Gespräch: Matthias Dusini, Lina Paulitsch
FALTER: Nr. 19/2024
Erscheinungsdatum: 07.05.2024
Zum entspannten Gespräch im Wiener Café Sperl kam der Schweizer mit Pilotensonnenbrille. Doch die Lockerheit war vorüber, als es um die Freigabe der Transkription ging. Rau feilte an politischen Statements und strich kritische Passagen über die SPÖ, die er plötzlich für nicht mehr aktuell hielt. Kurz nach dem Falter-Interview wurde bekannt, dass sich die Erste Stiftung von der „Rede an Europa“ zurückzieht. Die entsprechende Frage wurde nachgereicht.
Antwort Omri Boehm ist ein brillanter jüdisch-israelischer Philosoph und Kant-Spezialist. In unserer Europa-Rede, die traditionell auf dem Judenplatz stattfindet, wird er die aktuelle Trauma-Konkurrenz zwischen kolonialen Verbrechen und der Schuld des Holocaust analysieren. Soeben hat er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten. Dass Boehms Botschaft der Toleranz und des Zuhörens in Wien zu einem Skandal führt, zeigt, wie radikalste Kreise die Debatte in dieser Stadt dominieren.
Antwort Es tut mir sehr leid, dass die Erste Stiftung, die Boehm vorgeschlagen hat, dem Druck weichen musste. Aber wir bleiben dabei. Was würde es bedeuten, wenn wir einem jüdischen Philosophen sagen müssen: Sie dürfen in Wien, der Stadt Luegers und Hitlers, nicht auf dem Judenplatz sprechen? Das wäre eine Kapitulation, die ich mir nicht einmal vorzustellen wage.
Wir haben mehrere Menschen im Rat, die zu Kritik Anlass gegeben haben, zum Beispiel auch die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Der Grund: Sie kritisieren, neben vielem anderen, auch die Politik Israels und rufen zu einer Waffenruhe auf. Aber sie sind nicht eingeladen, um ihre Meinung über Israel oder Palästina kundzutun, sondern als Kämpfer für ein demokratischeres Europa. Zudem werden sie, wie viele andere Ratsmitglieder auch, nicht in Wien vor Ort sein. Wenn die Rechte den Antisemitismusbegriff auf illegitime Weise gegen liberale und linke Positionen zu missbrauchen beginnt, dann wird es gefährlich. Es ist, finde ich, illegitim, den Begriff des Antisemitismus auf diese Weise zu verwenden.
Man kann anderer Meinung sein als Varoufakis oder Annie Ernaux. Aber Antisemiten sind Menschen, die Juden ausgrenzen und auslöschen wollen. Österreich und Deutschland sind die einzigen Nationen der Weltgeschichte, die diesen Plan noch kürzlich als Staatsräson verstanden haben. Sollte es da nicht eine gewisse Zurückhaltung geben, Menschen anderer Nationen mit diesem Begriff zu belegen?
Varoufakis schrieb vor zwei Wochen in einer Rede: „Der Antisemitismus ist eine klare und gegenwärtige Gefahr. Er muss ausgerottet werden, besonders in den Reihen der globalen Linken und der Palästinenserinnen und Palästinenser.“ Nein, um Antisemitismus geht es in dieser Debatte nicht. Es geht um Wiener Lokalpolitik. Varoufakis schrieb vor zwei Wochen in einer Rede: „Der Antisemitismus ist eine klare und gegenwärtige Gefahr. Er muss ausgerottet werden, besonders in den Reihen der globalen Linken und der Palästinenserinnen und Palästinenser.“ Nein, um Antisemitismus geht es in dieser Debatte nicht. Es geht um Wiener Lokalpolitik.
Nach dem 7. Oktober hat er gesagt, er könne den Überfall der Hamas erst verurteilen, wenn er wisse, was genau passiert ist. Seither hat er die Hamas zahllose Male klar und explizit verurteilt. Was nichts daran ändert, dass es auch nach dem Massaker des 7. Oktober noch Unterstützer der Hamas gibt, was ich völlig unverständlich finde. Aber Varoufakis und Ernaux jedenfalls gehören nicht dazu.
Ernaux unterstützt den BDS nicht. Sie hat nur Briefe unterschrieben, die auch von BDS-Mitgliedern unterschrieben wurden, was in Frankreich oder Belgien, wo die Israel-Debatte völlig vom BDS dominiert ist, nicht zu vermeiden ist. Ich habe im Kurier einen Text darüber veröffentlicht, wie unterschiedlich die Reaktionen auf meine Arbeiten ausfallen, abhängig vom jeweiligen Kontext. Den Text hat in Belgien keine Zeitung gedruckt – zu israelfreundlich. Hier in Österreich gelte ich dagegen als jemand, der bei den Festwochen eine zu propalästinensische Meinung zulässt. Ernaux unterstützt den BDS nicht. Sie hat nur Briefe unterschrieben, die auch von BDS-Mitgliedern unterschrieben wurden, was in Frankreich oder Belgien, wo die Israel-Debatte völlig vom BDS dominiert ist, nicht zu vermeiden ist. Ich habe im Kurier einen Text darüber veröffentlicht, wie unterschiedlich die Reaktionen auf meine Arbeiten ausfallen, abhängig vom jeweiligen Kontext. Den Text hat in Belgien keine Zeitung gedruckt – zu israelfreundlich. Hier in Österreich gelte ich dagegen als jemand, der bei den Festwochen eine zu propalästinensische Meinung zulässt.
