Interview

Richard David Precht

Der Philosoph über die Occupy-Bewegung, die Zeit nach der Finanzkrise und den Grund, warum Siege dumm machen

Gespräch: Wolfgang Zwander

FALTER:  Nr. 47/2011

Erscheinungsdatum: 23.11.2011

18. Wiener Stadtgespräch mit Richard David Precht © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Richard David Precht ist ein deutscher Philosoph, Publizist und Literaturwissenschaftler. Mit seinen Büchern „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ und „Liebe – ein unordentliches Gefühl“ wurde er zu einem der erfolgreichsten deutschen Sachbuchautoren der Gegenwart. Precht ist Honorarprofessor an der Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.

Richard David Precht schreibt populärphilosophische Bücher, die in den Bestsellerlisten ganz nach oben klettern und sich dort für Monate halten. Er kann Philosophie mit dem Geschmack des Massenpublikums vereinen.
FALTER: Herr Precht, kein anderer deutscher Philosoph ist in der Öffentlichkeit so präsent wie Sie. Fühlen Sie sich beleidigt, wenn man Sie „Medienphilosoph“ nennt?

Das ist mir egal. Es gibt die Position, dass Philosophen die große Öffentlichkeit scheuen sollten. Ich verstehe mich da eher in der Tradition von Aufklärungsphilosophen wie Rousseau und Montesquieu, die mit Raffinesse um die Gunst und die Aufmerksamkeit des Publikums gebuhlt haben, um ihre Ideen unter die Menschen zu bringen.

Wie soll sich Ihrer Meinung nach die Philosophie zur Macht verhalten?

Seit Platons schlechten Erfahrungen mit dem Tyrannen von Sizilien gibt es dieses Verständnis, dass Philosophen auf Distanz zur Macht gehen sollen. Aber warum eigentlich? Es ist doch auch ­Feigheit, die sich in diesem Satz zeigt. Ein Philosoph muss ja nicht unbedingt Kanzler werden, aber wer kritisch über seine Zeit nachdenkt, muss doch auch Interesse daran haben, dass seine Gedanken in ­Politik und Wirtschaft rezipiert werden. Deshalb muss die Philosophie der Macht nahekommen wollen. Alles andere wäre reiner Selbstzweck.

Zurzeit erleben Politik und Wirtschaft in Europa eine schwere Krise. Welche Ratschläge können Sie den Machthabern als Philosoph geben?

Man muss die Regierenden darauf aufmerksam machen, dass Wirtschaftswachstum nicht der Sinn von Wirtschaft sein kann. So wie es aussieht, wird unsere Ökonomie bald nicht mehr wachsen. Deshalb müssen wir uns schleunigst vom Wachstumsfetisch befreien. Darauf immer wieder hinzuweisen und sich öffentlich dafür einzusetzen, das ist für mich zum Beispiel die Aufgabe eines Philosophen.

"Neue gesellschaftliche Weichenstellungen können nur in Momenten der Verunsicherung erfolgen"

Richard David Precht

FALTER:  Was kann uns die Philosophie über die aktuelle Krise erzählen?

Es gibt von Sokrates den Satz, dass Siegen dumm macht. Neue gesellschaftliche Weichenstellungen können nur in Momenten der Verunsicherung erfolgen. Nehmen Sie als Beispiel unsere Haltung zu Europa: Lange Jahre haben wir gar nicht mehr darüber nachgedacht, was die EU für uns eigentlich sein soll. Heute ist die Frage in aller Munde, wie wir Europa verändern und demokratischer machen können.

Andererseits mehren sich auch die Stimmen, die befürchten, Europa entwickle sich im Zuge der Krise zu einer Oligarchie mit Scheinparlamenten.

Die Frage ist, wie sehr diese Analyse nicht auch schon vorher zugetroffen hat. Ich glaube aber, dass das Demokratiebedürfnis der Menschen größer geworden ist. Gerade die jüngere Generation ist mündiger und selbstbewusster geworden. Denken Sie zum Vergleich nur an die 1950er-Jahre, in denen sich ein Jugendlicher nie und nimmer öffentlich über Politik auszutauschen wagte. Gleichzeitig ist es aber richtig, dass sich im Zuge der Globalisierung eine sehr hohe Kapitalkonzentration entwickelt hat, die eine neue oligarchische Klasse entstehen ließ.

Geht es in der heutigen Gesellschaft nicht weniger um politische Freiheit als um die des Konsums?

Wenn man die Deutschen oder die Österreicher abstimmen ließe, ob sie sich im Zweifel für ihr Handy oder für ihr demokratisches Stimmrecht entscheiden würden, hätte ich tatsächlich Angst vor dem Ergebnis. Trotzdem ist die Jugend heute so selbstbestimmt wie noch nie zuvor.

Widerspricht das nicht dem allenthalben gehörten Klagelied, dass die heutige Jugend viel konformistischer sei als zum Beispiel die von 1968?

Das ist ja völliger Unsinn. Wenn Sie die heute 70-Jährigen fragen, wer bei 1968 dabei war, dann kommen Sie nur auf eine verschwindende Minderheit dieser Generation. Das kritische Potenzial der heutigen Jugend ist da viel größer. Nehmen Sie die Occupy-Bewegung, die stößt auf weit mehr Resonanz als der Protest von 1968. Selbst die Rentner und Politiker sind dafür, weil sie spüren, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen?

Das Finanzsystem, so wie es besteht, wird es unter Umständen nicht mehr allzu lange geben. Wenn es einmal zusammengebrochen ist, müssen wir es wieder aufbauen und das System umdrehen, damit das Geld, das man mit Spekulation verdient, viel höher besteuert wird als jenes, das mit Arbeit verdient wird.

Sie warten also auf den endgültigen Zusammenbruch des Finanzsystems?

Nein, aber wir müssen vorsorglich Pläne in der Tasche haben, die wir auspacken können, falls das System kollabiert.

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