Interview

Ulrike Herrmann 

Die Wirtschaftsjournalistin erklärt, warum mit dem Ende des Kapitalismus auch die Demokratie gefährdet ist

Gespräch: Josef Redl

FALTER:  Nr. 21/2015

Erscheinungsdatum: 20. Mai 2015

Ulrike Herrmann beim 32 Wiener Stadtgespräch © Christian Fischer
© Christian Fischer
Zur Person

Ulrike Herrmann, 1964 geboren, war lange Zeit Vorstandsmitglied der linken Tageszeitung taz, für die sie als Wirtschaftskorrespondentin arbeitet. Herrmann ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, zuletzt erschien: „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen: Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“ (Westend, 2019)

Das Ende ist nah! Die Wirtschaftsjournalistin und Buchautorin Ulrike Herrmann erklärt, warum das System Kapitalismus untergehen wird. Und mutmaßt, was danach kommt. 
FALTER Frau Hermann, wir leiden gerade unter einem schweren Anfall von wirtschaftlichem Pessimismus. Würden Sie dem zustimmen? 

In Österreich oder generell? 

Generell. Der Satz stammt aus dem Aufsatz „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ des britischen Ökonomen John Maynard Keynes aus dem Jahr 1930. 

Keynes hat damals gewusst, dass die Weltwirtschaftskrise nur vorübergehend ist, und hat prognostiziert, dass die Generation seiner Enkelkinder nur noch 15 Stunden arbeiten müsste. Womit Keynes recht hatte: Durch den Kapitalismus ist beispielloser Reichtum möglich geworden. Allerdings hat er übersehen, dass es in einer endlichen Welt mit endlichen Ressourcen kein unendliches Wachstum geben kann. 

Keynes hatte ja nicht unrecht mit seiner Prognose, dass wir im Jahr 2030 zur Befriedigung unserer Grundbedürfnisse nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten. Warum arbeiten wir so viel mehr? 

Kapitalismus unterliegt einem Wachstumszwang. Der Kapitalismus ist ein System, das Wachstum erzeugt, aber auch Wachstum braucht. Wenn dieses System nicht wächst, dann schrumpft es – und zwar chaotisch. Wenn man also die Arbeitszeit verkürzen und damit die Einnahmen verknappen würde, dann würde der Kapitalismus zusammenbrechen, weil es keine Investitionen mehr gäbe. Das ganze System wird aber durch Investitionen getrieben. 

Ohne Wachstum bricht das System zusammen. Ressourcenknappheit erlaubt aber irgendwann kein Wachstum mehr. Das ist ein Dilemma. 

Ja, genau. Wir fahren gegen eine Wand, und keiner erforscht den Bremsweg. Es gibt tausende Lehrstühle für Volkswirtschaftslehre. Aber niemand erforscht ernsthaft, was passiert, wenn das System an sein Ende kommt. Es wird so getan, als wäre der Kapitalismus stabil und für die Ewigkeit gemacht. Es gibt zwar Alternativkonzepte wie die Post-Wachstumsgesellschaft, in der man nur verbraucht, was man recycelt. Das Problem ist nur: Keiner weiß, wie man dort hinkommen soll. Es fehlt die Brücke zwischen Kapitalismus und Post-Wachstumsgesellschaft. Es gibt keinen graduellen Übergang, der friedlich wäre: Selbst wenn man nur ein bisschen auf Konsum verzichten würde, bräche der Kapitalismus schon chaotisch zusammen. 

Wenn ich Ihrer Logik folge, hat der Kapitalismus ein natürliches Ablaufdatum. Können Sie auch sagen, wann es so weit ist? 

Das ist eine fiese Frage! 

Sie können gerne auch eine fiese Antwort geben.

Ich erinnere mich an die Ölkrisen in meiner Kindheit, als man sonntags nicht mit dem Auto fahren durfte. Damals war ich überzeugt, dass ich schon bald erleben würde, dass gar kein Benzin mehr fließt. Heute, 40 Jahre später, gibt es aber noch Öl. Trotz dieses historischen Irrtums als Kind wage ich eine Prognose: Es dauert keine 30 Jahre mehr, bis alle Rohstoffe spürbar knapp werden. 

Was bedeutet „spürbar knapp“? 

