Gespräch: Robert Misik
FALTER: Nr. 11/2006
Erscheinungsdatum: 15.03.2006
Mein Schlüsselerlebnis war im Kongo, da war ich ein ganz junger Mann. Ich arbeitete damals – Mitte der 60er-Jahre – für die Uno. Das war ja das erste Mal, dass die Weltorganisation ein Land übernommen hat. Wir saßen in unserem Luxushotel in Kinshasa, das war bewacht von den Gurkhas, den nepalesischen Blauhelmen. Täglich kamen Kolonnen halbverhungerter Kinder aus der Stadt. Die Köche warfen ihnen Speisereste über den Stacheldraht. Die Kinder kletterten in den Draht, rissen sich die Finger auf. Die Gurkhas schlugen ihnen auf den Kopf, damit sie nicht rüberkommen. Damals habe ich mir geschworen, nie wieder auf der Seite der Henker zu stehen – auch nicht zufällig.
Zunächst fuhr ich mit der kommunistischen Jugendorganisation nach Kuba. Schon damals trafen wir Fidel Castro und Che Guevara. So habe ich die beiden kennengelernt.
Als Che Guevara zur Zuckerhandelskonferenz nach Genf kam, haben die Kubaner mich und ein paar andere gefragt, ob wir ihnen helfen – sie hatten ja keine Botschaft, nichts. Sie hatten drei Hotelzimmer für zehn Leute gemietet. Ich besaß einen kleinen Morris und wurde der Chauffeur von Che. Am letzten Abend habe ich zu ihm gesagt: „Commandante, ich möchte mit euch geh.
Che, der ja etwas Rigides, Kaltes hatte, blickte aus dem Fenster über die nächtliche Skyline von Genf und antwortete: „Schau, das ist das Hirn der Bestie, hier musst du kämpfen.“ Dann drehte er sich um und ging. Ich war zutiefst verletzt. Ich dachte, der hält mich für einen verklemmten helvetischen Kleinbürger. Aber natürlich hatte er Recht.
Ich stehe jetzt damit dem gegenüber, was eigentlich die Essenz unserer Wirtschaftsweise ist. 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 856 Millionen Menschen sind schwer unterernährt – einer von sechs Menschen auf diesem Planeten. Und das auf einem Erdball, der vor Reichtum überquillt. Schon heute könnten ohne Probleme zwölf Milliarden Menschen ernährt werden – also das Doppelte der Weltbevölkerung. Das heißt: Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
Der Hunger hat schon mit einer mörderischen Monopolisierung der Reichtümer zu tun. Die 500 größten multinationalen Konzerne kontrollieren 52 Prozent des Weltsozialprodukts. Sie haben heute eine Macht, die kein Papst, kein König, kein Kaiser je hatte.
Die Kausalkette ist kompliziert. Es gibt den konjunkturellen Hunger – der klassische Mangel, die Katastrophen, Klima, Heuschreckenplagen, Kriege, all das, was schwache Ökonomien kollabieren lässt. Zehn Prozent der Hungernden auf der Welt sind Opfer solcher Krisen. Viel bedeutender ist der strukturelle Hunger. Die Ursachen dafür: kein Zugang zum Land, fürchterliche Pachtverträge, Kleinstbetriebe, die gegen die Konkurrenz nicht bestehen und die die Menschen nicht ernähren können. Permanent fehlendes Einkommen, informelle Ökonomie. Und diese Struktur wird bestimmt von der Weltordnung und der multinationalen Ökonomie. 90 Prozent der Hungertoten gehen auf das Konto des strukturellen Hungers. Die Konzerne betreiben Profitmaximierung – mit Renditen bis zu 100 Prozent – und zahlen kaum mehr Steuern, was die öffentlichen Haushalte austrocknet. Also: Der Hunger ist kein Nebenprodukt, er ist ein zentrales Produkt dieses Systems.
