Interview

Harald Welzer

Der Soziologe über feige Politiker in Zeiten der Klimakrise und die Notwendigkeit einer Utopie

Gespräch: Benedikt Narodoslawsky

FALTER:  Nr. 35/2019

Erscheinungsdatum: 28. Mai 2019

Harald Welzer beim 49 Stadtgespräch © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Harald Welzer, 1958 geboren, ist ein deutscher Soziologe und Publizist. Er leitet als Direktor Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit und ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. Zudem lehrt er an der Universität St. Gallen. Zuletzt erschien „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“.

Digitalisierung, Migration, Rechtspopulismus, Klimakrise: Harald Welzer beschäftigt sich mit großen Fragen der Zukunft. Der deutsche Soziologe leitet die gemeinnützige Stiftung Futurzwei und hat vor wenigen Monaten mit dem Buch „Alles könnte anders sein“ eine Hoffnung gebende Gesellschaftsutopie veröffentlicht.


FALTER:  Herr Welzer, historisch betrachtet gibt es weniger Kriege, Hungernde und Kranke, wir leben länger und sind reicher als je zuvor. Warum sind trotzdem viele Menschen unzufrieden?

Weil sich fast alles nur noch um Konsum dreht. Die Tücke des Konsums ist die permanente Produktion von Unglücklichsein. Weil ja jedes Produkt, das ich mir erworben habe, durch das nächste, scheinbar bessere abgelöst wird. Das gibt eine nie endende Kette von Glücksversprechungen, und das führt zu Abhängigkeiten. Jeder Junkie ist unglücklich.

Wir sind also Konsumjunkies.

Ja, klar. Das sollen wir ja auch sein. Das erste Gebot unserer Gesellschaft lautet ja: Du sollst kaufen.

Wir leben heute ein vor 100 Jahren kaum zu erträumendes Leben. Warum braucht es gerade heute eine Utopie?

Weil uns derzeit jedes Konzept dafür fehlt, mit sich verändernden äußeren Anforderungen umzugehen. Auch wenn alle da-rüber reden, gibt es bis heute keine Idee, wie ökologische Probleme wie der Klimawandel bearbeitet werden sollen. Wir brauchen dementsprechend eine Utopie einer Gesellschaft, die gleichzeitig Freiheit, Demokratie und Recht aufrechterhält, der aber ein befriedetes Naturverhältnis zugrunde liegt. Das wäre die Utopie fürs 21. Jahrhundert. Die brauchen wir ganz dringend. Ich bin aber kein Anhänger der großen Utopien, sondern mein Konzept ist das der Heterotopien – das sind kleine Utopien, die umzusetzen sind und die man miteinander kombinieren kann.

In Ihrem Buch zeichnen Sie eine Reihe von verheißungsvollen Zukunftsbildern, unter anderem die autofreie Stadt. In der Realität ist schon jeder einzelne Parkplatz in Wien politisch massiv umkämpft.

In Deutschland ist das genauso, da haben wir eine mächtige Autoindustrie, die um jeden Millimeter Straßenraum kämpft. Außerdem stehen bei jedem Radweg, bei jeder Citymaut und jeder Idee einer autofreien Innenstadt die Einzelhändler auf der Matte. Denn Autofahren gehört zu unserer gesellschaftlichen Normalität. Für Menschen mittlerer Generationen ist es völlig unvorstellbar, dass sie kein Auto hätten, dass sie irgendwo nicht hinfahren können. Die Leute sind das gewohnt, halten das für Menschenrecht und können sich nichts anderes vorstellen.

Wie kann man da die autofreie Stadt umsetzen?

Sie muss wie alles in der Demokratie politisch erkämpft werden. Damit das gelingt, braucht es erstens einen gut orchestrierten öffentlichen Verkehr. Für die Menschen muss es also bequemer sein, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benützen. Zweitens muss man Referenzbeispiele schaffen, um die autofreie Stadt tatsächlich erfahrbar zu machen. Es gibt in Wien ja schon autofreie Zonen, davon braucht es mehr. Und wir brauchen eine erste autofreie Großstadt. Kopenhagen ist bereits auf dem besten Weg dorthin.

Viele werden aber weiterhin in ihrem geschützten Raum namens Auto fahren wollen, anstatt sich in eine überfüllte Straßenbahn zu quetschen. Wie überzeugen Sie die?

