Interview

Stephan Schulmeister

Gegen das neoliberale Paradigma – der Ökonom will Teil einer Gegengegenaufklärung sein

Gespräch: Josef Redl

FALTER:  Nr. 45/2018

Erscheinungsdatum: 13. November 2018

Stephan Schulmeister beim 46 Wiener Stadtgespräch © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Stephan Schulmeister forscht seit 35 Jahren über das Verhältnis von Real- und Finanzwirtschaft, insbesondere über Finanzspekulation, über die – daraus resultierenden – „manisch-depressiven“ Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen und Zinssätzen und deren Folgen für die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und (damit) für die Entwicklung der Gesamtwirtschaft. 2018 erschien sein Buch „Der Weg zur Prosperität“, in dem er einen neuen theoretischen Rahmen zur Erklärung der systemischen Krisenursachen entwirft.

Wirtschaftsforscher, Uni-Lektor, Hobby-Journalist“. So lautet die Selbstbeschreibung auf Stephan Schulmeisters Twitter-Profil. Man könnte durchaus ergänzen: Schulmeister ist Buchautor, zuletzt veröffentlichte er seine umfangreiche Neoliberalismuskritik „Der Weg zur Prosperität“. Als Mitinitiator des Volksbegehrens „Sozialstaat Österreich“, einer Reaktion auf die erste schwarz-blaue Regierung, kann er getrost auch als politischer Aktivist bezeichnet werden. Stephan Schulmeister ist längst selbst zu einer polarisierenden österreichischen Medienfigur geworden, die mit Videoanalysen zum Wirtschaftsprogramm der Regierung hunderttausende Zuseher erreichen kann.


FALTER: Herr Schulmeister, die Widmung Ihres Buches lautet „Den Neoliberalen in allen Parteien, in den Medien und in der Wissenschaft“. Warum?

Das bezieht sich auf die Widmung, die Friedrich August von Hayek seiner neoliberalen Bibel „Der Weg zur Knechtschaft“ gegeben hat: „Den Sozialisten in allen Parteien“. Das ist die Retourkutsche. Was Hayek meinte, war klar: Nicht nur sozialistische Planwirtschaft, sondern auch institutionalisierte Solidarität und Sozialstaatlichkeit würden den Weg zur Knechtschaft ebnen. Dass „sozialistische“ Gedanken alle Parteien, auch die Konservativen, infiziert habe.

Sie beschreiben Hayek als einen, der nicht nur Theorien entwickelt hat, sondern auch eine politische Absicht verfolgt hat.

Eine ökonomische Theorie verändert ihr Objekt, die Realität, wenn sie sich einmal durchgesetzt hat. Eine astrophysikalische Theorie verändert den Lauf der Gestirne nicht. Hayek vertritt ja auch ganz klar eine Stoßrichtung gegen den Sozialstaat. Gegen die Regulierung der sogenannten Arbeitsmärkte und daher gegen Arbeitnehmerschutz. Das ist für mich eine ganz klare politische Positionierung.

Ihre Analysen kann man bisweilen auch als politische Positionierung verstehen, zum Beispiel gegen den Neoliberalismus. Ist es für den eigenen ökonomischen Befund wichtig, einen Gegenspieler zu bemühen?

Nicht unbedingt. Aber in den Zeiten, in denen wir jetzt leben, ist es meiner Meinung nach unbedingt erforderlich. Die schrittweise Beschädigung und in letzter Konsequenz vielleicht sogar Zerstörung des europäischen Sozialmodells wurde auf Basis der neoliberalen Navigationskarte vorangetrieben. Das war ja das erklärte Ziel von Hayek: über die Entwicklung ökonomischer Theorien und deren Propagierung durch Think-Tanks Schritt für Schritt das Orientierungssystem der Eliten zu verändern. In den 50er- und 60er-Jahren basierte das Orientierungssystem der Eliten im Wesentlichen auf der keynesianischen Navigationskarte. Eine ökonomische Theorie, die danach strebte, Polaritäten in der Gesellschaft auszugleichen. Staat und Markt, Ökonomie und Politik, Unternehmerschaft und Gewerkschaft werden nicht als erbitterte Gegner, sondern als einander ergänzende Pole begriffen. John Maynard Keynes sprach sich in der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre für das Deficit-Spending aus. Also dafür, dass der Staat in einer Rezession durch Investitionen die Wirtschaft ankurbelt. Der Spiegel hat über den italienischen Budgetentwurf kürzlich getitelt: „Die Erpressung – Italien greift an. Europa droht die nächste Schuldenkrise“.

