Interview

Bernhard Pörksen 

Der Medienwissenschaftler hat ein bemerkenswertes Buch über unsere Kommunikationskrise geschrieben. Er kennt Auswege.

Gespräch: Armin Thurnher

FALTER:  Nr. 19/2018

Erscheinungsdatum: 8. Mai 2018

Bernhard Pörksen beim 44 Wiener Stadtgespräch © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Bernhard Pörksen, 1969 geboren, studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg. Er lehrt Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Beeinflusst wurde er vom Kybernetiker Heinz von Foerster und vom Theologen-Philosophen Ivan Illich, beeindruckt von Günter Nenning und Markus Peichl (Pörksen arbeitete als Praktikant bei der Zeitschrift Tempo). Er ist Autor mehrerer Bücher (darunter „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ mit Hanne Detel, Herbert von Halem Verlag, 2012), zuletzt erschien „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ (Hanser, 2018).

Auf den Tübinger Hügeln blühen die Bäume. Die mittelgroße schwäbische Stadt ist seit Zeiten der Aufklärung so etwas wie eine deutsche Geistesmetropole. Hegel, Schelling und Hölderlin studierten am dortigen Stift, der wahnsinnig gewordene Hölderlin verbrachte seine letzten Jahrzehnte in einem gern besichtigten Turm. Hermann Hesse lernte hier Buchhändler, Ernst Bloch und Hans Mayer, Walter Jens und Martin Buber lehrten hier. In Bubers Sommervilla wohnt nun Bernhard Pörksen, allerdings nur zur Miete, wie er dem Gast gleich erklärt.

Der Medienwissenschaftler habe das Buch der Stunde geschrieben, hieß es vor einigen Wochen im Falter. Pörksen legte mit seinem Essay „Die große Gereiztheit“ einen scharfen Schnappschuss der aktuellen menschlichen Verfassung vor. Den Titel seines Buches entnahm er dem Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, der darin die Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg schildert.

Pörksen ist aber weit davon entfernt, ein Alarmist zu sein. Im Gegenteil. Er analysiert unseren kommunikativen Zustand schonungslos, aber nicht ohne Hoffnung. Er setzt auf die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft, in der Menschen lernen, eingeübte Verfahrensweisen professioneller Kommunikation zu übernehmen: Skepsis, Distanz, Faktenprüfung, Wahrheitswillen. Kurz: Eine allgemeinverbindliche Kommunikationsethik soll uns die gewaltigen Vorteile der digitalen Gesellschaft zugänglich machen, ohne dass wir uns dabei gegenseitig anprangern, vernichten, mobben oder ausbeuten. Er nennt die redaktionelle Gesellschaft ein „Bildungsziel für die digitale Moderne“. Auch heute noch kommen also aus Tübingen Ideen der Aufklärung. Kommende Woche kann man Pörksen persönlich hören, er ist am Dienstag zu Gast bei Peter Huemer im Stadtgespräch von Falter und AK.

FALTER Herr Pörksen, wie würden Sie Ihren Beruf beschreiben? 

Grenzgänger zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft. Jemand, der sich an der Schnittstelle besonders wohlfühlt. Jemand, der glaubt, dass Wissenschaft, die sich abschottet, schlechte Wissenschaft ist. Jemand, der der Auffassung ist, dass das Reizklima der Öffentlichkeit produktiv auf die Erkenntnis einwirkt, weil man gezwungen wird, verständlich zu sein, anschaulich zu sein, reaktionsfähig und interventionsfähig zu sein. 

Was macht ein Medienwissenschaftler den ganzen Tag, wenn er nicht populäre Bücher schreibt? 

Medienwissenschaft ist der schönste Beruf, denn Sie müssen nicht zum Frisör, um alles zu lesen, was Sie lesen wollen. Sie haben immer ein Argument, um auch Schund zu konsumieren. Aber ernsthaft: Man liest, man schreibt, man notiert, man exzerpiert und man versucht, Muster zu erkennen. Muster in den Empörungsrhythmen, Muster in der Art der Skandalisierung, Muster in der Form der politischen Inszenierung, Muster in der Kommunikation in sozialen Netzwerken. 

Man kann ja nicht alles lesen, sonst hätte man keine Chance, irgendetwas zu tun. Wie gehen Sie vor? 