Ich erzähle die Geschichte immer gerne: Vor einer Premiere vor zwei Wochen hatte ich ein Interview mit einer belgischen Tageszeitung. Die Journalistin kam mit einer Colaflasche. Ich sagte zu ihr im Scherz: Weg mit der Flasche, das ist eine fiese Firma. Sie erwiderte, sie könne es trinken, weil Cola nicht auf der BDS-Boykott-Liste stehe. BDS ist in Belgien und Frankreich für die gesamte Kultur- und Medienbranche ein Verein, bei dem man gewissermaßen selbstverständlich dabei ist. Yanis Varoufakis, Annie Ernaux und ich sind eben nicht dabei.
Wir kennen die deutsche und österreichische Vergangenheit, und wir kennen die untilgbare Menschheitsschuld der beiden Länder. Es gibt hierzulande ein Tätertrauma und eine hohe Sensibilität in Bezug auf Israel-Kritik, was völlig richtig und verständlich ist. Aber dass es der Rechten in den letzten Jahren gelungen ist, den Opfern des Holocaust und den liberalen Parteien die Deutungshoheit über den Begriff „Antisemitismus“ zu entziehen, ist genauso irre wie traurig.
Das meine ich als Kompliment. Mir hat das Toxische in Belgien gefehlt. Als ich nach Wien ging, hat man mich in Brüssel verabschiedet, als müsste ich an die Front. Die Menschen sind dort zurückhaltend, die Journalisten eher interessiert als meinungsstark. In Wien herrscht eine Freude am Spott, am Rechthaben, das sieht man schon bei Karl Kraus. Es ist sehr österreichisch, wie die Dinge immer gleich in die schlechtestmögliche Richtung gedreht werden. Aber wie gesagt, ich finde das eigentlich ganz cool. Man kann ja reagieren. Und vor allem wird auf das, was man macht, ebenfalls reagiert.
Ich jedenfalls kenne kein Land, in dem die Medien so offen und selbstbewusst postfaktisch sind wie in Österreich. Nehmen wir die Debatte über Ernaux und Varoufakis: Es ist völlig egal, ob man eine Richtigstellung macht oder nicht, es werden die gleichen Behauptungen einfach ad infinitum wiederholt. Denn sonst wäre ja Schluss mit dem Missverständnis, und das will man nicht. Manchmal fühle ich mich wie in einem dadaistischen Lautgedicht oder einem Stück von Nestroy. Du triffst die nettesten Journalisten, hast ein freundliches Gespräch und liest am nächsten Tag einen Text, der das genaue Gegenteil von dem behauptet, was man gesagt hat.
Nein, wir machen ja kein biografisches Musical über die Kulturstadträtin. Was Herrn Philipp angeht, so glaube ich, dass die Position seiner Frau beruflich eher ein Nachteil als ein Vorteil für ihn ist. Aber die beiden tragen all das mit sanfter Gelassenheit.
Gerade hat mich eine Freundin aus dem Kongo besucht, eine Anwältin am Internationalen Strafgerichtshof. Ich habe ihr die gleiche Frage gestellt, und sie sagte: Wir haben im Ostkongo einen Rohstoff-Krieg, der seit 20 Jahren andauert und mehreren Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Diese Menschen haben keine anderen Kontinente erobert und keine Genozide durchgeführt, sie wurden selbst erobert und vernichtet, und zwar von uns, von Europa. Sie kennen Israel, wenn überhaupt, aus der Bibel. Ich glaube, wir müssen anerkennen, dass Menschen aus einer anderen Weltregion eine andere Geschichte und deshalb eine andere Leitkultur, andere Sprechverbote, einen anderen Universalismus und andere Sensibilitäten haben als wir.
Auf der Documenta wurden Ikonografien verwendet, die einfach nicht okay sind. Aus Respekt vor den Betroffenen verwendet man das N-Wort in Österreich nicht mehr, obwohl dieses Land keine koloniale Vergangenheit in Afrika hat. Genauso kann man sagen, man zeichnet keine orthodoxen Schläfenlocken zusammen mit SS-Runen, weil es verletzend ist für Millionen Menschen, die den Genozid in Deutschland und Österreich überlebt haben. Und das muss man, denke ich, von der ganzen Welt verlangen, so wie der Globale Süden beziehungsweise die Nachkommen der dortigen kolonialen Verbrechen völlig zu Recht eine entsprechende Sensibilität von uns einfordern. Aber das ist erst im Entstehen: Eine globale Seelenklugheit, eine Globalgeschichte, in der die Dinge nicht gegeneinander, sondern miteinander erzählt werden können.