Das Argument mit dem geschützten Raum, das früher die Autos beliebt gemacht hat, ist heute keines mehr, weil jeder sowieso in jeder Situation seinen privaten Raum mit sich rumträgt. Alle Leute starren ja auf ihre Smartphones und nehmen von der Umwelt eh nichts wahr. Es ist also egal, ob sie in der Straßenbahn oder im Auto sitzen. In der autofreien Stadt wird hingegen der Raum in der Stadt selber viel größer, weil alles für eine andere Nutzung frei wird, was derzeit den Autos vorbehalten ist – Straßen, Parkplätze, Brückenanlagen. Es gibt eine wahnsinnige Öffnung des sozialen Raums, der bisher völlig von diesem Verkehrsmittel dominiert ist. Gerade in der Bundesrepublik haben wir eine große Diskussion über hohe Immobilien-und Mietpreise, da muss man sagen: Dieser extrem teure Boden wird von parkenden Autos benutzt.

Besonders ärgern Sie die SUVs. Sollten wir sie ächten?

Ich würde sie verbieten. Ein SUV wirft keinerlei Nutzen ab, hat eine enorme Zerstörungswirkung, ist unfassbar aggressiv, okkupiert extrem viel Raum, verbraucht wahnsinnig viel Rohstoffe. Vielleicht braucht man so was als Panzer beim Militär, aber wozu im zivilen Leben?

Ein SUV-Verbot zu forcieren wird sich derzeit kein Politiker trauen.

Die Politik hat sich heute völlig pädagogisiert. Politiker haben unglaublich viel Angst davor, dass irgendwelche Wähler das nicht gut finden, was sie gerade sagen. In der Bundesrepublik bekommen die Regionen, die vom Kohleausstieg betroffen sind, 40 Milliarden Euro. Weil man nicht nur soziale, sondern auch psychologische Härten vermeiden will. Das muss man sich für die Geschichte des Kapitalismus vorstellen, wenn jeder Strukturwandel so behandelt worden wäre, dass auch hinterher alle glücklich sind. Das sind Haltungen, wo Konflikt aus dem Politischen fast rausgenommen worden ist und alles versucht wird, dass niemand etwas auszusetzen findet. Und dann wählen die Leute trotzdem die Rechten, obwohl sie so viel Geld bekommen.

Warum eigentlich?

Weil es ein extrem kurzfristiges Denken gibt. Wir wissen heute schon, dass die Autoindustrie nicht die Schlüsselindustrie des 21. Jahrhunderts sein wird. Wie beim Kohleausstieg werden wir auch hier einen radikalen Strukturwandel haben. Aber ich höre keinen einzigen Politiker, der jetzt darüber nachdenkt, was man denn später mit den hunderttausenden Beschäftigten in der Automobilindustrie machen soll. Erst wenn der Strukturwandel eingeleitet ist, kommt man mit idiotischem Aktionismus, Gießkanne und Geld. Aber den Betroffenen nützt das symbolisch nichts, weil sie ihre Arbeitskraft bereits entwertet sehen. Kränkung und Verlustängste sind dann schon viel zu weit fortgeschritten. Selbst wenn sie alles vorgesetzt bekommen, benehmen sich die Leute dann wie verwöhnte Kinder, finden noch etwas zu meckern und sind total unzufrieden. Und wählen das Gegenteil.

Was raten Sie Politikern?

Dass sie mal richtig Tacheles reden. Die Leute sind ja nicht doof, die erwarten das auch. Politiker sind in die Geschichte eingegangen, weil sie so was gemacht haben – von Winston Churchill bis hin zu Helmut Schmidt. Das ist eine merkwürdige Art, wie in der Grundschule, dass man dem kleinen Bürger keine Wahrheit zumuten kann. Die Grünen haben in Deutschland zum Beispiel einen wahnsinnig guten Lauf. Von denen müsste mal eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede kommen: „Leute, wacht auf, werdet erwachsen! Wir müssen jetzt mal aufhören mit diesem pädagogischen Zeugs. Das Fliegen muss teurer werden usw.“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat mit „Wir schaffen das“ doch eine Art Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede gehalten. Das hat ihr politisches Ende eingeläutet. Vielleicht sind deshalb die Politiker so vorsichtig.

Sie haben völlig recht, aber das kann ja kein Grund sein. Man kann sich doch nicht ernsthaft als Politiker wahrnehmen, wenn man meint: „Wenn ich das sage, dann sind mir alle böse.“ Wir erwarten von Menschen in der politischen Klasse doch, dass sie etwas mit Überzeugung tun und nicht nur das, was umfragegestützt ist.