Ich stehe auf und surfe ein bisschen durch das Netz, gucke meistens die Tagesschau vom Vorabend, habe einige Newsletter abonniert, lese dann die Lokalzeitung und blättere durch verschiedene Magazine. Dann lehre ich oder schreibe Vorträge oder Artikel oder vertiefe mich in einzelne Theorien und Ideen, die mönchische Phase. Nachmittags bin ich dann nicht mehr so richtig leistungsfähig, dann werde ich wieder zu jemandem, der auf mäandernde Weise, auf unstrukturiertere Weise liest. 

Welche Einflüsse haben Sie geprägt?

Ich war inspiriert durch den Konstruktivismus. Mein erstes Buch habe ich vor 20 Jahren mit dem Wiener Kybernetiker Heinz von Foerster geschrieben, der Ludwig Wittgenstein seinen Nennonkel nannte. Mich hat dieses Nachdenken über unsere Erkenntnismöglichkeiten zunächst vor allem auf neurobiologischer Basis fasziniert. Die ersten zehn Jahre an der Universität habe ich vor allem als stiller Theoretiker gearbeitet. 

Und dann? 

ann gab es ein Schlüsselerlebnis, das mir gesagt hat, da draußen passiert gerade eine Medienrevolution, du musst dich auf die Welt einstellen. Ein Student, Hilfskraft in meiner Abteilung, hatte über Pfingsten 2010 Zeit. Er hörte, wie Bundespräsident Horst Köhler aus Afghanistan kommend in einem Radiointerview sagte, wir brauchen eventuell auch Militär zur Sicherung von Handelswegen. Meine Hilfskraft interpretierte das als grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen, kritisierte die Äußerung entsprechend hart und skandalisierte den Satz bei Nachrichtenagenturen, großen Zeitungen und online. Mit dem Erfolg, dass es einen großen Aufschrei gab. Eine knappe Woche später war Horst Köhler zurückgetreten. Dann tauchten in meiner Abteilung Reporter auf der Suche nach dem Blogger, der den Bundespräsidenten gestürzt habe, auf. Auf dieses Schlüsselerlebnis habe ich zusammen mit meiner Mitarbeiterin mit dem Buch „Der entfesselte Skandal“ reagiert, wo ich versucht habe, eine neue Dynamik der Eskalation, die Evolution der Skandalisierung unter vernetzten Bedingungen, zu beschreiben. Eine neue Form von Agenda-Setting. Das Publikum selbst als Medienmacht, als fünfte Gewalt.

Sie sprechen im Zusammenhang von neuen Kommunikationsverhältnissen von „Klimawandel“. Das ist ja doch etwas Beunruhigendes, was viele Menschen verstört. 

Wir erleben Unruhe, Gereiztheit, Wut, auch Verstörtsein über die permanente Grenzverletzung im öffentlichen Raum. Und letztlich die Verschlechterung des Kommunikationsklimas. 

Wie weit ist das ein Phänomen von Insidern, Journalisten oder Kommunikationswissenschaftlern? Sind Leute im Vorstadtzug davon ebenfalls betroffen oder schauen die auf Facebook eh nur die Bilder ihrer Freunde und Familien an? 

Ich glaube nicht, dass das Nachdenken über das Kommunikationsklima ein Filter-Blasen-Phänomen ist. Wir wissen aus Befragungen, dass bis zu 40 Prozent der Menschen online Belästigungen erfahren haben. Die meisten Menschen kennen jemanden, der online attackiert wurde, online gemobbt wurde. Wir wissen von in der ganzen Schule verbreiteten Bildern, die Jugendliche einander zuschicken und die einen Einzelnen auf entsetzliche Weise blamieren. Die Veränderung des Kommunikationsklimas ist für alle spürbar und erlebbar geworden.

Was wirklich passiert, wenn man auf Facebook ist, dass man nämlich mit seinen eigenen Daten oder eigentlich mit seinem Leben bezahlt, das ist den meisten aber nicht klar. 

