Gespräch: Barbara Tóth
FALTER: Nr. 16/22
Erscheinungsdatum: 19. April 2022
Der Journalist Peter Huemer ist einer der erfahrensten und besten Gesprächsmacher des ORF. Warum ein guter Austausch nie unter 45 Minuten dauern soll und wann selbst die beste Vorbereitung einem nicht mehr weiterhilft. Bevor man mit Peter Huemer zu sprechen beginnt, würde man sich am liebsten eine Führung durch seine Wohnung in der Wiener Leopoldstadt wünschen, die er mit seiner Frau Friedrun bewohnt. Die Wände voller Bilder und Grafiken, die Regale voller Souvenirs. Die Sitzecke im Wohnzimmer erinnert entfernt an jene im berühmten „Club 2“, den Huemer elf Jahre lang moderierte. Wo am besten Platz nehmen? Huemer wählt ein Fauteuil mit Blick in den Raum, in seinem Rücken zwei großzügige Kastenfenster. Das Gespräch wird deutlich länger als 45 Minuten dauern.
Peter Huemer: Interviewen ist Arbeit. Interviewt werden viel weniger, weil ich nicht weiß, in welcher Weise ich mich dafür vorbereiten soll. Beim Interviewen gibt es eine Schwelle, wo es von Quantität in Qualität umspringt. Was unter 45 Minuten liegt, ist in der Vorbereitung halbwegs schnell erledigt. Ab 45 Minuten artet es in Arbeit aus.
Das ist meine Erfahrung. Ich arbeite gerade an einer Podcast-Serie, da sind 20 Minuten das Limit. Damit komme ich hinten und vorn nicht aus. Wenn man interessante Gesprächspartnerinnen und -partner hat, ist das eine Zumutung. Bei 20 Minuten kann man einen oder zwei Gedanken verfolgen. Aber mehr ist nicht drinnen. Ab 45 Minuten wird es komplex.
Peter Huemer
Peter Huemer: Zunächst einmal lese ich. Bücher, Artikel, alles, was ich im Internet finde über die Person und von der Person. Gelegentlich rede ich auch darüber mit anderen. Aber im Großen und Ganzen ist es ein einsames Geschäft, ich mache das allein und überlege mir einen Ablauf. Und dieser Ablauf hat in sich eine innere Logik.
Nein. Wobei ich nicht sagen will, dass ein Gespräch gelungen ist, wenn der Ablauf halbwegs eingehalten wird. Denn meistens wird er über den Haufen geschmissen und das Gespräch setzt sich dann ganz anders zusammen.
Es gibt einen ganz wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen Gruppengespräch und Einzelgespräch. Beim „Club 2“ haben wir uns vorher die Dramaturgie genau überlegt, wer welche Rolle und welche Position in diesem Gespräch übernehmen wird. Funktioniert hat es, nun, ich würde nicht sagen fast nie, aber sehr, sehr häufig nicht, weil die Gruppendynamik in keiner Weise vorhersehbar war. Das ist nicht wirklich berechenbar. Ein Beispiel: Da hat es einen bestimmten Sessel gegeben. Der war etwas flacher und schräg eingeschoben. Auf dem Sessel ist im Regelfall der oder die gesessen, der oder die beim Niedersetzen übrig geblieben ist. Und deren Verhalten war noch weniger vorhersehbar.
Ja. Nur der Moderator bzw. die Moderatorin hat seinen/ihren Platz gehabt. Nenning ist immer im Gugelhupf gesessen, das war ein großer Sessel am Kopfende. Ich bin immer auf einer Sitzbank gesessen.
