Interview

Jans Joachim Schellnhuber

Klimaschutz wird nicht honoriert

Gespräch: Benedikt Narodslawsky

FALTER:  Nr. 48/2020

Erscheinungsdatum: 24. November 2020

Portrait Joachim Schellnhuber © Mercator
© Mercator
Zur Person

70, promovierte summa cum laude in Theoretischer Physik an der Universität Regensburg, arbeitete als Professor an der Universität Oldenburg und der University of California und wurde 1991 Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Er ist Mitglied des Weltklimarats (IPCC), der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und der Max-Planck Gesellschaft.

Als erste politische Tat will der designierte US-Präsident Joe Biden die Vereinigten Staaten wieder in den Pariser Klimavertrag führen. Geht es nach ihm, soll sein Land – ganz wie die EU – bis 2050 klimaneutral werden. China plant dies bis 2060 zu schaffen. Selbst der russische Präsident Vladimir Putin hat sich ein grünes Mäntelchen angezogen und vor wenigen Tagen einen Klima-Erlass unterzeichnet: Russland soll seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 in den nächsten zehn Jahren um 70 Prozent senken.

Wird all das reichen, um die Klimakatas­trophe abzuwenden?

Seit Jahrzehnten warnt Hans Joachim Schellnhuber vor den dramatischen Auswirkungen der Klimakrise, darunter Extremwetter, Hitze, Dürre, Hunger, Wasserknappheit, Krieg und Massenmigration. Der Physiker zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten Wissenschaftlern der Welt, er hat unter anderem Papst Franziskus, Angela Merkel und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beraten. Der Falter erreicht ihn per Video-Call im renommierten Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, das Schellnhuber 1991 gegründet hat. Ein Gespräch über Corona, ahnungslose Entscheidungsträger und das Ende der Anpassungsfähigkeit.

FALTER Herr Schellnhuber, nach der deutschen Wiedervereinigung gründeten Sie das neue Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Zu Beginn haben Sie sich damals in wissenschaftlicher Literatur vergraben, um alles über den Klimawandel zu lernen. Das haben Sie als Ihren „Holy-Shit-Moment“ bezeichnet.

Ja, als das Abenteuer Potsdam begann, habe ich schnell erkannt, dass der Klimawandel eine ganz große Nummer ist. Die Erderwärmung war damals noch ein Nischenthema. Ich habe mir gedacht: Entweder ist es nach 20 Jahren erledigt – oder es wird für uns existenzbedrohend.

Seit Jahrzehnten warnen Sie vor den Folgen der Klimakrise und sehen gleichzeitig, dass die Treibhausgas-Emissionen immer weiter steigen. Hat Corona daran etwas geändert? 

Wir haben das in einer aktuellen Studie untersucht, die vor kurzem im Wissenschaftsjournal Nature Communications veröffentlicht wurde. Wir haben uns angesehen, ob die CO₂-Emissonen aufgrund der Corona-Maßnahmen weltweit reduziert worden sind. Verglichen mit dem ersten Halbjahr 2019 sind die Emissionen im ersten Halbjahr tatsächlich um rund neun Prozent zurückgegangen, hauptsächlich im Mobilitätssektor. Aber diese Reduktion wirkt sich auf die Klimastabilität fast gar nicht aus. Sieht man sich die steigenden CO₂-Konzentrationen im historischen Zeitverlauf an, wird es im Jahr 2020 nur einen kümmerlichen Knick geben.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Politiker im Ernstfall wissenschaftliche Empfehlungen ernst nehmen und ihr Handeln danach ausrichten können. Warum klappt das bei der Klimakrise nicht? 

Menschen sind durch Covid unmittelbar bedroht; diese Krise lässt sich recht kurzfristig managen. In so einer Situation können Politiker drastische Maßnahmen über Nacht verordnen, die viel Geld kosten und die Rechte und Gewohnheiten der Bürger einschränken. Das Volk findet das trotzdem toll. Die Klimakrise ist hingegen ein völlig anderes Paar Schuhe. 

Warum?

Stellen Sie sich vor, man würde die aktuellen Corona-Maßnahmen auf zehn Jahre ausdehnen. Alle müssten ihre sozialen Kontakte einschränken, Masken tragen, Restaurants meiden und dürften nicht mehr fliegen. Da würden die Leute zu murren beginnen. Sie würden sich fragen: Für wen ist das gut? Nur für ein paar alte Menschen, die schon im Spital sind? Der Konsens, dass es harte Maßnahmen braucht, würde erodieren. Bei der Klima­krise, welche die reichen Länder noch nicht ernsthaft bedroht, müsste unsere Gesellschaft in der Tat akzeptieren, dass sie über Jahrzehnte ihr Verhalten ändern muss, weil Menschen gefährdet sind, die wir gar nicht kennen – dazu zählen insbesondere die Ungeborenen. Wenn man also seinen Lebensstil auf unabsehbare Zeit für das Gemeinwohl ändern muss, sagen viele: Du kannst mir den Buckel runterrutschen!