Die Frage ist nicht: Gibt es genug Ressourcen, um gut zu leben? Dafür reichen die Rohstoffe. Aber der Kapitalismus ist – wie gesagt – ein System, das auf permanente Expansion ausgerichtet ist. Und dafür wird es eben nicht mehr reichen. Ich gehe davon aus, dass ich noch erleben werde, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form nicht mehr existiert. 

Dotcom-Blase, Finanzkrise, Eurokrise. War Krise nicht eigentlich der Normalzustand in den vergangenen 15 Jahren? 

Seit 1980 wurde eine riesige Finanzblase aufgepumpt. Durch die Vergabe von Krediten ist immer mehr Geld aus dem Nichts erschaffen worden. Damit wird jedoch nur spekuliert, es wird kaum in die reale Wirtschaft investiert. Die Folge sind riesige Geldblasen, die aber nur virtuelle Renditen produzieren. Da kann man in absehbarer Zeit mit einem Crash rechnen. 

Hatten wir den nicht gerade erst? 

Lehman Brothers war ein interessantes Experiment. Das war nur eine kleine Investmentbank – und trotzdem hat ihre Pleite gereicht, um die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund zu ziehen. Finanzspekulation ist so lange virtuell, bis es zu einem Crash kommt. 

Mit dem Wissen aus der letzten Finanzmarktkrise – wie wird der nächste Crash ablaufen? 

Ähnlich. Der Staat würde einspringen und sich verschulden. Und hoffentlich wäre es dann so weit, dass die Investmentbanken abgewickelt und in Sparkassen umgewandelt werden. Aber worauf sich die Leute einstellen müssen: Ihr Vermögen kann nicht mehr steigen. Modelle wie Lebensversicherungen oder Aktiensparpläne haben ausgedient. Wir haben zwar einen riesigen Geldberg, aber die Renditen werden aus der Realwirtschaft gezahlt. Und die Realwirtschaft wächst kaum. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass es keine Zinsen mehr auf die Sparkonten oder die Lebensversicherung gibt. Dauerhaft. 

Man könnte sagen: Ist ja kein Problem. Es ist doch genug Vermögen da. 

Klar. Aber das System wird instabil, wenn das Vermögen hin- und herschwappt. Hier in Berlin kaufen reiche Deutsche, aber auch betuchte Ausländer panisch Wohnungen, weil sie Angst um ihr Geld haben. Die Wohnungspreise werden in die Höhe getrieben, und wer wirklich eine Wohnung braucht, kann sie sich nicht mehr leisten. Um das überflüssige Vermögen abzupumpen, wäre es am besten, die Reichen stärker zu besteuern. Das würde sogar den Vermögenden nutzen, weil der Kapitalismus stabilisiert würde. 

Mit Occupy und den Indignados in Spanien gab es kapitalismuskritische Protestbewegungen. War das alles, was es an Veränderungswillen gibt? 

Occupy hatte ja noch nicht einmal ein Programm. Es wurde nur protestiert. Wenn man ein System verändern will, muss man es verstehen. Sonst kann man keinen Einfluss auf die Politik nehmen. 

"Wenn man ein System verändern will, muss man es verstehen"

Ulrike Herrmann

FALTER In Griechenland hat sich die politische Unzufriedenheit im Wahlsieg der linken Syriza manifestiert. Die angekündigten Verhandlungen über einen Schuldenschnitt scheinen gescheitert zu sein. 

Die Griechen haben keine Chance, weil sie erpressbar sind. Sie wollen im Euro bleiben, was ja eine gute Nachricht ist. Aber dadurch sind sie den anderen Finanzministern ausgeliefert. Es ist aberwitzig zu glauben, dass die Griechen ihre Schulden jemals zurückzahlen können. 

Trotz aller Anstrengungen taumelt Griechenland weiter von einem Fälligkeitsdatum zur Tilgung eines Kredits zum nächsten. Ist eine Lösung ohne neuerlichen Schuldenschnitt vorstellbar?   

Es gibt eine elegante Lösung: Die EZB kauft Schulden Griechenlands auf. Genauso hat es Irland gemacht, das 2013 einen Teil seiner Schulden bei der irischen Nationalbank geparkt hat, die zum EZB-System gehört. Das ist bloß keinem aufgefallen. Die Regierung Merkel hatte kurz vor den Bundestagswahlen keine Lust, eine Diskussion über ein weiteres Rettungspaket zu führen, und wollte den eigenen Wahlsieg nicht gefährden. Also wurde den Iren erlaubt, das EZB-System zu nutzen. Würde man das Griechenland auch ermöglichen, wäre das Thema endlich erledigt. Heute redet niemand mehr über Irland. 