Es gab bestimmte Konstellationen. Ging es zum Beispiel um das geplante und dann nie in Betrieb genommene Atomkraftwerk Zwentendorf, haben sich Gewerkschafter und Industriemenschen immer nebeneinandergesetzt, weil sie eine gemeinsame Front gebildet haben. Auf dem Einzelstuhl …
… für den gab es sehr oft zwei Varianten. Entweder hat der, der dort saß, das Gespräch energisch an sich gerissen und dominiert oder – wenn das nicht gelungen ist – hat sich zurückgelehnt und ist gekränkt ausgefallen. Das war im Übrigen der Reiz für das Publikum: Es war nichts exakt vorhersehbar. Gelegentlich ist es wirklich schiefgegangen und wir haben nicht viel dafürkönnen. Und gelegentlich ist es großartig gelungen und wir haben auch nicht viel dafürkönnen. Der Live-Charakter des Gesprächs war ganz wichtig, weil das Publikum gewusst hat: Was immer passiert, es passiert jetzt! Und die auf dem Küniglberg können nichts dagegen tun. Und wir schauen zu. Das war neu.
Nicht nur. Das Fernsehen war damals wie eine feste Burg. Da ist keiner hineingekommen, der nicht irgendwie legitimiert war. Und dann gab es diese Sendung, wo die Gäste von überall kamen und tun konnten, was sie wollten. Das war Teil einer kulturellen Revolution. Eigentlich mit Verspätung. Der „Club 2“ hängt mit Ideen von 1968 zusammen, aber begonnen hat er im Herbst 1976. Die deutschen Anstalten waren noch später dran und wir waren Vorbild. Die Schweizer haben sogar die Größe des Teppichs bei uns vermessen.
Zwei Dinge waren da ganz anders: Es war unwichtig, ob es live war. Und die riesige Erleichterung, dass das Gelingen oder Nichtgelingen dieses Gesprächs vollständig in meiner Hand liegt. Ich allein bin verantwortlich. Es kann kontroversiell sein oder weniger kontroversiell, kann in eine Streiterei führen – egal. Aber ob es gelingt oder nicht gelingt: ich bin ganz allein selber schuld. Und sonst nichts und niemand. Darüber war ich froh.
Die Chemie muss nicht passen.
Es gab im „Club 2“ eine Falle: Wenn einem jemand unsympathisch ist und wenn man noch dazu seine oder ihre Position in keiner Weise teilt, muss man als Moderator höllisch aufpassen, damit man nicht zu rücksichtsvoll mit der unangenehmen Person umgeht. Das ist meine Erfahrung, weil im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Fairness oberstes Gebot ist. Und dann übertreibt man.
Wenn sich abzeichnet, dass die Meinungen auseinandergehen, dann ist es so und passt schon. Das Format „Im Gespräch“ ist ja kein Verhör, kein Interview, bei dem man sich selber so weit als irgendwie möglich zurückhält und nur die Position des anderen kennenlernen will. Mir war immer wichtig: Da sitzen zwei Gesprächspartner einander gegenüber und reden miteinander. Das ist eine andere Aufgabe als die des Moderators im „Club 2“.
Viele. Aber im Augenblick fällt mir das mit einer Extrembergsteigerin ein, von der mir Reinhold Messner erzählt hat. Eine Professorin an der Uni Innsbruck, die sich mit dem Bergsteigen aus feministischer Sicht befasst hat. Also „den Berg besteigen oder bezwingen“ und all diese männlichen Formulierungen, die man eins zu eins von Berg auf Frau umlegen kann. Ich fand das spannend und bin mit diesen Zitaten eingestiegen. Nach drei, vier Minuten hat sie zu mir gesagt: Wissen Sie, ich habe mich mit diesen Fragen einmal befasst, irgendwie hat sich das erschöpft und es interessiert mich eigentlich heute nicht mehr. Da hatten wir noch mehr als 50 Minuten vor uns. Mein Konzept konnte ich wegschmeißen und ich hab mich gefragt: Was wird das jetzt? Auf dieses Gespräch war ich nachher stolz.
Ja. Wir haben darüber geredet, dass es am Berg, wenn du in der Wand hängst, keine Vergangenheit gibt – das ist klar, es gibt aber auch keine Zukunft. Das heißt, du machst jetzt diesen Griff und es gibt nur diesen Griff und sonst nichts. Wenn du, während du das tust, an den nächsten oder gar den übernächsten Griff denkst, fällst du hinunter. In dem Moment, in dem man agiert, gibt es nur Gegenwart. Das zum Beispiel habe ich in dem Gespräch von einer Extrembergsteigerin gelernt.