Nein, es ist ihnen nicht klar, dass es Algorithmen gibt, die im Hintergrund Informationsströme manipulieren, dass eine scheinbar neutrale Plattform ein redaktionelles Programm hat, dass eine massive publizistische Machtverschiebung stattfindet. Dass der klassische Journalismus auf dramatische Weise schwächer wird und Qualität nicht mehr refinanzieren kann. Dass Facebook im Jahr 2017 40 Milliarden Dollar Werbeeinnahmen hatte – alle deutschen Medien zusammen kommen nicht auf die Hälfte dieser Werbeeinnahmen. Das ist den meisten Menschen nicht klar. Es ist eine große, noch unverstandene Bildungsherausforderung, die in der gegenwärtigen Situation der mentalen Pubertät im Umgang mit diesen neuen Medienmöglichkeiten steckt. Wir sind selbst medienmächtig geworden, aber noch nicht medienmündig. 

Wir haben jetzt über Facebook gesprochen. Kann man die digitale Wende mit Social Media gleichsetzen oder ist das eine Vereinfachung?

Ich würde es nicht gleichsetzen. Für mich sind das Entscheidende drei Prozesse. Der erste Prozess ist die Digitalisierung. Materialien, Dokumente, Daten bekommen eine ganz neue Leichtigkeit und Beweglichkeit. Die Materialität des Buches ist schwer, behäbig, begrenzt die eigene Verbreitung. Der zweite Prozess ist die Vernetzung. Die Möglichkeit, mit Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt auf eine leichte Weise in Interaktion zu treten. Und der dritte Prozess ist, dass wir alle kleine Sendestationen in Gestalt von Smartphones mit uns herumtragen. Das ist die publizistische Selbstermächtigung des Publikums. Wir haben alle die Instrumente, um uns barrierefrei zuzuschalten und Materialien, Dokumente, Daten aller Art auf barrierefreie Weise zu verbreiten. 

Dadurch ergibt sich ein Problem, das wir mit den klassischen Medien nicht hatten: Keiner weiß mehr genau, ob das, was ich sehe, auch das ist, was der andere sieht. Ich kann nicht davon ausgehen, dass wir denselben Informationsstand in irgendetwas haben. 

Es gibt einen sanften Paternalismus der Zeitung. Das Motto: Egal, ob es dich interessiert, wir zeigen dir trotzdem, dass wir dieses Theaterstück im Kulturbereich für relevant halten. Selbst wenn man den Wirtschaftsteil wegwirft, aus den Augenwinkeln wird man ja doch noch darüber informiert, dass es da etwas anderes gibt. Das ist das verborgene Pathos der gebündelten Form. Man wird irritiert mit Informationen, die man nicht gesucht hat. Bei digitalen Medien haben wir eine Informationswelt, die der Bestätigungssehnsucht des Menschen, dem Bedürfnis danach, Bestätigung zu finden, die eigenen Urteile und Vorurteile einfach belegt zu finden, sehr, sehr weit entgegenkommt. 

Ein Mensch, der von Facebook nach seinen Vorlieben versorgt wird, hat sicher den Eindruck, alle kriegen das Gleiche wie er. Nur stimmt das nicht. Der Leitartikel in der Zeitung ist für alle der gleiche. Aber das Äquivalent auf Facebook wäre unter Umständen nicht das Gleiche.

Ja. Aber ich halte das Phänomen der Filterblase für überschätzt. Weil wir durch unterschiedlichste Informationswelten surfen, ist jeder Link ein Ticket in ein anderes Universum. Einmal bin ich bei Herrn Kurz auf der Facebook-Präsenz und hüpfe wieder zu Herrn Wolf und von dort aus zu Herrn Strache. Oder auf irgendein Reise- oder Newsportal. Weiters sehen wir inzwischen an den empirischen Untersuchungen, die Informationsheterogenität ist sehr viel größer als gedacht. Ich beschreibe in meinem Buch die Möglichkeit der Selbstabschottung. Die ist aber sehr viel stärker getrieben von unserer allgemeinen menschlichen Bestätigungssehnsucht, weniger durch die Algorithmen. Diese Selbstabschottung trifft auf die gleichzeitige Sofortkonfrontation mit immer anderen Ansichten. Meine These ist: Das erzeugt diese Stimmung der Gereiztheit, der Anstrengung. 

»Sie können sich heute in ein Tal
mit lauter Gleichgesinnten zurückziehen. Aber das Tal ist
stets belagert.

Bernhard Pörksen

FALTER Eine permanente Überforderung.

