Interview

Lisa Herzog 

Raus aus dem darwinistischen Dschungel 

Gespräch: Barbara Tóth

FALTER:  Nr. 40/2020

Erscheinungsdatum: 30. September 2020

Portrait Lisa Herzog © Sylvia Germes
© Sylvia Germes
Zur Person

Lisa Herzog studierte Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an den Universitäten München und Oxford. Seit Oktober 2019 lehrt sie an der Universität Groningen (NL)

Lisa Herzogs Karriere kennt viele „Die Erste“- und „Die Jüngste“-Momente. Sie war eine der jüngsten Philosophieprofessorinnen Deutschlands (mit 32), sie war die erste Frau, die den Tractatus-Preis des Philosophicum Lech erhielt (mit 35, im Jahr 2019). Herzogs Schwerpunkte sind politische Philosophie und Ökonomie, ihr Buch „Die Zukunft der Arbeit“ stand wochenlang auf der Sachbuch-Bestenliste und machte sie zur Vordenkerin einer sozialeren, gemeinwohlorientierten, fairen Arbeitswelt. 


FALTER Frau Professor Herzog, Ihr Buch „Die Rettung der Arbeit“ könnte nicht aktueller sein, überall in Europa bemühen sich Regierungen, Arbeitsplätze zu retten, mit immer neuen Hilfspaketen, mit der Verlängerung der Kurzarbeit – sind es am Ende die falschen Instrumente? 

So pauschal lässt sich das nicht sagen. Die Politik versucht vor allem, Bestehendes zu bewahren. Sie agiert im Notfallmodus und versucht, Schäden zu minimieren. In meinem Buch schlage ich dagegen vor, Arbeit anders zu gestalten, besser, gerechter. Themen wie Demokratisierung, Befähigung der Arbeitenden oder alternative Firmenmodelle sind im Moment leider nicht auf der politischen Agenda.

Sind Krisenzeiten nicht auch Zeiten, auf die gesellschaftliche Umbrüche folgen? 

Am Ende von Krisenphasen stehen oft größere politische Verschiebungen. Nehmen Sie zum Beispiel die Einführung des Frauenwahlrechts am Ende des Ersten Weltkriegs. In Krisenphasen werden Selbstverständlichkeiten, die vorher unhinterfragt waren, als veränderbar erlebt, man merkt, es könnte auch ganz anders sein. Damit fallen gewisse Tabus, und das kann Machtverhältnisse verändern. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir auch aus dieser Krise etwas lernen und nachhaltige Veränderungen angestoßen werden. Denken wir nur an den Applaus und die Musik für die systemrelevanten Berufe. Bis dato gab es für diese Gruppe aber allenfalls einmalige Boni, keine strukturellen Verbesserungen.

Das Beispiel der Supermarktkassiererin bringen Sie gerne – aber nicht, um Ausbeutung zu zeigen, sondern dass Menschen auch in diesen Berufen glücklich sind, wenn die Rahmenbedingungen passen. Was braucht es also?

Es gibt eine sehr spannende Studie dazu, die zeigt, dass auch Supermarktkassiererinnen ihren Job gerne machen. Es geht ihnen nicht nur ums reine Geldverdienen, sondern auch darum, aus dem rein privaten Umfeld herauszukommen, in eine Art von Öffentlichkeit, und darum, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Wenn Sie etwas beklagen, dann nicht die Arbeit an sich, sondern die Bedingungen: zu wenig Mitsprache, Wertschätzung, Rückgriff auf ihre Erfahrungen und Wissen. Das ist auch mein Ansatz. Arbeit ist mehr als kapitalistisches Geldverdienen, es ist ein sozialer Akt, den wir mit anderen Menschen teilen wollen.

Deswegen sind Sie auch gar keine flammende Befürworterin eines bedingungslosen Grundeinkommens? 

Genau. Ich finde es wichtiger, um es mal in ein Wortspiel zu fassen, statt Leute von der Arbeit zu befreien, die Arbeit zu befreien. In dem Sinne, dass sie gerechter und stärker partizipativ und demokratisch gestaltet wird. Der überraschendste Zuspruch zum Grundeinkommen kommt ja aus den Vorstandsetagen des Silicon Valley. Da deuten sich aber sehr düstere Szenarien an: Stellen wir uns vor, es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen auf einem niedrigen Niveau, das alle anderen Sozialleistungen ersetzt und den Firmen erlaubt, sich aus aller Verantwortung herauszustehlen mit dem Argument: Wer nicht bei uns arbeiten will, kann ja mit dem bedingungslosen Grundeinkommen leben. Die wirtschaftliche Macht konzentriert sich dann ganz stark auf der Kapitalseite, die Kontrolle der Produktionsmittel ist in der Hand ganz weniger, weite Teile der Bevölkerung sind davon abhängig, dass Firmen weiterhin bereit sind, ihre Steuern zu zahlen. Das würde die politischen Abhängigkeitsverhältnisse doch noch einmal massiv verändern. 