Jean Ziegler
Die neoliberale Irrlehre glaubt, wenn nur Bedingungen wie Liberalisierung, freier Kapitalverkehr, ein schlanker Staat verwirklicht würden, gäbe es einen wahren Goldregen – das ist so irrational wie das Paradies im Christentum. Die Fakten sehen anders aus: Goldberge türmen sich auf und daneben Leichenberge. Infolge des Prinzips der Profitmaximierung bekämpfen sich die Multis untereinander – und sie führen Krieg gegen die Menschen. Natürlich kommen die Spitzenmanager nicht morgens ins Büro und sagen: „Heute hungern wir Bangladesch aus.“ Aber sobald das Wort Gemeinwohl diffamiert und eliminiert wird, verschwinden hunderte Millionen Menschen. Auch in China gibt es noch ganz fürchterlichen Mangel. Und Indien, das boomende Indien mit Wachstumsraten von acht, neun Prozent, erwirtschaftet heute Reichtümer in der Hochtechnologie, gleichzeitig sind 400 Millionen Menschen unterernährt. Die Hälfte der unterernährten Menschen der Welt lebt in Indien.
In Brasilien sind 44 Millionen Menschen schwer unterernährt. Lula, der Präsident, will den Hunger bekämpfen, hat aber eine exorbitante Auslandsschuld geerbt. Hinzu kommt: Die Multis transferieren Devisen zu ihren Muttergesellschaften. Für Lizenzen, für Saatgut werden unerhörte Summen bezahlt. Das fruchtbare Land ist monopolisiert. All das bedeutet: Es gibt keinen Spielraum für Reformen. Am Ende steht der Hunger, stehen die Favelas, stehen die Kinder, die von Ratten gebissen werden, stehen die Frauen, die mit 30 Jahren aussehen, als wären sie 80.
Die EU müsste ihre Export- und Produktionssubventionen in der Landwirtschaft abschaffen. Alle Industrieländer zusammen haben 2004 für Produktions- und Exportsubventionen landwirtschaftlicher Güter 349 Milliarden US-Dollar ausgegeben – fast eine Milliarde Dollar am Tag! Die Zerstörung der lokalen Märkte in Entwicklungsländern durch Billigexporte aus der EU ist ein schon lange bekannter Skandal. Auf dem Markt in Dakar im Senegal können Sie europäisches Gemüse aus Frankreich, Portugal oder Spanien zu einem Drittel des einheimischen Preises kaufen. Die senegalesischen Bauern rackern sich 16 Stunden unter brennender Sonne ab. Auf dem Markt entdecken sie dann das Dumpinggemüse der EU. Sie haben keine Chance. Was wir brauchen, sind gerechte Regeln.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Glück. Dem muss die Natur, die Wirtschaft unterworfen werden. Ich möchte einen Aufstand des Gewissens befördern.
Unser Kollektivbewusstsein wird von neoliberalen Wahnideen beherrscht, die auch in die Sozialistische Internationale eingedrungen sind. Der Neoliberalismus steht in diametraler Opposition zur Aufklärung, deren Erbe wir sind – institutionell stehen dafür etwa die Republik oder die Menschenrechte. Der Neoliberalismus besagt, es seien Naturgesetze, die die Wirtschaft beherrschen. Den Menschen als historisches Subjekt gibt es nicht mehr. Wir stehen nun im theoretischen Klassenkampf. Die Waffen sind da: Es sind die intellektuellen Instrumente, die organisatorischen Werte der Französischen und Amerikanischen Revolution.
Es gibt mehr als genug zu essen, wer heute verhungert, wird ermordet. Es gibt mehrere Kausalitäten, die dieses tägliche Massaker produzieren, und keine davon ist objektiv begründet. Wer sind die Mörder? Die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer tötet, denn es bleibt kein Geld für soziale Investition oder Infrastruktur. Ebenso die Agrarpolitik der Industrieländer, die ihre eigenen Bauern mit Milliarden subventionieren und Bauern in Entwicklungsländern keine Chance lassen. Schließlich tötet auch der Weltmarkt, also die multinationalen Konzerne, die den Rohstoffmarkt beherrschen, auf dem der Börsenpreis für Lebensmittel verhandelt wird.
Benjamin Franklin sagte, hinter den Menschenrechten stünde eine Macht, die unbezwingbar sei, nämlich die Macht der Scham. Das ist eine historische Macht. Weil in uns der kategorische Imperativ lebt, gibt es Hoffnung. Er hat zu einer neuen planetarischen Zivilgesellschaft geführt. Es gibt viele Bewegungen wie etwa die Attac-Bewegung, die Hoffnung geben. In einer Demokratie gibt es keine Ausrede fürs Nichtstun.