Ja. Man kann für die eigenen Urteile und Vorurteile sofort Bestätigung finden und ist doch immer nur einen Klick entfernt von der Vorstellung der anderen. Wenn Sekten extremistisch werden, wechseln sie in ein geschlossenes Tal, kreieren eine eigene, von Monotonie und Totalkontrolle regierte Informationsökologie. Jim Jones ging in den Dschungel, Bhagwan in ein Tal in Oregon, Otto Mühl kaufte sich ein einsames Tal auf La Gomera … Wenn wir bei der Analogie des einsamen Tals bleiben: Sie können sich heute in Ihr Tal mit lauter Gleichgesinnten zurückziehen. Aber dieses Tal ist stets belagert. Sie wissen, nur einen Sprung, nur einen Link, nur einen Klick entfernt beginnt wieder ein anderes Tal. Auch der Fundamentalist weiß heute, er ist nicht mehr alleine. Und das erzeugt eine eigene Art von Dissonanz oder Differenzkoller, Wut und Gereiztheit. 

Ein von der amerikanischen Alt-Right Infizierter trüge gleichzeitig auch das Bewusstsein mit sich herum, dass er nicht ganz richtig liegt?

Dass alles, was er sagt, von seinen Gegnern sofort diskreditiert wird. Ich würde nicht sagen, er geht so weit zu sagen, „ich liege nicht ganz richtig“. Aber sein Rückzug in den Behaglichkeitskosmos eines unangefochtenen Selbstverständnisses ist nicht mehr möglich. Der Filter-Clash ist unvermeidlich.

Umso vehementer muss er sich verteidigen.

 Ja genau. Ein Großteil der Kommunikation ist heute immer auch Metakommunikation, ist Auseinandersetzung mit Kritik, ist Zurückweisung von Kritik, ist Vorwegnahme von Kritik. Viele der Phänomene, die uns erschrecken, lassen sich auch als Abwehr- und Notwehrbewegungen gegen die Sofortkonfrontation mit immer anderen Ansichten lesen. Verschwörungstheorien sind eine Möglichkeit, die Position eines anderen blitzschnell zu entwerten. Die Political-Correctness-Debatte ist eine Möglichkeit, blitzschnell zu sagen, ich brauche euch gar nicht zuzuhören, ihr werdet eh nur versuchen, mich auf diese verkniffene, moralisierende Weise zu diskreditieren. 

Wieso lassen sich Leute von Propaganda so leicht instrumentalisieren? 

Wegen des massiven Vertrauensverlusts in die Institutionen der Politik und der klassischen, etablierten Medien. Wenn das Misstrauen so groß ist, dann verlieren sie ihren Kompass. Dann wird alles auf eine seltsame Art und Weise gleichgewichtig und dann können sie alles glauben. Dann haben sie keine innere Haltung mehr, um jemanden mit der nötigen Schärfe und Energie als Propagandisten zu entlarven. 

Wie weit sind die klassischen Medien selber schuld an ihrem Bedeutungsverlust? 

In Deutschland haben wir doch nach wie vor gute Zeitungen, interessante, vielfältige Medien. Das heißt nicht, dass die nicht auch Fehler machen, Grenzüberschreitungen begehen, Kritik verdienen. Aber sie werden gebeutelt von einem fatalen Zusammenspiel von Refinanzierungskrise und Vertrauenskrise. Das ist ja die ungelöste Ein-Millionen-Euro-Frage. Wie kann man Qualität refinanzieren? Mit Dreck können Sie sehr viel Geld verdienen. Aber eben nicht mit Qualität, die ist teuer in der Produktion. Es ist fatal: Die Solidarität schwindet in einem Moment, in dem man eigentlich den Pakt zwischen Publikum und klassischem Journalismus neu begründen müsste, vielleicht weniger asymmetrisch, dialogischer.

Sie versuchen, die digitale Wende immer sehr hoffnungsvoll zu schildern …

Ich bin ein Bildungsoptimist! (Lacht.)

… aber stehen nicht die Verfahrensweisen der repräsentativen Demokratie jetzt durch diese mediale Wende zur Disposition?

Welche Verfahrensweisen meinen Sie?

Dass, wie der Philosoph Jürgen Habermas etwa sagte, durch eine qualifizierte Öffentlichkeit von Qualitätszeitungen und öffentlich-rechtlichen Medien über die Meinungsbildung von informierten Eliten noch ein demokratischer Konsens hergestellt wird. In Ihrem Buch beschreiben Sie Punkt für Punkt, wie dieser Vorgang aufgelöst wird.