Ich finde es wichtiger, um es mal in ein Wortspiel zu fassen, statt Leute von der Arbeit zu befreien, die Arbeit zu befreien.

Lisa Herzog

FALTER Was ist Ihre Alternative?

Interessanter als das bedingungslose Grundeinkommen finde ich die Idee einer Jobgarantie. Also öffentliche Beschäftigungsoptionen zusätzlich zur Grundsicherung, zum Beispiel im Sozial- oder Umweltbereich. Wer seinen Job verliert, kann sich dann dort einbringen und weiterentwickeln.

Klingt ein wenig nach real existierendem Sozialismus, würde eine Marktliberale jetzt sagen.

Das stimmt aber nicht, denn es käme ja zu keiner Verstaatlichung, die Privatwirtschaft bliebe ja bestehen. Umgekehrt kommt von linker Seite oft die Kritik, meine Vorschläge würden nicht weit genug gehen, weil ich nicht dafür bin, alle Produktionsmittel komplett zu verstaatlichen und ganz auf die Privatwirtschaft zu verzichten. Aber ich glaube, dass Märkte massiv eingehegt werden müssen, dass immer das Primat der Politik gelten muss und dass durchaus mehr in der öffentlichen Hand passieren kann, als wir das in den letzten Jahrzehnten angenommen haben.

Ist eine 35-Stunden-Woche für Sie eine Antwort?

In der besten aller möglichen Welten wäre es so, dass Menschen flexibel entscheiden könnten, wie viele Wochenstunden oder auch wie viele Wochen im Jahr sie arbeiten wollen. Aber de facto ist es so, dass bei diesen Fragen oft starker sozialer Druck herrscht. Deswegen sind allgemein verbindliche Regeln wie die 35-Stunden-Woche sinnvoll, auch weil sie die Fragen nach der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und anderen Formen von Arbeit und damit die Geschlechtergerechtigkeit positiv beeinflussen könnten.

Wenn wir Arbeit nur als sozial und als wechselseitiges Gemeinschaftsprojekt verstehen, wo bleibt dann der Antrieb durch Konkurrenz und Ehrgeiz? 

Wir haben in vielen Berufen eher das umgekehrte Problem, dass es zu viel Wettbewerb und zu viel Druck gibt. Aus der Forschung heraus ist unklar, ob uns Wettbewerb positiv antreibt oder eher dazu führt, Wege abzukürzen oder Konkurrenten zu schaden – klar ist aber, dass gerade für kreative Tätigkeiten und für alle Arbeiten, die intrinsische Motivation benötigen, Druck von außen eher schädlich ist. Ohne ein gewisses Maß an Wettbewerb wird es in vielen Bereichen sowieso nie gehen, allein schon deswegen, weil es mehr Bewerber für begehrte Positionen gibt, als wir tatsächlich Leute in bestimmten Jobs brauchen. Das kann produktiv sein, wenn es darum geht, die besten Bewerber für bestimmte Positionen zu finden. Aber so wie Wettbewerb in vielen Bereichen in den letzten Jahrzehnten verstanden und gelebt wurde, war es ein allumfassender Kampf aller gegen alle, wie in einem darwinistischen Dschungel, und das ist weder produktiv noch gerecht.

Ein Rezept dagegen, das Sie zur Einhegung vorschlagen, nennt sich „Workplace Democracy“. Unternehmen sollen sich digital selbst organisieren, Mitarbeiter ihre Chefs wählen können. Aber wollen das auch die Chefs? 

