Interview

Ingo Schulze

Der Autor über die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Politik, die blind den Märkten folgt

Gespräch: Klaus Nüchtern

FALTER:  Nr. 10/2012

Erscheinungsdatum: 07.03.2012

19. Wiener Stadtgespräch mit Ingo Schulze © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Ingo Schulze ist ein deutscher Schriftsteller. Er wurde in Dresden geboren, studierte Klassische Philologie und Germanistik in Jena und arbeitete als Dramaturg und Journalist. Mitte der 1990er-Jahre wurde er mit seinen Erzählungen „33 Augenblicke des Glücks“ bekannt. Die Bücher „Simple Storys“ und „Neue Leben“ wurden als die großen Romane über das wiedervereinigte Deutschland gefeiert. Ingo Schulze, der in Berlin lebt, erhielt mehrere Auszeichnungen – darunter der Preis der Leipziger Buchmesse – und zählt zu den interessantesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur.

Sparen, sparen, sparen – und keine depperten Fragen stellen. So lautet das nicht nur dem bankrotten Griechenland verordnete Programm. Der Schriftsteller Ingo Schulze, bekannt etwa durch den Wende-Roman „Neue Leben“, will sich damit nicht abspeisen lassen.
FALTER:  Herr Schulze, ist die Ökonomie zu ernst, um sie den Ökonomen zu überlassen?

Ja, ganz sicher. Ich weiß leider nicht mehr den Autor der Zeile „Begräbnis folgt auf Begräbnis – die Ökonomie macht Fortschritte“. Würde man Ökonomen wie andere Wissenschaftler behandeln, dann wäre ihre Glaubwürdigkeit längst ruiniert. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Ökonomie wird de facto zu einer Art Leitwissenschaft gemacht. Im Gefolge von Angela Merkel zu all den Gipfeln finden sich ja fast nur noch Ökonomen und die dazugehörigen Journalisten. Das ist, als würde ich einen Automechaniker mit der Aufgabe betrauen, ein Referat über das Verhältnis von Straße und Schiene zu halten.

"It’s the economy, stupid!" lautet ein schlichter Satz, der aber von vielen Leuten mit politisch eher linken Sympathien nur halbherzig zur Kenntnis genommen wurde, oder?

Ich halte den Satz für schwierig, er tut so, als sei „economy“ gleichbedeutend mit einer unveränderlichen Gegebenheit, sozusagen objektiv, und dazu könne man nur die Schultern zucken – was nicht unbedingt meine Haltung wäre.

Was ich andeuten wollte, war nur, dass die Linke die Ökonomie wohl leichtfertig den Rechten überlassen hat. Man hat uns ja immer wieder geraten, den Wirtschaftsteil zu lesen. Das tut die Feuilleton-Linke bis heute nur sporadisch. Was war Ihr Einstieg in das Thema?

Mein Einstieg in das Thema war meine gewissermaßen ungewollte Karriere als Zeitungsunternehmer in Ostdeutschland und dann in Russland zu Beginn der 90er. Ich wusste ja nicht mal, was Cash bedeutet oder was eine Mehrwertsteuer ist. Ich weiß nicht, ob uns die Wirtschaftsseiten allein weiterhelfen. Die Berichte über die Börse werden uns präsentiert wie das Wetter. Aber was bedeutet es denn, wenn der Wert dieser Aktie steigt oder jener fällt? Denken Sie an die Spekulation mit Nahrungsmitteln oder die Agrarsubventionen. Die Auswirkungen finden sich dann bestenfalls in einem anderen Teil der Zeitung. Der Wirtschaftsjournalist müsste eigentlich dann und wann auch schreiben, dass man solche Geschäfte und Subventionen nicht vertreten kann, dass man sie verbieten muss. Das habe ich aber noch nie gelesen.

"Der Kanzlerin entschlüpfte ein Begriff, der die Situation, in der sich unsere Demokratie befindet, auf den Punkt bringt. Sie sprach von ‚marktkonformer Demokratie‘" 

Ingo Schulze

FALTER:  In den Nachrichten wird gebetsmühlenartig die Frage gestellt wird, wie „die Märkte“ auf dies oder jenes reagiert hätten. Man wird richtig depressiv davon, weil man tagtäglich auf ein Gefühl schuldhafter Ohnmacht eingeschworen wird: Ich habe zwar gar nichts gemacht, aber das Richtige war es auf keinen Fall. Die Märkte sind schon wieder verschnupft. Mir scheint das jedenfalls ein Programm zur Einstimmung in die Selbstentmündigung zu sein. Ihnen auch?