Ja. Wie Wahrheit zersetzt, Autorität pulverisiert, der Diskurs durch den Extremismus ruiniert wird und die Reputation jedes Einzelnen angreifbar wird. Für die Zukunft kann ich meine prinzipielle Position nur als Hoffnung oder Haltung formulieren. Nämlich: Ich glaube, wir sind in einer Übergangsphase der Medienevolution. Ich halte den Menschen für ein ungeheuer erfindungsreiches und fähiges Wesen. Wir werden neue Filter und Zivilisierungs- und Mäßigungsinstrumente entwickeln. Das Jetzige ist eine Phase der mentalen Pubertät, das ist ein Um-sich-Schlagen, ein Exzess an Geschwindigkeit, ein Rausch der Nervosität, eine Veränderungspanik, die uns untergründig erfasst hat. Ich glaube, man muss über Zivilisierungstechniken neu nachdenken. In der gigantischen Öffnung des kommunikativen Raums ist jeder zum Sender geworden. Aber nicht jeder vermag mit diesem Zuwachs an kommunikativer Freiheit publizistisch verantwortlich umzugehen. Das ist eine Bildungsaufgabe. Und: Wir müssen aufpassen, dass wir als Kultur- und Gesellschaftsdiagnostiker nicht demokratisches Bewusstsein vorschnell verloren geben. In diesem Sinne ist mein Bildungsoptimismus vielleicht dem Vorwurf einer gewissen Naivität ausgesetzt. Aber es scheint mir im Zweifel der bessere Glaube. Selbst, wenn es ein Irrglaube ist!

Aufklärung ist der bessere Glaube?

Ja, denn dann behalten Sie das Ideal von Mündigkeit, dann behalten Sie das Vertrauen in den anderen Menschen, die Basis des demokratischen Zusammenlebens. Wir müssen an die Idee der Mündigkeit glauben. Selbst wenn sie sich eines Tages als Fiktion erweisen sollte. 

Ich dachte, Sie sind ein Systemtheoretiker, der Soziologe Niklas Luhmann, ein Widerpart von Habermas, hat Sie beeinflusst. Aber am Ende wird es doch wieder diskursethisch. Das ist ja ein Habermas’scher Appell: Lass uns doch über Schulen und Selbstreflexion zu einer Übereinstimmung im Dialog kommen!

Ich glaube ernsthaft, dass die Entwicklung ambivalent ist. Ich laufe mehrfach täglich zwischen der Position der Euphoriker, die begeistert sind über die neuen Möglichkeiten, und der Position der Apokalyptiker hin und her. Ich leide unter der Kloake aus Hass und Propaganda, aber ich freue mich über den ungeheuren Informationsreichtum, das Geschenk des Informationsreichtums, die barrierefreie Interaktion, die kostengünstige Information, die blitzschnelle Kommunikation. Ich freue mich darüber! Und zwar ernsthaft. Und ich profitiere als Wissenschaftler täglich davon. Für mich sind all die Krisenphänomene, die ich zu beschreiben versuche, doppelgesichtig. Die Wahrheitskrise, die Autoritäts- und Reputations- und Diskurskrise. Großartig, dass wir uns von der Diktatur der Monopolperspektive verabschieden und so viele Wahrheiten kennenlernen können. Schrecklich das Maß an Überforderung, schrecklich das Maß an Propaganda. Großartig, dass auf einmal jeder mitsprechen kann und dass sich Diskursverhältnisse in diesem Sinne neu sortieren und das alte hierarchische Modell der Belehrung zu seinem Ende gekommen ist. Schrecklich, wie Menschen diese neue kommunikative Freiheit nutzen. So kann man fast alles durchgehen. Auch furchtbar, wie Politiker, Mitglieder der sogenannten Elite, Prominente attackiert werden. Großartig, in welcher Geschwindigkeit man heute Öffentlichkeit schaffen kann, wenn sich illegitime Formen der Machtausübung zeigen. Ein Missbrauchsideologe wie Otto Mühl, der so doof war, die zur Kunst überhöhte Grenzüberschreitung in seinem Spießerprojekt am Friedrichshof filmisch zu dokumentieren, wäre heute nicht mehr möglich. Das ginge heute genau vier Wochen, dann würde das erste Handyvideo auftauchen. Und dann wäre die Polizei vor Ort.