Ist Sparen – also die Austeritätspolitik – ein Weg aus der Krise? 

Um das Wachstum anzukurbeln, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Löhne müssen deutlich steigen. Mit der Agenda 2010 hat die Regierung unter Gerhard Schröder damals dafür gesorgt, dass in Deutschland die Reallöhne sinken und die Exportüberschüsse explodieren. Aber die Binnennachfrage schwächelt. Die Agenda 2010 müsste man wieder abschaffen. 

Und die zweite Möglichkeit? 

Die Staaten nehmen Kredite auf oder besteuern die Reichen, um selbst Investitionen zu forcieren und auf diese Weise Nachfrage zu schaffen. Natürlich kommen wir dann wieder an den Anfang unseres Gespräches zurück: Auf Dauer wird es kein Wachstum geben. Aber man kann nicht kurzfristig auf Wachstum verzichten, weil Wachstum langfristig ein Problem ist. 

Unterschätzen Sie die Anpassungsfähigkeit des Menschen? 

Wenn Sie mich nach meiner Vorstellung von der Zukunft fragen: Ich bin total pessimistisch. Ich stelle mir Deutschland und Österreich in 100 Jahren so vor wie Europa im fünften Jahrhundert, nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches. Da standen die Aquädukte noch und die Menschen wussten auch, wofür diese einst genutzt wurden, aber sie konnten das alles nicht mehr betreiben. In meiner Vorstellung von der Zukunft werden die Leute wissen, wozu Autobahnen oder Computer gedient haben, es werden noch Smartphones herumliegen. Aber man wird sie nicht mehr betreiben können. 

Klingt wie „Planet der Affen“. 

Ich hab den Film nie gesehen. Aber Rohstoffe und Energie werden einfach nicht ausreichen, um unseren Lebensstandard zu halten. 

Warum sich dann überhaupt noch mit dem Kapitalismus auseinandersetzen? 

Ich werde oft gefragt, warum ich in meinem Buch 19 Kapitel über den Kapitalismus schreibe, um dann im 20. zu sagen, dass er untergeht. Was soll denn dieser Scheiß? 

Ja, genau. Was soll der Scheiß? 

Wenn der Kapitalismus in eine schwere Krise gerät, reichen vier Jahre, damit die Demokratie untergeht. Wir wissen aus Erfahrung, dass Menschen dazu neigen, rechtsnationale Führer zu wählen, wenn sie ihre Perspektive verlieren. Ungarn ist ein Beispiel. Deswegen kann man nicht sagen: Wenn in 20 Jahren eh Krise ist, kann mir die Krise heute egal sein. Es geht dann mehr verloren als der Kapitalismus: die Freiheit

Die Thesen

Punkt 1

Der Kapitalismus ist keine Marktwirtschaft 

Der Kapitalismus ist ein System, in dem wenige große Konzerne alles steuern – von den Rohstoffen bis zur Wertschöpfungskette. Die meisten Konzerne sind über 100 Jahre alt. Der Kapitalismus ist ein System, das Reichtum produziert, das aber auch dazu neigt, dass sich der Reichtum bei wenigen Konzernen konzentriert. Mit einer Erbschaftssteuer kann man diese Konzentrationsprozesse im Kapitalismus nicht aufhalten, man könnte sie damit jedoch ein wenig bremsen.

Punkt 2

Die Mittelschicht verachtet Ärmere

Die Mittelschicht stimmt aktiv für Reformen, von denen nur Reiche profitieren. Drei Beobachtungen: In der Mittelschicht gibt es eine vehemente Ablehnung und Verachtung Ärmerer, die Mittelschicht hat einen Bildungsaufstieg erlebt und die Mittelschicht weiß nichts über den Reichtum der Reichen.

Punkt 3

Green New Deal ist eine Mogelpackung

Der Green New Deal klingt ja super: Man hat weiter Wachstum, zugleich wäre dieses komplett grün. Vieles von dem, was wir im Kapitalismus selbstverständlich annehmen, wie Fliegen oder das private Auto, lässt sich damit nicht vereinbaren. Es ist auch eine Verkürzung zu glauben, dass wir nur ein Problem mit der Umwelt hätten – auch die Ressourcen werden knapp. 

Das dazugehörige Stadtgespräch
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