Was bräuchte es, damit die Gesellschaft die Klimakrise ebenso ernst nimmt wie die Pandemie?

Das Bauchgefühl müsste durch die Vernunft getoppt werden. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist, wie Politik an Probleme herangeht. Politiker lieben Probleme, die sie lösen können, und sie hassen solche, von denen man nicht weiß, ob man sie überhaupt in den Griff bekommt. Covid ist durch einen Lockdown kontrollierbar. Man kann Geld in die Forschung stopfen, um Impfstoffe gegen die Krankheit zu finden. Man kann eine App kreieren und Intensivbetten aufstocken. Politiker sehen, dass man sich im nächsten Jahr dafür feiern lassen kann, wenn man das Problem gelöst hat. Nur wissenschaftsfeindliche Tölpel wie Donald Trump haben die Chance nicht erkannt. Dass er die Krise geleugnet hat, ist ihm nun auf die Füße gefallen. Aber wenn eine Regierung ihr Land gut durch die Krise bringt, kann sie die Früchte ernten und wird vom Wähler belohnt. 

Politiker lieben Probleme, die sie lösen können, und sie hassen solche, von denen man nicht weiß, ob man sie überhaupt in den Griff bekommt.

Hans Joachim Schellnhuber

Und in der Klimapolitik ist das anders?

Völlig anders. Klimaschutz wird vom Wähler nicht honoriert, schon gar nicht nach einer Amtszeit. Man wendet als Politiker vielleicht den Untergang der Welt ab, und künftige Generationen werden sich vielleicht an einen erinnern. Aber das lässt sich nicht in Wählerstimmen ummünzen. Beim Klimaschutz muss man extrem dicke Bretter bohren. Es geht schließlich um nichts weniger als um die Transformation der Industriegesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit. Und wer bekommt dafür schon individuelle Anerkennung? Um das zu schaffen, braucht es eine gemeinschaftliche Anstrengung, die sich niemand Einzelner ans Revers heften kann. So etwas hassen die meisten Politiker.  

Sie beraten internationale Entscheidungs­träger. Wie informiert sind diese Leute?

Überwiegend erschreckend schlecht. Vor allem unter den Wirtschaftsführern gibt es eine weitgehende Klima-Ignoranz. Da dreht es einem den Magen um, was da an Aberglaube und Verdrängung herrscht. In der Politik ist es gemischter. Da habe ich auch mit Lichtgestalten arbeiten dürfen, die gut zuhören. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zum Beispiel, sie ist ja selbst Physikerin. Mit der konnte man sich eine halbe Stunde über Fachartikel beugen. Papst Franziskus hatte eine kurze Ausbildung als Chemiker, auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist interessiert und denkt als promovierte Ärztin naturwissenschaftlich. Wenn man zu solchen Menschen Zugang hat, ergibt sich die Möglichkeit, wissenschaftliche Evidenz in die Gesellschaft hineinzutragen.

Im Jänner dieses Jahres präsentierten Sie mit Ihren Kollegen eine Studie, die zeigt, dass eine Baurevolution mit Holz und Bambus eine bedeutende globale CO₂-Senke werden könnte. Statt der CO₂-intensiven Bauträger Stahl und Beton solle man auf Holz und Bambus setzen. Im Oktober erklärte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, die wolle eine Europäische Bauhaus-Bewegung anstoßen, die statt auf Stahl und Beton auf Holz und Bambus setzt. Wie ist denn das gegangen?

Ursula von der Leyen kam einmal unangemeldet zu einem meiner Vorträge. Etwa eine Woche vor ihrer State-of-the-Union-Speech hatte ich die Möglichkeit, mit ihr einen langen Video-Call zu machen. Ich habe ihr dabei verschiedene Themen vorgeschlagen. Sie hat zu meiner großen Freude zielsicher das interessanteste Thema herausgegriffen, das mir auch am meisten am Herzen liegt – eine neue Baukultur. Dabei habe ich nur gesagt, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Wir müssen aus dem Betonbau raus. 