"Das Spiel der Finanzmärkte
lautet: Je mehr mein Partner
verliert, desto mehr gewinne ich"

Stephan Schulmeister

FALTER: Warum wird das Thema Staatsverschuldung oft so polemisch diskutiert?

Wenn eine Finanzkrise in allen Ländern die Staatsverschuldung steigen lässt, ist es grotesk zu sagen: Der Staat ist an der Verschuldung schuld und muss sparen. Der Staat ist Teil eines ökonomischen Gesamtsystems. Kracht ein Sektor, dann steigt die Staatsverschuldung zwangsläufig. Der Staat kann nur Überschüsse machen, wenn ein anderer Sektor Defizite macht, im besten Fall sind das Unternehmen in Form von Investitionskrediten. Ist das nicht der Fall, wird das ganze Sparen nichts nützen. Das ist der eindeutige Befund dessen, was in Südeuropa passiert ist. Spanien und Portugal haben ja 2012, 2013 die Fiskalregeln vollkommen ignoriert – Gott sei Dank!

Warum die Aufregung bei Italien?

Weil die Italiener laut schreien! Das hat zwar Yanis Varoufakis in Griechenland auch gemacht. Der Unterschied ist, dass Italien das zehnfache Gewicht hat. Daher kann Italien relativ unbekümmert sein. Populistische Politiker wie Matteo Salvini wollen ja nichts anderes, als dass die Italiener möglichst gedemütigt werden. Salvini hätte es am liebsten, wenn die Italiener so behandelt würden wie die Griechen. Dann hat er die Chance, die italienische Bevölkerung so weit aufzuhetzen, dass die Menschen irgendwann wirklich aus dem Euro aussteigen wollen. Noch wollen ja 70 Prozent der Italiener in der Währungsunion bleiben. Die Lega und Salvini halten den Euro aber für ein Komplott der europäischen Zentralinstanzen.

Ist das italienische Budget also nur eine populistische Provokation?

Nein. Eine der Hauptschwierigkeiten der italienischen Wirtschaft der letzten zehn Jahre ist die viel zu schwache Binnennachfrage. Die Exporte schauen gar nicht so schlecht aus, die Leistungsbilanz ist positiv. Das ist ein Riesenunterschied zu Griechenland. Ein makroökonomischer Effekt des Budgets ist, dass die Kaufkraft der einkommensschwächsten Gruppe in Italien gestärkt wird. Das führt nicht dazu, dass mehr BMW importiert werden. Es werden aber mehr Güter des täglichen Bedarfs konsumiert. Das stärkt den Binnenkreislauf. Das Paradoxe in der medialen Debatte ist übrigens: Der umstrittenste Punkt im italienischen Haushalt ist ja dieses Grundeinkommen von 780 Euro für Arbeitslose. Dabei ist das ja nichts anderes als Hartz IV! Der Bezug ist verknüpft mit einer Arbeitspflicht. Wer das Grundeinkommen erhält, muss dann eben ohne Lohn in der Kommune die Parks reinigen oder Ähnliches.

Wie beurteilen Sie eigentlich die mediale Berichterstattung bei solchen Themen?

Wirtschaftsjournalisten sind leider oft nicht dazu in der Lage oder willens, sich in andere Erklärungen von Staatsschuldendynamik einzuarbeiten. Im konkreten Fall müsste man ja nur mit guten italienischen Ökonomen sprechen. Die Vorstellung, italienische Ökonomen wären lauter Trottel und die deutschen Ökonomen ausnahmslos Geistesgrößen, ist abwegig.