Wenn überhaupt! Ihre Schlussfolgerung ist gut. Vergleichsweise wenig, aus dem einfachen Grund, weil ich kann, wenn es so weit ist, dem lieben Gott sagen, das habe ich nach elf Jahren „Club 2“ und 14 Jahren Radiogespräche wirklich abgedient.
Ich habe eine Theorie über die Bedeutung des öffentlichen Redens. Der „Club 2“, der 1976 begonnen hat, ist noch in eine Phase des historischen Optimismus gefallen, das heißt: 1945 war die Gesellschaft wirklich arm, aber es ist allmählich immer besser geworden. Es ging aufwärts. Und nach dem Wirtschaftswunder in der zweiten Hälfte der 1950er kamen neue Ansprüche dazu. Die Gesellschaft wollte sich nicht mehr derart bevormunden lassen. Es gab in den 60ern einen emanzipatorischen Schub in Richtung Demokratisierung, Transparenz, Abbau von autoritären und patriarchalen Strukturen.
Die 1970er-Jahre als sozialdemokratisches Jahrzehnt in Österreich, in der Bundesrepublik genauso, waren paradigmatisch. Vieles wurde freier und um diese Veränderungen ist heftig gestritten worden. Das ist ja auch gut und vernünftig in einer Demokratie. Und weil so heftig darüber gestritten wurde, hat das Wort eine besondere Bedeutung gehabt. Denn bevor sich was ändert, denkt man darüber nach und dann redet man darüber und dann streitet man darüber. Und dann merkt man, dass sich aufgrund dieser Auseinandersetzung das oder das ändert oder nicht ändert. Jedenfalls kommt dem Wort eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Gesellschaft ist veränderbar. Darauf kommt es an und das hat sich in den Talkshows niedergeschlagen. Der „Club 2“ schien ja unglaublich wichtig zu sein. Ganz so wichtig war er letztlich nicht.
Und dann kam, was wir jetzt als Neoliberalismus zusammenfassen. Nicht die Politik ist entscheidend für unser Leben, sondern die Ökonomie. Es geht um ökonomische Vernunft. Damit einher ging eine Entmachtung des Politischen zugunsten des Ökonomischen. Dabei sind die Armen ärmer geworden und die demokratiepolitisch wichtige Schicht des Mittelstandes begann allmählich zu zerbröseln. Das hat bei vielen Menschen zu einer starken Entmutigung, Desillusionierung, Verbitterung geführt. Warum gibt es im Netz so irrsinnig viel Hass in der Gesellschaft? Das hängt mit dieser Entwicklung zusammen. Und Talkshows haben ihre frühere Bedeutung verloren, sie sind nicht mehr so wichtig. Weil Wörter als Motor der Veränderung nicht mehr wichtig sind. Das bezeichne ich als Phase des historischen Pessimismus. Immer mehr Menschen spüren, dass sie ohnmächtig sind. Und Talkshows sind es auch.
Sicherlich. Vielleicht ändert sich auch gerade was. Man neigt im fortgeschrittenen Alter dazu, möglicherweise einen nostalgisch gefärbten Blick nach hinten zu werfen – sollte man nicht tun – und nach vorn mehr Finsternis zu sehen. Weil man sich selber immer weniger auskennt. Aber mir scheint – und da bin ich nicht allein –, dass wir mit dem russischen Überfall auf die Ukraine in eine schwer vorhersehbare Zukunft schlittern, weil sich jetzt vier globale Krisen aufeinandertürmen. Am gefährlichsten ist die drohende Klimakatastrophe, weil sie das Fortleben der Spezies insgesamt infrage stellt und unklar ist, ob wir die geforderte Lebensumstellung ohne die größten Verwerfungen schaffen. Dann die Pandemie, deren Ende nicht wirklich absehbar ist, wobei Experten meinen, eine nächste könnte aufgrund von Globalisierung und unseres Lebensstils bald folgen. Dann der gegenwärtige Krieg selbst, der nicht nur die Ukraine und Russland schwer beschädigt, sondern weltweit das Zusammenleben. Und nach dem Krieg eine Energie- und Wirtschaftskrise, deren globale Folgen auch nicht absehbar sind.