Merkwürdigerweise finden die meisten gar nichts mehr dabei, wenn wir hören, der oder der Politiker hätte gesagt, wir müssten die Märkte beruhigen und deren Vertrauen wiedergewinnen. Das stellt doch die Demokratie auf den Kopf. Wir müssen sagen, welche Märkte wir wollen, welche Geschäfte wir erlauben und welche nicht. Der deutschen Kanzlerin ist im Herbst ein Begriff entschlüpft, der die Situation, in der sich unsere Demokratie befindet, auf den Punkt bringt: Sie sprach von „marktkonformer Demokratie“. Das ist die politische Bankrotterklärung. Aber kein Vertreter der großen Medien schien das zu bemerken, jedenfalls gab es keine Nachfragen. Sie musste sich nicht mal rechtfertigen. Über Putin regt man sich wenigstens auf, wenn er von „gelenkter Demokratie“ spricht.

Inwieweit waren Sie von der Krise denn persönlich betroffen? Haben Sie denn „spekuliert“?

Ja. Ich bekam Anfang 2008 von einem Herrn Krause von der Dresdner Bank einen frohgelaunten Anruf, er hätte da was für mich, ein Spiel, wenn’s gutgeht, acht Prozent Zinsen, wenn’s schlechtgeht, keine. Das wäre dann auch nicht viel weniger als auf meinem Sparbuch. Am Ende war alles weg, auch der Einsatz. Ich mache mir nicht das Spiel zum Vorwurf, dafür bin ich bestraft worden, ich mache mir zum Vorwurf, dass ich eigentlich nicht wusste, womit das Geld gemacht werden sollte. Das ist letztlich unverantwortlich. Bei einer Nachfrage hätte sich das Geschäft wahrscheinlich von selbst erledigt, schon weil es niemand so genau und verbindlich hätte erklären können oder wollen, wie die Zinsen erwirtschaftet werden.

Zugleich haben Sie wohl den gleichen Fehler wie sehr viele naive Anleger gemacht: sich einreden lassen, dass es beides zugleich gibt – hohe Renditen und Sicherheit. Aber auch Spekulieren ist ja Arbeit und setzt eine gewisse Kompetenz voraus, nicht?

Mag sein, aber dann müssten die Experten ja immer Gewinne machen. Die eigentliche Frage aber ist: Wie verdienen die Banken ihr Geld, mit welchen Geschäften werden meine Zinsen erwirtschaftet? Das halte ich für entscheidend.

Und wie lautet Ihre Antwort darauf?

Aufklärung und Kontrolle. So wie man Lebensmittel prüft, müssen auch solche Zinsangebote geprüft und kontrolliert werden. Es gab in Deutschland zum Beispiel den Fall, dass die staatliche Zusatzrente, die sogenannte Riester-Rente, mitunter auch von Waffenfirmen erwirtschaftet wurde, die nachweislich geächtete Waffen herstellen. Das aufzudecken war eine journalistische Leistung, aber so etwas müsste zertifiziert werden. Die Bank muss sagen: Wir werden da und dort investieren. Da es nicht aus Einsicht passiert, da offenbar die Rendite wichtiger ist als der Hunger oder Hungertod von Millionen von Menschen, muss man handeln. Das verstehe ich unter demokratiekonformen Märkten.

Mittlerweile wundern sich doch schon relativ viele über „das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, wie es Colin Crouch ausgedrückt hat. Immer noch zu wenige?

Ich habe den Eindruck (und natürlich die Hoffnung), dass sich das gerade ändert. Es geht darum, sich selbst als Bürger wieder ernst zu nehmen. Die Medien haben da wie immer eine Schlüsselrolle. Aber mitunter geht es sogar ohne die Medien. Das erste geglückte Volksbegehren in Berlin fand vor einem Jahr statt und leitete de facto die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe ein. Dies musste leider gegen einen rot-roten Senat durchgesetzt werden und gegen die völlige Apathie der lokalen Medien. Das Spendenbudget betrug circa 25.000 Euro. Nicht mal die Initiatoren haben unter diesen Umständen an einen Erfolg geglaubt. Aber das Wunder geschah. Nun hat auch endlich das Kartellamt gehandelt und die Preise um 19 Prozent senken lassen.

Ist der „Neoliberalismus“ wirklich an allem schuld? Oder wird er mitunter auch etwas leichtfertig als Spielmarke für alles eingesetzt, was schiefläuft?