Sie adressieren mit Ihrem Vorschlag eines redaktionellen, in Schulen vermittelten Bewusstseins zumindest indirekt die Politik.

Vollkommen erfolglos übrigens. Wir haben hier eine Digitalministerin, die von Flugtaxis schwärmt und die Digitalpolitik als Industriepolitik missversteht und nicht als Gesellschaftspolitik begreift. Es gibt in der deutschen Politik eine systematische Weigerung, die anstehende Wertedebatte zu führen. 

Glauben Sie, dass öffentlich-rechtliche Social Media eine Alternative wären?

Ich glaube, dass wir den öffentlich-rechtlichen Gedanken sehr viel breiter verstehen müssen. Demokratie braucht eine Informationsinfrastruktur, die davon ausgeht, dass seriöse, unabhängige Berichterstattung systemrelevant ist. Mich stört an der Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen – die ich schätze und die ich für wichtig halte und deren Diskreditierung absurde Züge angenommen hat – die Verengung auf eine Perspektive. Die klassische Zeitungswelt bräuchte ebenfalls eine gesellschaftliche Lobby. Ich ringe da um Begriffe. Wir brauchen so etwas wie informationelle Solidarität oder qualitätsbezogene Solidarität in einem sehr viel umfassenderen Maße. Wir müssen grundsätzlich darüber reden, wie kann jene Informationsinfrastruktur, welche die Demokratie braucht, erhalten bleiben? Die Öffentlich-Rechtlichen sind da sicher eine Ausformung, aber genauso wichtig ist die Zeitungsöffentlichkeit als Debattenöffentlichkeit. Die großen Debatten der Bundesrepublik sind Zeitungsdebatten gewesen. Den intellektuellen Fokus, wie Habermas sagen würde, den haben die Zeitungen hergestellt.

Man hat Ihre Idee eines redaktionellen Bewusstseins romantisch genannt, weil unsere Demokratie nur mehr die Simulation von Demokratie sei. 

Dem kann ich nur unfreundlich entgegnen: Ich halte die leichtfertige Beschwörung des Untergangs der Demokratie – als sei ihr Schicksal besiegelt – für eine Form der Apokalypsegeilheit. Man will dann nicht kämpfen, nicht streiten. Und ich würde hinzufügen: Wir haben doch die Bildungsherausforderung der gegenwärtigen medialen Situation noch gar nicht erkannt und dechiffriert. Und dann sagen Leute, das geht nicht und das kann gar nicht funktionieren. Ja, ich bin auch pessimistisch, was ein eigenes Schulfach angeht in einer föderalistisch zersplitterten Bundesrepublik. Das wird lange dauern. Aber ich glaube doch sehr viel hartnäckiger an die ungeheure Lernfähigkeit von Gesellschaften und Menschen.

Die Thesen

Punkt 1

Existenzfrage Medienmündigkeit 

Medienmündigkeit ist zur Existenzfrage liberaler Demokratien geworden. Smartphones sind kleine Sendestationen. Wir müssen medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind. Es gibt eine gigantische Machtverschiebung im öffentlichen Raum. Das Kommunikationsklima verändert sich, das Miteinanderreden wird schwieriger. Wir brauchen eine Wertedebatte: Es geht um die Bildungsutopie einer „redaktionellen Gesellschaft“, die Ideale guten Journalismus als Element einer Allgemeinbildung annimmt.

Punkt 2

Das Internet und die Bestätigungssehnsucht 

Das Internet kommt unserer Bestätigungssehnsucht entgegen: Wir können uns in unsere Wirklichkeitsblase hineingoogeln, wir können die Experten suchen, die unsere Thesen stützen und unsere Vorurteile belegen. 

Punkt 3

Blind bezüglich möglicher Konsequenzen

Eine charakteristische Möglichkeitsblindheit von Menschen zeigt sich immer wieder bei geposteten Inhalten im Internet: Wir können uns die mögliche Zukunft unserer Postings, der von uns geposteten Bilder nicht vorstellen. Günter Anders sprach von Apokalypse-Blindheit in „Die Antiquiertheit des Menschen. Band I“, 1965. Das Netz ist eine Verstärkungsmaschine, das Netz radikalisiert die Botschaft, ist aber nicht schuld an eventuellem Hass.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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