zum Glücklichwerden

Es gibt drei Säulen für funktionierendes Glück. Erstens: wenig Ego. Das Ego ist eine entsetzliche Ballastgeschichte, das einem überall dazwischenkommt; es ist nicht leicht, das loszuwerden. Zweitens: viel Dankbarkeit – ich sehe mein Leben als wunderbares Geschenk und Gnade und habe so wunderbare Menschen in meinem Leben gefunden. Und drittens: die bedingungslose Liebe. Das hat mich mein Kind gelehrt.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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