Interview

Peter Sloterdijk 

Ein Philosoph durchmisst den Weltinnenraum des globalen Kapitalismus

Gespräch: Robert Misik

FALTER:  Nr. 22/2006

Erscheinungsdatum: 31.05.2006

2. Wiener Stadtgespräch mit Peter Sloterdijk © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Peter Sloterdijk ist Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zählt zur ersten Liga der Denkerprominenz. Sloterdijk ist schon seit seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983) ein Star des Geisteslebens. Mit seiner Trilogie „Sphären I–III“ entwarf er eine große neue Zeitdeutung.

Peter Sloterdijk ist Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zählt spätestens seit der TV-Sendung „Das Philosophische Quartett“ (ZDF) zur ersten Liga der Denkerprominenz. Doch eigentlich ist Sloterdijk, der mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat, schon seit seinem ersten Buch ein Star des Geisteslebens: 1983 schlug seine „Kritik der zynischen Vernunft“ ein wie der Blitz. Auch danach erwies sich Sloterdijk immer wieder als Denker, der aufs Ganze geht: Mit seiner Trilogie „Sphären I–III“ entwarf er eine große neue Zeitdeutung. Vergangenes Jahr erschien schließlich Sloterdijks Theorie der Globalisierung: „Der Weltinnenraum des Kapitals“.
FALTER:  In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft?

Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, löst sich in eine gewisse Konfusion auf.

Heißt das umgekehrt, dass die Systematik unproduktiv ist?

Nicht in jeder Hinsicht. Doch Sie haben Recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten
Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?

Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Es gibt zum Beispiel Weltzustände, in denen Helden noch möglich sind, und Weltzustände, in denen Helden nicht mehr möglich sind. Wenn der Staat noch nicht existiert, ist der Heros der Mann der Stunde. Ist der Staat eingerichtet, wird der Heros kontraproduktiv. Dann kommt er ins Verbrecheralbum, und der Beamte übernimmt das Kommando.

Der Heros als Figur der undichten Zeit, der Beamte als jene der dichten?

Genau. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

Das verändert die Menschen?

Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus.

Globalisierung ist also Stau?

Wo immer man hinkommt, man hat einen Vordermann. Der Entdecker ist derjenige, der als Erster ankommt. Seine Epoche endete mit dem Polarfieber, an dem waren übrigens sogar die Österreicher beteiligt – was in der Eroberung des „Franz-Joseph-Landes“ gipfelte.

Als die koloniale Expansion an ihr Ende kam, hat man Eisschollen besetzt?

Das zeigt, wie wichtig es damals war, irgendwo als Erster zu sein – und wenn es nur eine Insel voller Gletscher war. Sigmund Freud hat das intuitiv erkannt und seinen Eroberungsdrang nach innen gerichtet, auf das Es – da wollten die anderen nicht hin. Die letzten weißen Flecken lagen im Inneren des Subjekts: das wahre innere Afrika.

Starb der Heros wirklich aus? Ist der zeitgenössische Heros nicht der Unternehmer, der Märkte erobert?

Der Liberalismus und der Neoliberalismus versuchen, dem faustischen Syndrom ein Nachleben zu ermöglichen, obwohl seine Spielzeit abgelaufen ist. Während die Welt als Ganzes sich eher umstellt auf den Typus des Kooperateurs, bleibt der Unternehmer weiter auf Eroberung und Expansion orientiert. So werden Ersatzkontinente für Expansion geschaffen. Deshalb der ungeheure Ansturm auf die Kapitalmärkte – sie sind die heutigen Kolonien und Franz-Josephs-Länder. In der Realwirtschaft ist der Raum schon dicht, dort ist das Gesetz der gegenseitigen Behinderung längst voll entfaltet. Nur auf den Kapitalmärkten geht der imperiale, expansive Gestus noch in die Verlängerung.

Diese Welt nennen Sie den „Weltinnenraum des Kapitals“, in dem Erlebnisse im strikten Sinn nicht mehr möglich sind – selbst wenn man reist, kommt man nicht mehr anderswohin. Paradoxerweise finden viele Menschen diesen „Komfortraum“, von dem Sie auch sprechen, gar nicht so angenehm. Es gibt diese Ausbruchssehnsucht.

Die Menschen leben im Kapitalismus unter Bedingungen, die dem Aufenthalt in einem Treibhaus gleichkommen. Umso spontaner regt sich das Postulat, es müsse noch ein Außen geben. Interessant daran ist, dass man sich dieses Außen doch wieder wie ein anderes Innen ausmalt, wo man unter angenehmen Bedingungen abenteuerliche Erfahrungen machen kann.

Laut Ihrer These gibt es aber doch auch einen Weltaußenraum – eine Antwort auf Toni Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch „Empire“ von einem kapitalistischen Orbit ohne Zentrum, aber auch ohne Außen ausgehen. Was ist denn das für ein Außen, von dem Sie sprechen?

Negri hat ein strategisches Interesse daran, auch die Armutswelten und die Nichtkomfortzonen für das Empire zu reklamieren, weil er dort die Rekruten seiner Multitude findet, also die Leute, die dagegen sind, die Revolutionäre von morgen.