Gute Chefinnen und Chefs sollten eigentlich keine Angst davor haben, von ihren Mitarbeitenden auch gewählt zu werden! Digitale Mittel können einfach die Transaktionskosten senken und Abstimmungen erleichtern und damit hierarchische Strukturen an vielen Stellen unnötig machen. Im Alltag erlebt man das inzwischen ständig: dass man sich über Chats schnell abstimmt, Informationen austauscht, Aufgaben verteilt. Das wird in vielen Firmen längst gemacht. Die Frage ist aber immer, wer letztlich das Sagen hat. Die Digitalisierung führt sicher nicht automatisch zu mehr Demokratisierung und Partizipation. Aber wenn man die Frage umgekehrt stellt und fragt, was hindert uns denn daran, Firmen demokratischer zu gestalten, heißt es oft: Das funktioniert nicht, Entscheidungsprozesse dauern viel zu lang. Da kommt die Digitalisierung ins Spiel, denn sie bietet so viele Möglichkeiten des Teilens von Informationen und der Transparenz. Das wäre zu Zeiten der Papieraktenstapel so gar nicht gegangen. Wir unterschätzen da vielleicht auch manchmal, wie anders die Arbeitsweisen schon sind.

Sie stehen gedanklich linken Parteien sicher näher als konservativen, aber wie stehen Sie zu traditionellen Mitbestimmungskonzepten wie Betriebsräten und Gewerkschaften?

Das sind unglaublich wichtige historische Errungenschaften, die aber auch weiterentwickelt werden müssen und können. Ich glaube, wir brauchen eine Zusammenführung von unterschiedlichen Dingen, die im Moment nebeneinanderher existieren: einerseits die etablierten Mitbestimmungsstrukturen und andererseits all diese neuen Ansätze wie Holocracy, die sich oft auch digital unterstützen lassen. Der große Wert der traditionellen Mitbestimmung und des Gewerkschaftswesens ist, dass sie wirklich Rechte eingefordert haben. Und ohne gesicherte Rechte, die man auch einklagen kann, werden auf Dauer all diese digitalen, schönen partizipativen Methoden unsere Welt nicht wirklich verändern, weil die Geschäftsleitung immer dann, wenn es irgendeine heikle Entscheidung zu treffen gibt, sagen kann: An der Stelle machen wir das nicht so. 

Für Sie sind anonyme Whistleblower Helden, große Wirtschaftskapitäne aber nicht. Wieso? 

Wenn man sich anschaut, wie über bestimmte Leute aus der ­Hightechindustrie berichtet wurde, ist das, als wären das die neuen Royals. Die Art und Weise, wie Einzelne herausgehoben werden, verkennt, dass Menschen ihre Rolle nur ­einnehmen können, weil andere Menschen ­andere Aufgaben erfüllen und ihnen den Rücken freihalten. Wir arbeiten in ­sozialen ­Kontexten und bauen auf dem auf, was andere schon gemacht haben. In der Wissenschaft wurden viele Durchbrüche ­historisch ­parallel von mehreren Personen erreicht. Wenn Mark Zuckerberg Facebook nicht ­gestartet ­hätte, bin ich mir ziemlich sicher, dass andere etwas Ähnliches gestartet hätten. Und Whistle­blower sind für mich die ­wahren Helden, weil sich in großen, ­komplexen, arbeitsteiligen Systemen Formen von Missbrauch sehr lange halten können. Es kommt zu Komplizenschaft und ­Gruppendenken. Es ist oft sehr viel einfacher, da mitzuschwimmen, als zu sagen: „Hej, das ist einfach falsch und ich sage das jetzt öffentlich.“

Warum profitieren sozialdemokratische Parteien so wenig von den Krisen der letzten Jahrzehnte?

Die Sozialdemokratie hatte sich in vielen europäischen Ländern auf ein eher marktfreundliches Programm eingelassen, damit ging der sozialdemokratische Markenkern verloren. Vielleicht ist auch ein Faktor, dass die Sozialdemokratie immer auch daran erinnert, dass man als Mensch ein Gemeinschaftswesen ist und dass es auch den gemeinschaftlichen Einsatz für die eigenen Rechte braucht. Da steckt vielleicht für manche Menschen eine gewisse Kränkung ihrer Eitelkeit drin. Nach dem Motto: Du schaffst es nicht alleine. Das ist ja das, was uns der neoliberale Zeitgeist jahrelang eingeimpft hat: dass man für sich alleine kämpfen müsse. Ich frage mich, ob sich das nicht langsam ausgewachsen hat und diese hyperindividualistische Botschaft an Attraktivität verloren hat. Bei Corona war ja auch sehr klar: Wir sind alle Teil einer Gesellschaft. Sogar Boris Johnson hat, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, festgestellt, dass der alte Spruch von Margaret Thatcher nicht stimmt, und öffentlich gesagt: „There is such a thing as society.“

Das dazugehörige Stadtgespräch
Weitere Interviews & Artikel