Man braucht sich um diese Begriffe nicht zu streiten. Man sollte nur fragen: mehr Freiheit, mehr Markt, mehr Wohlstand – aber für wen? Die Fragen „Wer verdient daran?“, „Was hat das zur Folge?“, „Wem nutzt das?“ sind unfein geworden, gelten als Ausweis von vulgärem Denken. Die Privatisierung des Wassers ist ebenso absurd wie die des öffentlichen Nahverkehrs oder der Bahn. Dass Ärzte als Unternehmer agieren müssen, ist unsinnig und für das Gemeinwesen letztlich unökonomisch. Erst unlängst habe ich gelesen, dass die Verwaltungskosten bei der einheitlichen Sozialversicherung der DDR bei 0,35 Prozent lagen. Heute liegt dieser Prozentsatz der Krankenkassen bei sieben Prozent. An weiteren Beispielen mangelt es nicht. Es gab noch nie so viel privaten Reichtum und noch nie so viele öffentliche Schulden wie jetzt. Der Staat soll immer nur seine Ausgaben kürzen, was immer die trifft, die ohnedies sehr genau rechnen müssen. Über die Einnahmenseite spricht niemand. Wir retten die Banken und borgen uns dann zu einem sehr viel höheren Zinssatz das Geld wieder von ihnen, das uns fehlt.

„Gemeinwesen“ ist der entscheidende Begriff, den Sie gegen „die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ ins Spiel bringen. Wo funktioniert das überhaupt noch und wo versagt es völlig?

Es hat ja vergleichsweise gut funktioniert. Aber jetzt fehlt plötzlich überall das Geld. Ich wohne wohl im kinderreichsten Bezirk von Berlin, in Prenzlauer Berg (was nicht immer nur ein Vergnügen ist), aber hier will man jetzt die Bibliothek schließen, die sowieso nur noch von ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt wird. Die Grundschullehrerinnen meiner beiden Kinder forderten Eltern oder Großeltern auf, in die Schule zu kommen und beim Lesenlernen zu helfen, weil sie es allein nicht schaffen – und dabei schon für einen Gotteslohn in der sogenannten nullten Stunde Nachhilfeunterricht erteilen. Als Bürger dieses Landes möchte ich nicht, dass Bildung und Gesundheitswesen zu einer Zweiklassenveranstaltung verkommen.

Obwohl man zumindest ahnte, dass es nicht stimmt, hat sich die Fiktion erhalten, dass es im westlichen Kapitalismus für gute Arbeit auch halbwegs gutes Geld gibt. Jetzt ist das Phänomen der „working poor“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was bedeutet das für ein Land wie Deutschland, das doch innerhalb der EU noch als Musterschüler gilt und die Hegemonialmacht hat?

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist es eine Minderheit, die im Alter einmal eine Rente über dem gesetzlichen Minimum von 800 Euro haben wird. Die meisten sind davon sogar weit entfernt. Ich habe lange geglaubt, dass das Wort „Suppenküche“ einen historischen Sachverhalt beschreibt, aber die Suppenküchen haben Konjunktur, nicht nur in Griechenland. Eigentlich verstehe ich nicht, warum wir uns das antun, warum wir uns das gefallen lassen.

Und je länger man zuwartet, umso eher gerät man in eine schwächere Position. Wie könnte denn das Aufbegehren aussehen? Gegen wen müsste es sich richten und wie müsste es organisiert sein?

Es gibt ja viele Formen, das Gemeinwesen zu verteidigen. Ob es ein Volksbegehren gegen bestimmte Entscheidungen ist oder eine Demonstration oder einer Sitzblockade … Wir könnten uns an den Tschechoslowaken und Chinesen ein Beispiel nehmen und eine Charta 2012 formulieren, für diese Unterschriften sammeln und damit die Politik konfrontieren. Dabei sollte man sich auf vier, fünf Punkte verständigen, die einzufordern naheliegend ist, so wie das 1989 im Osten geschah.

Die Thesen

Punkt 1

Der Westen verschwand

Mein Problem ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens unter der Lawine einer selbstverschuldeten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Begriffe wie Freiheit und Demokratie zunehmend zum Popanz macht.

Punkt 1

Wir brauchen demokratiekonforme Märkte

Man muss sich selbst wieder ernst nehmen. Mir scheint, alles, was in der Welt geschieht, sieht man durch eine Glaswand. Es wirkt so, als sei das vom Markt dominierte System alternativlos, als seien es Sachzwänge und man könne eigentlich nichts daran ändern. Es heißt: „Wir müssen die Märkte wieder beruhigen, das Vertrauen der Märkte gewinnen.“ Wer muss hier was gewinnen? Ich will keine „marktkonforme Demokratie“, ich will „demokratiekonforme Märkte“.

Punkt 3

Kein Verlass auf Politiker

Man kann sich nicht auf unsere gewählten Volksvertreter verlassen, sie beten alle diese Wachstumssprüche nach. Sie sind selbst in einer unglaublichen Hilflosigkeit und in einer Gefangenheit, wie ich das in einer anderen Art in der DDR erlebt habe. Wo die Sprache der Apparatschiks, der Nomenklatura, gar nicht mehr in der Lage war, die Wirklichkeit aufzunehmen. So ist das auch jetzt.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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