... die findet er drinnen aber auch.

Der Traum vom Zusammenschluss der inneren mit der äußeren Opposition ist die Fortsetzung des Traums von der kommunistischen Sammlung. Das ist ein Gedanke, dem ich ein in Kürze erscheinendes neues Buch gewidmet habe – unter dem Titel „Zorn und Zeit“. Ich zeige da, wie die klassische Linke als Zornbank funktioniert hat, bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wussten, dass ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und deswegen funktioniert das Prinzip links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn. Als im letzten November in Frankreich die Banlieue-Unruhen ausbrachen, hat sich ja keine der linken Parteien dazu fähig oder bereit gefunden, mit der Wut dieser jungen Männer etwas anzufangen.

"Fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine
historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen"

Peter Sloterdijk

FALTER:  Was ist der Grund für diesen Zorn?

Der Aufenthalt im Weltinnenraum des Kapitals impliziert eine Art Lebensversicherung für alle. Das Versprechen des Wohlfahrtsstaats lautete: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut, sondern schlimmstenfalls das Absinken in ein Kleinbürgertum, unter zwar traurigen, aber nicht elenden Bedingungen. Seit klar ist, dass diese Garantie nicht mehr zu halten ist, wächst die Spannung. Doch fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen.

Ein Reflex auf die Globalisierung ist auch der Partikularismus. Ist die Resistenz des Lokalen die Gegenwahrheit zur Globalisierung?

Das trifft zumindest für Orte zu, die nicht völlig verwüstet werden, nicht völlig zu Transiträumen, Orten ohne Selbst werden – wie die Flughäfen, Hotels. Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das kann man in Mittel- und Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo eine Lebenskunst zu Hause ist. Solange diese weltoffene Art des Am-Ort-Seins existiert, ist so etwas wie Bürgerlichkeit im guten Sinn möglich. Auch im Bereich des Transitlebens können erstaunliche Kultivierungsleistungen entstehen. In den gehobenen internationalen Hotelketten wurden für Menschen, die zu viel unterwegs sind, ziemlich lebenswerte Luxusoasen eröffnet.

Kennen Sie Menschen, die an solchen Orten glücklich sind?

Nun ja, das Glück ist eine flüchtige Größe – Freud suggerierte sogar, es sei für den Homo sapiens von der Evolution nicht vorgesehen. Der Mensch muss schon froh sein, wenn er in gewöhnlichem Unglück residiert statt im neurotischen Elend.

Während man bei der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule immer bereit sein muss, sich deprimieren zu lassen, sind Sie doch eher ein Denker des Fröhlichen. Wie können Sie da sagen, der Mensch ist fürs Unglück bestimmt?

Die Kritische Theorie war einmal meine theoretische Heimat. Sie war durch die Erfahrung des Holocaust geprägt, durch die Universalentmenschung. Diese lieferte die generationsprägende Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte. Im Übrigen war die Stimmung des französischen Existenzialismus auch nicht viel heller. Die Jahre nach 1968 haben dann einen Test darauf gemacht, wie weit solche Beschreibungen noch taugen – nicht wirklich, wie sich zeigte. Deshalb trat die Nach-68er-Linke als hedonistische Linke auf. Man war sich sicher, dass man durch die eigene Libidoentfesselung das Glück der Menschheit herbeiführt.

Sie waren Ende der 70er-Jahre bei der Sanjassin-Sekte, lebten eine Zeitlang bei Bhagwan in Poona.

Das Indienabenteuer war bei mir ein Ausfluss dieser 70er-Jahre-Stimmung. Und hinzu kam die Überzeugung, dass ein rein materialistischer Revolutionsbegriff unzureichend ist. Man wollte damals Basis und Überbau umkehren und den mentalen Faktor ins Zentrum stellen.

„Einmal Trotzkist, immer Trotzkist“. Kann man auch sagen: „Einmal Sanjassin, immer Sanjassin?“

Im Grunde ja. Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer Recht hat.

Die Thesen

Punkt 1

Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren.

Punkt 1

Die Gesellschaft der Lottospieler

Die spekulative Ökonomie ist derart demoralisierend, weil sie das Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Belohnung auflöst. Sie erzeugt eine Gesellschaft von Lottospielern. Menschen erwarten sich keinen Leistungslohn, sondern eine Überbelohnung. Dort, wo alle Überbelohnungen erwarten, löst sich die traditionelle kapitalistische Moral auf. Leute, die an der Börse spielen, glauben, Return on Investment sei eine gottgewollte Form der Einkommensbeschaffung.

Punkt 3

Unterhaltung als Ernstfall

Die Unterhaltung ist zu einem mächtigen Faktor unserer Realitätsgestaltung geworden. Für all die Menschen, die das Gefühl haben, es geht um nichts mehr und alle wesentlichen Aufgaben sind gelöst oder unlösbar, kann man nur noch Unterhaltung machen. Hier wird Unterhaltung zum Ernstfall.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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