"Das Problem ist, dass die etablierte Politik keine Zukunftsbilder anbietet. Es gibt nur Technikutopien mit Smart-Cities oder Ähnlichem, es geht immer nur um Optimierung und Innovation, aber das ist etwas völlig anderes als Fortschritt." 

Harald Welzer

FALTER: Sie behandeln die großen Themen Klimakrise und Angriff der Demokratie der Rechten. Hängen die beiden Themen zusammen?

Das Problem ist, dass die etablierte Politik keine Zukunftsbilder anbietet. Es gibt nur Technikutopien mit Smart-Cities oder Ähnlichem, es geht immer nur um Optimierung und Innovation, aber das ist etwas völlig anderes als Fortschritt. Die Politik zeichnet kein Bild davon, wo die Gesellschaft hin will, wie wir zukunftsfähige Industriepolitik machen, wie wir eine moderne Gesellschaft unter ökologisch ganz anderen Bedingungen schaffen. Die Leute sehen Klimakrise, Digitalisierung, Globalisierung, in der mächtige Nationen viel stärker werden als die EU. Sie nehmen die Veränderung zur Kenntnis, aber sehen kein politisches Angebot, das irgendwie in die Zukunft weist und ihnen eine attraktive Zukunft verspricht vor dem Hintergrund dieser Krisenphänomene.

Was hat das mit dem Rechtspopulismus zu tun?

Die Rechtspopulisten bieten den Wählern im Gegensatz zu den anderen etwas an. Sie kommen mit ihrem Retrotopia und machen vielen Menschen auf der emotionalen Ebene ein attraktives Angebot. Das Angebot heißt Ausgrenzung, und das ist deshalb attraktiv, weil es immer die Aufwertung derer bedeutet, die nicht von der Ausgrenzung betroffen sind. Das ist der simple Trick, der seit 100 Jahren großartig funktioniert. Sie hatten ja bis vor kurzem selbst eine anti-internationalistische Regierung, die gegen die Moderne, die Menschenrechte und gegen das zivilisatorische Projekt gerichtet war. Sie hat ein Gesellschaftsmodell favorisiert, das wir Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinter uns gelassen zu haben glaubten. Österreich ist Retrotopia. Ein Albtraum.

Fordern Sie von der Politik eine Utopie?

Nein, nur etwas, das die Gegenwart überschreitet. Wir brauchen eine andere Mobilität, eine völlig andere Energiewirtschaft, eine Reduzierung des Konsums. Das muss ich attraktiv übersetzen, das ist eine politische Aufgabe, die aber niemand übernimmt. Natürlich wird der Klimawandel die Welt sehr stark verändern. Aber das ist ja nicht der Untergang der Welt, sondern eine Veränderungsnotwendigkeit, die man vielleicht auch positiv umdrehen kann.

Die Thesen

Punkt 1

Wissenschaft ist ein strukturkonservatives Betriebssystem

Wirtschaftswissenschaft sei im strengen Sinn keine Wissenschaft, wenn man polemisch argumentiert. Der Mainstream der Wirtschaftswissenschaft hat in den letzten dreißig Jahren nur kommentiert, was vor sich geht. Lehrmeinungen pflegen dann auszusterben, wenn die Fachvertreter tot sind, zitiert Welzer Max Planck. Wissenschaft ist ein extrem strukturkonservatives Betriebssystem.

Punkt 2

Andere Bilder entwickeln

Welche Welt will man haben? Mit welcher Form von Gesellschaftlichkeit möchte man diese Welt gestalten? Was will man unbedingt behalten, was muss man loswerden und was braucht man dazu? Zukunft kann man nicht erforschen, man kann sie allenfalls gestalten. Es geht immer darum, dass die Verhältnisse zwischen den Menschen besser werden.

Punkt 3

Gesellschaft wie Lego denken

Mit Lego lässt sich mit wenigen Bausteinen bauen, was auch immer man will, zudem kann man alles stets wieder auseinandernehmen. Das bedeutet Fehlerfreundlichkeit. Man muss Gesellschaft so bauen, dass man Dinge wieder zurücknehmen kann, wenn sie sich als falsch herausstellen. Zudem ist Resilienz gefragt: Wir brauchen Strukturen, auch Infrastrukturen, die unter Krisenbedingungen funktionieren.

Das dazugehörige Stadtgespräch
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