Man braucht schon so viel historischen Optimismus wie ich. Wer 1941 geboren ist, den Krieg ohne größere Beschädigung überstanden hat und ebenso Hunger und Frieren der Nachkriegszeit, weil er ja im Gegensatz zu den Erwachsenen keinen Vergleichsmaßstab hatte, wer dann erlebt hat, wie es immer besser wird, der hat zu hoffen gelernt für sein ganzes Leben.
Es gibt eine ganz konkrete Angst, die ich für die Zukunft meiner Kinder und Enkel habe, und das ist das Modell des chinesischen Überwachungskapitalismus. Wenn Hitler oder Stalin diese technologischen Möglichkeiten gehabt hätten, wären wir aus deren Diktaturen nie herausgekommen. In gewisser Weise ist das eine Mischung aus Huxley und Orwell, aber ein bisschen mehr Huxley, indem es ja auch um das angebliche Wohlbefinden der Bürger geht. Aber wenn der sich wehrt: dann Orwell brutal. Wenn dieses chinesische Modell sich auf der Welt durchsetzt, dann sehe ich schwarz.
Ungarn zeigt, dass es auch unter ursprünglich demokratischen Bedingungen schiefgehen kann. Aber solange wir in Österreich eine funktionierende Demokratie haben, wird dieses öffentlich-rechtliche System als eine unabdingbare Notwendigkeit bestehen müssen. Und wenn es nicht mehr besteht, dann ist das ein Signal dafür, dass die Demokratie in Österreich einen ganz schweren Schaden erlitten hat. Die Verantwortung liegt bei allen, die das System tragen. In der Führung des ORF sowieso, aber gefordert sind natürlich auch die journalistischen Mitarbeiter. Es hat ja immer den versuchten Zugriff der Politik gegeben.
Nie abstrakt anfangen. Nie mit dem großen Ganzen anfangen. Aus einem einfachen Grund: Am Anfang ist man, weil es der Anfang ist, noch nicht drinnen, und man ist auch noch „kalt“. Das heißt, am Anfang muss man möglichst mit etwas Konkretem anfangen, mit einer „kleinen“ Frage, die sich einfach beantworten lässt. Denn in dem Moment, wo jemand anfangs auf das große Ganze angesprochen wird, kommt der ins Schwadronieren.
Es gab einmal einen „Club 2“ über die Moral der jungen Leute Anfang der 1980er-Jahre. Damals hörte dieses 70er-Jahre-Durcheinandervögeln angeblich bei den Jungen wieder auf. Die Treue habe wieder einen höheren Stellenwert, hieß es. Da saß ein junger Mann drinnen und ich habe den „Club 2“ damit eröffnet, dass ich ihn gefragt habe: Ich höre, Sie wollen eine Jungfrau heiraten. Daraufhin hat der gesagt: Ja. Warum?, habe ich gefragt, und er hat das begründet, und gegenüber saß eine junge Feministin, die sofort explodiert ist. Und wir waren mitten im Gespräch.
Versöhnlich gehen Streitgespräche selten aus. Conclusio? Kann sein. Wenn es in der Gruppe sehr durcheinandergegangen ist, kann das am Schluss sinnvoll sein. Aber wenn man zu zweit ist, meine ich, dass der eine Gesprächspartner nicht am Ende mit einer Zusammenfassung sein Gegenüber zu sehr überwölben sollte. Wenn ich davon ausgehe, dass sich zwei Gleichberechtigte unterhalten – darum ist es ja kein Interview – dann sollte sich der eine nicht am Schluss wichtig machen und eine andere Rolle einnehmen.