Die von Medien zitierten Experten haben auch oft eine ideologische Schlagseite. Ihnen haftet das Label des „linken Ökonomen“ an. Geht es nach der Presse, sind Sie sogar ein „ultralinker Ökonom“. Fühlen Sie sich zutreffend beschrieben?

Die These, dass ich ultralinks sei, ist im Grunde grotesk. Es gibt keinen einzigen Kommentar oder Aufsatz von mir, der unternehmerfeindlich wäre. Ich operiere in einem anderen Denksystem, in dem die Interessen von Real- und Finanzkapital völlig verschieden sind. Das ist nicht die Welt der Linken. Da gibt es die Unterscheidung von Kapital und Arbeit. Schon gar kein Linker bin ich bei der Frage der besseren Welt. Da folge ich im Grunde Hayek!

Inwiefern?

Er sagt, die Linken sind konstruktivistische Weltverbesserer. Das hat mit Jean-Jacques Rousseau begonnen, der aus meiner Sicht ein großes Unglück war. Rousseau hatte die Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus gut, nur die gesellschaftlichen Verhältnisse machten ihn schlecht. Das sind alles Vorstellungen, die mir ein Gräuel sind. Ich bin mit Leib und Seele ein Empiriker. Der Mensch ist ein ambivalentes Viech. Wir wissen nicht, ob der Mensch unter anderen Bedingungen wirklich gut würde. Ich persönlich glaube es nicht. Unterschiedliche gesellschaftliche Spielanordnungen fördern zwar eher das Anständigsein, aber nicht, weil der Mensch edel ist, sondern weil es sich auszahlt!

Zum Beispiel?

Warum haben die Menschen in den 50er- und 60er-Jahren mehr Rücksicht aufeinander genommen? Aus meiner Sicht: weil damals die Realwirtschaft dominiert hat. Ein guter Unternehmer wird immer die Interessen seiner Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden mitberücksichtigen. Ein Finanzspekulant spielt ein anderes Spiel. Das Spiel der Finanzmärkte lautet: Je mehr mein Partner verliert, desto mehr gewinne ich. Diese Art von Umverteilungslogik hat schleichend unsere Charakterstrukturen verändert. Wenn jeder nur seinem Egoismus folgt, dann wird eine unsichtbare Hand des Marktes alles zum Besseren lenken. Diese Vorstellung fördert das Herausfahren der Ellbogen. Dieser marktreligiöse Gehalt des Neoliberalismus ist mein Lebensthema. Ein Ergebnis der neoliberalen Indoktrinierung ist ja der Begriff des Gutmenschen. Die Konservativen haben das moralische Gutsein den Linken überlassen. Der Zyniker hat den Durchblick, und der Gutmensch hat keinen Durchblick – diese Schablone hat mit dem neoliberalen Weltbild außerordentlich viel zu tun. In diesem Sinne bin ich dann übrigens doch ein Linker. Sozial engagiert war ich immer. Nicht weil ich ein edler Mensch bin, sondern weil es mir guttut.

Sie beobachten seit Jahren ökonomische Krisen und deren Bewältigung. Sind Sie eigentlich ein Optimist?

Die Entwicklung der letzten 40 Jahre kann einen schon skeptisch machen. Das Ausmaß an Gegenaufklärung, an Verblödung und an medialer Macht, diese Verblödung zu nähren, ist gigantisch. Im Moment muss man schon ein sehr großer Optimist sein, um zu glauben, dass da wieder eine Gegengegenaufklärung kommen wird. Die also das leistet, was ab dem 18. Jahrhundert zunächst Intellektuelle und dann die Arbeiterbewegung geleistet haben: den Menschen ein konkretes Verständnis ihrer Lage zu vermitteln und auf Basis dieses Verständnisses ein gemeinsames Handeln zu organisieren. Dafür sehe ich derzeit keinen Ansatz.