Mit dem afrikanischen Theoretiker Achille Mbembe habe ich den Dialog „The Paranoia of the Western Mind“ geführt, als Gespräch und dann als Text. Achilles These lautet, dass der westliche Geist in seinem Universalismus paranoid ist. Er fürchtet, von einem alternativen Universalismus angegriffen zu werden, etwa einem Universalismus, der sich postkolonial, also post-europäisch definiert. Darauf reagiert der Westen mit unglaublicher Aggressivität.
Es gibt multiple Universalismen.
Ich denke, es hängt davon ab, was man, aus historischen Gründen, als universell betrachtet. Und was nicht. Also wie man den jeweiligen Universalismus, der im Endeffekt immer lokal ist, definiert.
Ja, aber wer hat die verfasst? Und für welche Menschen? Das Problem für große Weltteile damit ist nur, dass der westliche Diskurs der Menschenrechte über Jahrhunderte auf eine kleine Gruppe von Menschen beschränkt blieb. Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, ein heißer Verfechter der Menschenrechte, war zugleich Sklavenhalter. Der Westen war immer sehr begabt darin, Universalismus exklusiv zu denken. Für den Großteil der Welt steht deshalb der europäische Universalismus für Dominanz und Ausschluss.
Lateinamerika beispielsweise ist sehr weit, was die universalistisch begründeten Rechte der Natur angeht. Der europäische Universalismus hingegen sieht den Menschen als Wesen, das der Natur überlegen ist, sie „beherrschen“ soll, wie es in der Bibel heißt. Das hat uns in die aktuelle Klimakrise gebracht. Ich glaube, ein wenig Selbstkritik steht uns gut zu Gesicht. Aber stattdessen fahren wir fort, die ganze Welt zu belehren. Das ist lächerlich.
Ich kenne meine Zuständigkeit. Nehmen wir das Stück „Antigone im Amazonas“, das vergangenes Jahr bei den Festwochen war. Dafür haben wir mit der brasilianischen Landlosenbewegung kooperiert, der größten sozialen Bewegung Lateinamerikas. Sie bekommen 100 Prozent der Autorenrechte, was sich nach einem Jahr Tour auf drei Kontinenten auf etwa 100.000 Euro beläuft. Damit machen sie ihre politische Arbeit. Es würde absolut keinen Sinn machen, wenn ich ihnen da reinrede. Denn tatsächlich: Ich bin der Profi für Symbolpolitik im Westen, nicht für politische Arbeit im Amazonas.
Milo Rau
Diese Frage ist, glaube ich, geprägt durch den erwähnten europäischen Universalismus: Wir fühlen uns hierarchisch überlegen, wie Sie es formulieren, obwohl das seit Jahrzehnten keine Realität mehr ist. Europa und der „weiße Künstler“ sind in der Welt bedeutungslos geworden. Die Landlosenbewegung ist eine Organisation, die aus mehreren hunderttausend Familien besteht. Sie haben Land in der Größe Belgiens besetzt, sind der größte Reisproduzent Lateinamerikas, haben eigene Schulen und Universitäten. Das hierarchische Gefälle, wenn wir in diesen Kategorien denken wollen, verläuft von ihnen zu mir.
In meiner Biografie gibt es in erster Linie zwei nichteuropäische Regionen: den Nahen Osten auf der einen Seite, Zentralafrika auf der anderen. In den letzten Jahren kam Brasilien dazu. Als ich vor 15 Jahren zum ersten Mal nach Ruanda und dann in den Kongo gefahren bin, war ich tatsächlich sehr nervös. Aber unterdessen ist das total verflogen. Die Oper „Justice“ hätte ich nie machen können, wenn ich die beteiligten Menschen nicht schon seit Jahren kennen würde. In meiner Biografie gibt es in erster Linie zwei nichteuropäische Regionen: den Nahen Osten auf der einen Seite, Zentralafrika auf der anderen. In den letzten Jahren kam Brasilien dazu. Als ich vor 15 Jahren zum ersten Mal nach Ruanda und dann in den Kongo gefahren bin, war ich tatsächlich sehr nervös. Aber unterdessen ist das total verflogen. Die Oper „Justice“ hätte ich nie machen können, wenn ich die beteiligten Menschen nicht schon seit Jahren kennen würde.
Die meisten meiner Stücke sind im Zürcher Vorort, in Gent oder Paris entstanden und handeln von den Menschen dort. Aber ich versuche schon zu fragen: Wenn es eine Weltwirtschaft gibt, warum gibt es keine Weltkunst? Warum arbeiten Künstler nicht so zusammen wie multinationale Firmen? Natürlich haben die Wiener Festwochen andere Absichten als die Landlosenbewegung. Aber mein Wunsch ist schon ein globaler Realismus: eine Erzählung, wo plötzlich klar wird, wie das Amazonasgebiet und Europa miteinander zusammenhängen. Wo globale Solidarität möglich wird.