In wenigen Wochen feiert der Pariser Klimavertrag seinen fünften Geburtstag, in dem die Staatengemeinschaft vereinbart hat, die Erderwärmung zu stoppen. Im Vergleich zur Zeit vor der industriellen Revolution soll es weltweit nicht heißer werden als 1,5 Grad, der Anstieg soll jedenfalls deutlich unter zwei Grad bleiben. Von der Leyen hat vor kurzem vorgeschlagen, die Treibhausgas-Emissionen der EU bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Reicht das, um den Pariser Klimavertrag zu erfüllen?

Minus 55 Prozent ist ein großer Schritt nach vorne, aber es reicht natürlich nicht, um die 1,5-Grad-Linie zu halten. Auch nicht die zwei Grad. Aber je drängender die Dinge sind, desto geduldiger muss man paradoxerweise sein. Der Tanker setzt sich in Bewegung, zwar zu langsam, aber er bewegt sich. Hätte jemand vor zehn Jahren minus 55 Prozent ins Spiel gebracht, wäre er in der Zwangsjacke rausgetragen worden. Der Fortschritt kommt oft schräg von hinten. 

Die Einschätzungen von Klimawissenschaftlern unterscheiden sich manchmal stark. Ein Beispiel: Der Weltklimarat der Vereinten Nationen sagt, der globale Meeresspiegel steige bei zwei Grad um etwa 110 Zentimeter. Eine vielzitierte Studie von Ihnen zeigt, dass selbst 1,5 Grad mehr in eine Heißzeit führen könnte. Der Meeresspiegel steige demnach zwischen zehn bis 60 Meter an. Das klingt schon viel dramatischer. Wem kann ich da als Journalist seriös vertrauen?

Man muss zunächst den Kontext erklären: Wir versuchen am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, unaufgeregt und ohne Parteinahme erstklassige Forschung zu machen. Das wird uns dadurch bescheinigt, dass wir in den besten wissenschaftlichen Journalen veröffentlichen und Preise gewinnen. Im Gegensatz dazu ist der Weltklimarat kein rein wissenschaftliches Gremium, sondern ein Mischwesen aus Experten und Regierungsvertretern. Die Erkenntnisse der Wissenschaftler werden dort schlussendlich von Bürokraten abgesegnet. Es ist also eine hochpolitische Wesenheit, in der Länder wie Russland, Saudi-Arabien oder die USA direkt mitmischen, um Ergebnisse zu entdramatisieren. Alles kommt zwar auf den Tisch, aber möglicherweise an der äußersten Kante.

Aber wie kommen Sie auf zehn bis 60 Meter Meeresspiegelanstieg?

Einmal durch den Blick zurück in die Erdgeschichte. Unter vergleichbaren Bedingungen, wie wir sie bei ungebremsten Emissionen in mittlerer Zukunft schaffen werden, war die globale Umwelt in der Vergangenheit dramatisch anders als heute. Inbesondere waren die großen grönländischen und antarktischen Eismassen damals wesentlich reduziert, was sich in einem um Dutzende Meter höheren Meeresspiegel ausdrückte. Dies ignoriert übrigens der Weltklimarat überhaupt nicht. Zudem setzen wir komplexe Erdsystem-Modelle für die Simulation der künftigen Entwicklung ein. Die daraus resultierende Studie zur Heißzeit ist keine Vorhersage, aber wir haben uns damit beschäftigt, mit welchen Mechanismen und Risiken wir rechnen müssen. Es geht dabei um selbstverstärkende Rückkopplungsschleifen und Kippprozesse. Ein solcher Prozess kommt zum Beispiel in Gang, wenn die Permafrostböden auftauen. Dann entlassen sie große Mengen von Methan und CO₂, die wiederum die Erderwärmung weiter antreiben. Solche Rückkopplungen können einen Dominoeffekt erzeugen und andere Kippprozesse anstoßen. Die Erde könnte sich dann um vier, fünf Grad oder sogar mehr erwärmen.

Was geschieht dann?

Vier Grad plus ist noch ein blinder Fleck in der Klimaforschung – in diesen Bereich hat sich noch fast niemand hineingewagt. Die einzige ernsthafte Auseinandersetzung haben wir in einer Studie für die Weltbank gemacht. Diese wollte wissen, wie sich die Landwirtschaft an vier Grad Erwärmung anpassen kann. Unser eindeutiges Ergebnis: Vergesst es, da gibt es keine vernünftige Anpassung mehr. Diesen klimatischen Ausflug sollte die Menschheit tunlichst vermeiden

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