Ist das ein politisches, ein mediales Versagen?

Das hat viele Gründe. Vordergründig ist klar, dass es ein Versagen der Sozialdemokratie ist. Seit mindestens 25 Jahren haben die Führer der Sozialdemokratie angesichts des unaufhaltsam scheinenden Fortschreitens des Neoliberalismus gesagt: Wenn du den Neoliberalismus nicht besiegen kannst, häng dich an. Neoliberal, aber ein bisschen sozial. Die Transformation der Sozialdemokratie in die Partei des kleineren Übels ist eine politische Großkatastrophe. Die Orientierungslosigkeit der Sozialdemokratie hat zu einem Verlust der eigenen Identität und Werte geführt. Ein richtiger Sozialdemokrat dürfte sich nicht einmal zehn Sekunden fragen, ob man die Kinderbeihilfe bei ausländischen Pflegerinnen kürzen soll. Und dann fangen führende Sozialdemokraten an, strategisch zu überlegen, wie das in der Kronen Zeitung rüberkommt. Das ist irrwitzig. Das ist nicht nur eine Frage der Intellektualität, sondern auch eine der Werte.

Sie haben sich in mehreren Videos kritisch mit der Arbeit der Regierung auseinandergesetzt. Die Videos hatten hunderttausende Zuseher. Haben Sie eine missionarische Seite?

Das war ein Versuch, der mit meinem Selbstverständnis als Hobbyaufklärer zu tun hat. Ich glaube nach wie vor, dass man die wesentlichen ökonomischen Zusammenhänge allgemeinverständlich erklären kann. Das ist vielleicht die mission impossible meines Buches: dass ich versuche, Nichtökonomen zu erklären, wie Ökonomen ticken. Aber natürlich möchte ich auch die Ökonomen erreichen. Ersteres ist mir ein bisschen gelungen, Letzteres vorläufig gar nicht.

Warum nicht?

 In der Ökonomie gibt es einen Mainstream, der unglaublich mächtig geworden ist. Die Herde ist so groß und reproduziert sich seit 40 Jahren selbst. Die Frage lautet: Wie bringe ich jemanden mit einem festgefahrenen Weltbild dazu, dass sich der Zweifel erhebt? Der Zweifel ist etwas ganz Wichtiges, etwas Destruktives. Damit der Zweifel gedeihen kann, braucht es Pluralismus. Wenn an den Universitäten nur Einheitstheologen sind, gibt es keinen Nährboden für Zweifel.

Die Thesen

Punkt 1

Ablenkung von gründlicher Auseinandersetzung

Griechenland wurde in einer Art behandelt, die keine Volkswirtschaft der Welt überleben kann und die in eine katastrophale Situation für die Bevölkerung führt. Die Eliten entzogen sich so einer systemischen Auseinandersetzung, der griechische Staat wurde als der Schuldige ausgemacht.


Punkt 2

Gewöhnung an Austeritätspolitik

Einzigartig ist die gegenwärtige Krise, weil der Prozess der Krisenvertiefung langsam erfolgte. Die Krise begann 1971 mit der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse. Junge Menschen wissen nicht mehr, dass eine Welt mit starkem Sozialstaat, Vollbeschäftigung und ohne prekäre Jobs möglich ist. Das emanzipatorische Bewusstsein, „ja, wir können uns die Welt anders einrichten“, wurde verlernt. Gefragt wäre, den konkreten Weg in einzelnen Schritten zu denken, der in eine politisch mitgestaltete, gesteuerte andere Gesellschaft führt.


Punkt 3

Die Navigationskarte überprüfen

Jede Wirtschaftstheorie hat die Funktion einer Navigationskarte, die der Politik Anweisungen gibt. Europa steuert auf die Grundfrage zu, sich überlegen zu müssen, ob die neoliberale Navigationskarte im Ganzen irreparabel falsch ist. Das Ausweichen vor dieser Frage wird nichts bringen.





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