Gespräch: Wolfgang Zwander
FALTER: Nr. 18/2012
Erscheinungsdatum: 02.05.2012
Auf diese Frage gibt es eine pessimistische und eine optimistische Antwort. Die pessimistische ist: Viele Menschen sind zunehmend der Überzeugung, dass unsere Demokratie einfach nicht mehr funktioniert, und deshalb sehnen sie sich nach etwas Neuem. Das Internet steht für dieses Neue, und sie verbinden damit die Heilserwartung, die Demokratie neu erfinden zu können.
Man könnte behaupten, dass die Menschen in einer lebendigen demokratischen Gesellschaft immer neue Möglichkeiten der politischen Äußerung suchen – und auch finden. Das Internet steht in diesem Sinne für eine Repolitisierung der Gesellschaft. Es beweist, dass es kein Ende der Geschichte gibt, wie es viele Politiker und Intellektuelle gerne hätten.
Beide sind richtig. Einerseits belebt das Internet die Demokratie, weil es uns allen ganz neue Verbindungsmöglichkeiten bringt. Gruppen, die keinen leichten Zugang zu den Massenmedien finden, können es beinahe kostenlos benutzen, um damit Millionen Menschen zu erreichen. Die Menschen können heute auf eine Art kommunizieren und sich organisieren, die von den Machtapparaten und den Medienimperien nicht oder nur schwer kontrolliert werden kann. Aber Staat und Konzerne schlafen nicht. Allmählich werden die Mächtigen Wege finden, wie sie das Internet für ihre Zwecke kontrollieren können. Das demokratische Potenzial des Netzes wird sich dann schnell in Luft auflösen. Die Geschichte der Neuen Medien wird ähnlich verlaufen wie die Geschichte der Presse: Zuerst bringen sie eine neue Form der Äußerung von Freiheit, später wird das Internet vor allem ein Instrument der Mächtigen und eine gute Möglichkeit für Konzerne sein, viel Geld zu verdienen. Wir müssen die Jugendzeit des Internets genießen.
Ein sehr großes Problem unserer westlichen Demokratien ist, dass die politischen Klassen fast keine Verbindungen mehr zur Gesellschaft haben. Die Spitzenpolitiker agieren als geschlossene Gruppe. Initiativen, die sich im Internet bilden, dienen als kräftiger Weckruf für die Politik. Das ist einerseits sehr gut. Andererseits müssen wir aber auch sehen, dass es unter politischen Onlinebewegungen nicht nur progressive Gruppen gibt, sondern auch faschistische und rassistische, islamophobe und antisemitische. Für unser System wäre es verheerend, wenn diese reaktionären Kräfte über das Internet an Kraft gewinnen würden.
Ja, vielleicht! Wer weiß? Man muss aber auch erkennen, dass die Millionen Stimmen der Machtlosen außerhalb der westlichen Welt oft gar keinen Zugang zum Internet haben. Für die Armen unseres Planeten spielt es vielfach überhaupt keine Rolle.
Colin Crouch
Ja, dieser Unterschied ist beinahe ironisch. Der Kampf der unterdrückten Völker für Demokratie und Freiheit muss uns jedenfalls in unserer Lethargie beschämen.
Bei diesem Punkt lautet die entscheidende Frage: Würden Schriftsteller und Musiker ihre Arbeit einstellen, wenn sie ihre Produkte nicht mehr als Güter verkaufen könnten? Ich weiß darauf keine Antwort, aber die Frage, ob es Verwertungsformen abseits der kapitalistischen Logik geben kann, interessiert mich. Einige Musiker sagen schon heute, dass es ihnen lieber ist, ihr Geld mit Livekonzerten zu verdienen als durch Tonträgerverkauf.
Klar ist, es muss auch im Internet staatliche Regulierung geben, so wie bei allen anderen Mitteilungsmedien auch. Der Staat muss vorgehen gegen Mobbing und Betrug, gegen Hassverbrechen und Kinderpornografie. Es wird aber noch Zeit brauchen, bis die Gesetze im Netz greifen, weil es für Justiz und Exekutive oft noch Neuland ist.
Wir wollen, dass die Mächtigen keine Geheimnisse vor uns haben. Andererseits ist es nicht in unserem Interesse, dass vertrauliche Daten jederzeit öffentlich werden können. Wer entscheidet, wann eine Veröffentlichung gerechtfertigt ist? Der Staat selbst? Journalisten? Ein Gericht? Diese Optionen scheinen mir unzureichend. Wir können diese Frage heute noch nicht beantworten.
Westliche Länder sind auf dem Weg in die Postdemokratie. Postdemokratie bezeichnet ein Gemeinwesen mit Wahlen, in dem konkurrierende Teams professioneller Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Man diskutiert nur über eine Reihe von Themen, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die meisten Bürger spielen dabei eine apathische Rolle, sie reagieren nur auf vorgegebene Signale. Im Schatten der politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht. Die gewählten Regierungen und Eliten vertreten vor allem die Interessen der Wirtschaft.
Die Xenophobie ist die größte und schlimmste Gefahr des neoliberalen Zeitalters. Es gibt eine allgemeine Angst: Kleine Leute sehen, dass etwas ihrer Kontrolle entglitten ist, dass sich außerhalb ihres Landes Dinge tun, die Auswirkungen auf sie haben. Für sie ist es sehr schwer, gegen die Globalisierung anzukämpfen, aber es ist für die kleinen Leute sehr leicht, arme Migranten als Beispiel der Globalisierung zu sehen und gegen sie zu agieren. Dabei sind arme Migranten ja ebenfalls Opfer der Globalisierung.
Die herrschende Klasse hat ihre neoliberale Ideologie und sie hat Zeitungen, die ihre Ideologie predigen. Die neue Generation – die Leute, die in Dienstleistungsjobs arbeiten – ist hingegen nicht leicht zu organisieren. Aber vielleicht haben sich diese Menschen ja entgegen der gängigen Meinung doch schon formiert, vielleicht haben sie es über den Feminismus gemacht. Denn die Mehrheit derjenigen, die in öffentlichen und privaten Dienstleistungssektoren arbeiten, sind Frauen. Vielleicht ist die Tagesordnung des Feminismus die neue Politik dieser neuen sozialen Schichten.